Die Krankheit Friedlosigkeit
von Horst Eberhard Richter [über die Thesen
Henrik M. Broders
*)]
Frankfurter Rundschau, 13.06.2007, Dokumentation
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/dokumentation/?em_cnt=1153218
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Nach dem 11. September 2001 warnten hellsichtige Mahner vor einer
antiislamischen Weltspaltungs-Ideologie und plädierten energisch für
Bemühungen um Verständigung. Aber sie prallten auf einen unbeirrbaren
US-Präsidenten, der stattdessen um die Erhaltung seines absoluten
Feindbildes und um Geschlossenheit des westlichen Kriegsgeistes bangte.
Dennoch war es ein gebürtiger Moslem, der unbeirrt von der angeheizten
Kreuzzugshysterie zum Nachdenken darüber aufforderte, wie einer
Verkettung von terroristischem Hass und kriegerischem Rache-Hass
Einhalt geboten werden könne.
Gemeint ist Orhan Pamuk, inzwischen Friedenspreisträger des Deutschen
Buchhandels, der bereits im eigenen Innern die islamische mit der
westlichen Welt zu verbinden gelernt hatte. So konnte er dem Westen
unerschrocken eine kühne konstruktive Sicht der Dinge vermitteln. In
einer deutschen Zeitung fand ich von ihm bald nach dem 11. September
den folgenden Text: "Der Westen hat leider keine Vorstellung von dem
Gefühl der Erniedrigung, das eine große Mehrheit der Weltbevölkerung
durchlebt und überwinden muss, ohne den Verstand zu verlieren oder sich
auf Terroristen, radikale Nationalisten oder Fundamentalisten
einzulassen." "Heute", fährt Pamuk fort, "ist das Problem des Westens
weniger, herauszufinden, welcher Terrorist in welchem Zelt, welcher
Gasse, welcher fernen Stadt seine neue Bombe vorbereitet, um dann auf
ihn Bomben regnen zu lassen. Das Problem des Westens ist mehr, die
seelische Verfassung der Armen, Erniedrigten und stets im ,Unrecht'
stehenden Mehrheit zu verstehen, die nicht in der westlichen Welt lebt."
Das schrieb Pamuk, als die Tür noch einen Augenblick geöffnet schien
für seinen Rat: Erst sollte man das "Warum" des Terrorismus zu
verstehen versuchen, anstatt besinnungslos Bomben zu werfen. Doch die
Tür war rasch wieder fest geschlossen. In Washington dachte niemand
mehr daran, allein die verbrecherischen Täter, Helfershelfer,
Hintermänner und Anstifter vom 11. September zu bestrafen. Es gab nur
noch ein Ziel, nämlich das große Welt-Spaltungs-Drama der
mittelalterlichen Kreuzzüge zu reinszenieren - ungeachtet der Lehre aus
dem 11. September, die vor der Illusion hätte warnen sollen, den
Terrorismus mit militärischer Gewalt auslöschen zu können.
Für diese Unbelehrbarkeit gibt es nur eine einzige plausible Erklärung,
geliefert von dem kürzlich verstorbenen genialen Atomphysiker und
Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker, als Theorie von der
"seelischen Krankheit Friedlosigkeit". Diese beruht nach Weizsäcker auf
einem Aussetzen oder Verkümmern der Friedfertigkeit, "einer der größten
Kräfte des Menschen". Aber warum dieses Verkümmern? Es ist "fast stets
bedingt", so Weizsäcker, "durch mangelnden Frieden mit sich selbst".
Dies ist die eigentliche Wurzel der Krankheit. Ist also Islamophobie
ein Symptom psychopathologischer Friedlosigkeit?
Dem Psychoanalytiker offenbart sich neurotische Unfriedlichkeit bei
Individuen regelmäßig als Folge früher schwerer narzisstischer
Kränkungen und Demütigungen, zu deren Bewältigung "erfolgreiche"
Rachemuster entwickelt wurden. Der Selbsthass konnte erfolgreich durch
triumphale Verletzung anderer kompensiert werden, insbesondere solcher
anderer, deren Friedlichkeit als ständige Anklage gegen die eigene
Person empfunden wird. Dieses Reaktionsmuster kann sich leicht im
Charakter verankern und damit die Chronifizierung der von Weizsäcker
beschriebenen Krankheit bewirken. Sie kann sich in Gruppen epidemisch
ausbreiten. Solche neurotisch Friedlosen fühlen sich typischerweise
durch keine anderen so leicht gereizt wie speziell durch Pazifisten,
die ihnen wie ein lebender Vorwurf erscheinen. Es ist der Mechanismus,
den Goethe im Westöstlichen Divan beschrieben hat.
Jede Versöhnlichkeit erinnert die Friedlosen an die Traumen der eigenen
früheren Wehrlosigkeit. Deshalb sehen sie in Sanftmut nichts als
Feigheit, Schwäche und Kapitulation. Aber das passt eben nicht auf
Versöhnungswillige wie Pamuk, der mit beispielhafter Unerschrockenheit
seine türkischen Landsleute an der Verdrängung des begangenen Genozids
an den Armeniern gehindert hat. Nur seine hohe internationale
Reputation hat ihn vor schon eingeleiteter gerichtlicher Verfolgung
bewahrt.
Die krankhaft Friedlosen müssen hassen, um nicht vom verdrängten
Selbsthass aufgefressen zu werden. Umso wichtiger ist es, dass die
gesunden Mehrheiten sich ihre vom arabischen Philosophen Averroes (Ibn
Rushed) beschriebene Gattungsvernunft des intellectus agens erhalten
und der infektiösen Welt-Spaltungsideologie widerstehen. Überall, wo
chronische Verfeindungen irgendwann überwunden werden - wie zwischen
Franzosen und Deutschen, wie zwischen südafrikanischen Schwarzen und
Apartheids-Weißen, zwischen den militanten Protestanten und Katholiken
Nordirlands, bleiben Verwunderung und Scham darüber zurück, dass nicht
längst schon Versöhnungsanstrengungen die Komplizenschaft von Argwohn
und Hass durchbrochen hatten. Die Reinszenierung des Kreuzzugsszenarios
zwischen dem Westen und dem Islam lässt schon heute die Beschämung für
den Augenblick des Erwachens aus der künstlichen Weltspaltung
voraussehen, die ja in Wahrheit nichts weiter als eine heilbare
temporäre Hassprojektion beider Seiten ist.
Der Westen panzert sich mit immer neuen Sicherheits- und
Überwachungsgesetzen. Gleichzeitig weidet er sich an der im Schutz der
Pressefreiheit entfachten islamischen Wut über den vielfachen Nachdruck
der Bilder, die Mohammed als Terroristen karikieren. "Wir kommen in die
Hölle, wenn wir dagegen nichts tun!", soll einer der beiden
libanesischen Kofferbomben-Attentäter von Köln zu seinem Mittäter
gesagt haben - laut NDR-Magazin Panorama, das den einen Täter in Beirut
interviewen konnte. Also hatte die westliche Provokation funktioniert,
aber mit welchem schrecklichen Risiko!
Wiederum sieht man die "seelische Krankheit Friedlosigkeit" am Werke:
Der Westen lockt auf der Gegenseite die gefährlichen Antriebe hervor,
gegen deren Ausbruch er gleichzeitig laufend schärfere
Sicherheitsgesetze beschließt. Die pathologische Irrationalität ist
unübersehbar.
Das Beispiel demonstriert ein System, das sich eigendynamisch in
destruktiver Richtung verschärft. Ein Hass entzündet sich am anderen
und verstellt den Blick auf den einzigen Ausweg, nämlich das
Gegeneinander in Gemeinsamkeit zu verwandeln. Dazu gehört nur der Mut
zur Annäherung. Denn in der Nähe ist es unumgänglich, sich miteinander
als verwandt zu erkennen und die Verantwortung füreinander zu
beherzigen.
Der Schritftsteller Orhan Pamuk gehört zu den maßgeblichen
einschlägigen Wegweisern. Auch Daniel Barenboim überwindet die
künstliche Front zwischen den Kulturen sogar mit praktischem
persönlichem Beispiel. Zusammen mit dem palästinensischen
Literaturwissenschaftler Edward Said bringt er mit dem Eastern Divan
Orchestra die israelisch-palästinensische Aussöhnung schrittweise von
unten aus voran. Nur von unten aus können die Heilkräfte gegen die
"seelische Krankheit Friedlosigkeit" hinreichend erstarken, um der noch
vom Kreuzzugsgeist infizierten Politik eine fortschrittliche
Humanisierung aufzunötigen.
Aber auch von oben können und müssen Zeichen für Verständigung gesetzt
werden, so z. B. die soeben erfolgte Vergabe des Theodor-Heuss-Preises
2007, des höchsten deutschen Demokratie-Preises, an Mustafa Ceric,
Großmufti von Bosnien und Herzegowina, und Rita Süssmuth, Vorsitzende
der unabhängigen Kommission "Zuwanderung". Mustafa Ceric engagiert sich
exakt in der Region, wo der christliche Westen und der muslimische
Osten hart aufeinander prallen und einander noch kürzlich rücksichtslos
bekriegt haben. Er arbeitet mit ungebrochener Zuversicht für
gegenseitige Annäherung und für eine europäische Integration der
Muslime ohne beiderseitigen Identitätsverlust. Beide, der Großmufti und
die Ex-Präsidentin des Bundestags, ernten das Misstrauen der noch immer
Friedlosen, aber zugleich die Hoffnung der vielen anderen, die den
Rückfall in destruktiven Hass und gegenseitige Verfolgung fürchten.
Ob sich die Hoffnungen erfüllen werden, hängt indessen unzweifelhaft
davon ab, ob das Bewusstsein der unentrinnbaren gegenseitigen
Abhängigkeit voneinander den Abbau von Ungerechtigkeiten und
kultureller Missachtung hinreichen fördern wird, d.h. ob der
Heilungswille ausreicht, um die Krankheit Friedlosigkeit Schritt für
Schritt zu überwinden.
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Der Autor
Horst Eberhard Richter ist
Psychoanalytiker. Der
emeritierte Professor ist einer der Pioniere psychoanalytischer
Familienforschung und -therapie, Mitbegründer der deutschen
Friedensbewegung und Autor zahlreicher Bücher.
Henrik M. Broder schreibt häufig polemisch über den
Islam. Mit seinen Thesen setzt sich Richter kritisch auseinander,
ohne den streitbaren Autoren allerdings beim Namen zu nennen. Broder
erhält am 24. Juni in der Frankfurter Paulskirche den
Ludwig-Börne-Preis. Die Ehrung ist umstritten, weil er mit seinen
Texten stark polarisiert. Der Focus-Herausgeber Helmut Markwort hatte
ihn für den Preis nominiert.