ALADINS WUNDERLAMPE - Hilfe für krebskranke Kinder in Basra

Eva-Maria Hobiger (17. März 2003)

AM VORABEND DES KRIEGES

Reise in den Irak: 8. bis 13. März 2003

(Eva-Maria Hobiger ist Ärztin in Wien und Leiterin des Projektes "Aladins Wunderlampe")

 Bagdad, eine – fast – verlassene Stadt

Bagdad wirkt gespenstisch: die sonst hoffnungslos verstopften Straßen der 5-Millionen-Metropole sind leer wie sonst nur am Feiertagmorgen, die meisten Rollläden sind heruntergezogen, die Geschäfte geschlossen, nur wenige Menschen sind unterwegs. Niemand weiß, wie viele es sind, die Bagdad verlassen haben während der letzten Tage, Millionen sagen die einen, Hunderttausende die anderen. Wer konnte, floh vor dem drohenden Krieg aufs Land zu Verwandten oder aber nach Syrien, durch die einzige, für Iraker noch offene Grenze. In der Halle des Rasheed-Hotels, in der sonst so viel Betriebsamkeit herrscht, ist es totenstill. Nur mehr einzelne Gäste wohnen hier, solche die morgen ohnehin abreisen. Die Journalisten sind übersiedelt ins Palestine-Hotel, in der Befürchtung, dass das Rasheed-Hotel zum bewussten Ziel eines Bombardements wird. Wer dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat, bleibt unklar. Die Iraker erwarten den Angriff noch in dieser Woche. Am 11. März soll die Sitzung des Sicherheitsrates stattfinden, unmittelbar danach erwartet man die Kriegserklärung der USA.. (Diese Sitzung wurde am Morgen des 11. März verschoben.)

Die meisten Botschaften haben ihr Personal bereits auf das absolute Minimum reduziert, viele sind schon geschlossen. Die Diplomaten, die noch geblieben sind, sind reisefertig, aber sie hoffen noch immer, einen Krieg verhindern zu können. Die deutschen, französischen und russischen Vertreter bleiben bis es klar ist, dass alle diplomatischen Bemühungen vergebens waren. Ein europäischer Diplomat hatte gemeint: "Wenn die Militärs kommen, dann gehen die Diplomaten. Wenn die ihre Arbeit beginnen, endet die unsere. Für beide gibt es keinen Platz hier." Das Personal der meisten Hilfsorganisationen ist bereits abgezogen, ebenso der Großteil der UN-Mitarbeiter. Die beiden Flugzeuge der UN-Inspektoren stehen abflugbereit am Bagdader Flughafen. Einige sind aber auch erst eingetroffen, die, deren Geschäft der Krieg ist: die Kriegsberichterstatter. Im Palestine-Hotel rollen die Gepäckträger ganze Paletten von Mineralwasser auf die Zimmer der Journalisten, im Gefolge des letzten Krieges gab es zweieinhalb Monate lang kein Leitungswasser in Bagdad. Es wird dieses Mal nicht anders sein.

Es gibt noch andere, die bleiben: einige amerikanische und englische Mitglieder von "Voices in the Wilderness", eine Gruppe von Friedensaktivisten, die sich seit Jahren gegen das Embargo engagiert und nun gegen den drohenden Krieg. Manche von ihnen sind schon seit Monaten hier, sie werden bleiben auch während des Krieges. Eine andere – internationale – Gruppe bleibt auch, selbst wenn einige Mitglieder vor wenigen Tagen abgereist sind: die "Human Shields". Eine von ihnen, eine Italienerin, hält einsame Wache vor dem Kommunikationszentrum, ein Gebäude, das wohl eines der ersten sein wird, das ins Visier der Kampfbomber genommen werden wird.

Ich bin unter denen, die ankommen, allerdings mit der festen Absicht, sofort nach Beendigung meiner Mission abzureisen. Als ich vor einer Woche aus dem Irak zurückkehrte, wohin ich mit einer großen Medikamentenlieferung der deutschen Diakonie gereist war, fand ich endlich das Medikament "Pentostam" vor, das ich im Oktober des Vorjahres bestellt hatte, das Geld wurde bereits im November überwiesen. Viereinhalb Monate dauerte die Lieferfrist, bedingt durch Gesetzesvorlagen der britischen Regierung. Nun schien es, als ob der Kriegsbeginn unmittelbar bevorstünde und die Meldungen, die mich direkt aus Bagdad erreichten, ermunterten nicht gerade zu einer neuerlichen Reise, ganz im Gegenteil, ich wurde mehrmals davor eindrücklichst gewarnt, jetzt nochmals in den Irak zu reisen. Ich müsse damit rechnen, dass ich Bagdad nicht mehr verlassen könne. Eine Journalistin, die noch in Bagdad war, aber in den nächsten Tagen abreisen wollte, hatte mich per e-Mail beschworen, jetzt nicht mehr in den Irak zu kommen. Sie meinte, ich könne ohnehin nicht mehr nach Basra reisen. Den Journalisten war das Verlassen der Hauptstadt bereits verboten. Der Entscheidungsprozeß dauerte trotzdem nicht lange. Für einige Minuten stand ich vor den Pentostam-Kartons und rechnete. 500 Kinder können mit dieser Anzahl von Pentostam-Ampullen geheilt werden. Der kleine Vorrat, den ich vor einigen Tagen nach Basra gebracht hatte, wird in einem Monat verbraucht sein. Im Falle eines Krieges: Wann werden wir wieder in den Irak reisen können? Das kann Monate dauern, sollten die Medikamente, die in Basra lebensnotwendig sind, während dieser Zeit hier in Wien lagern? Nein!

Neben Pentostam habe ich auch noch zwei Kartons mit Medikamenten für Shejma mit, das 14jährige Mädchen in Basra mit einer schweren Erkrankung des Knochenmarks, die ich im Februar kennengelernt habe. Mitarbeiter des St. Anna-Kinderspitals in Wien sowie die Herstellerfirmen hatten in nur zwei Tagen die Therapie für ein ganzes Jahr zusammengestellt. Shejma soll nun doch noch eine Chance auf dieses Leben erhalten.

Der bettelnde Soldat

Der Weg führte diesmal über Damaskus, Anschlussflug nach Bagdad und – wie ich bereits befürchtet hatte – die Zollformalitäten auf dem Flughafen Bagdad sind noch schlimmer als an den Grenzen. Alle Diskussionen nützen nichts, ich muss die Medikamente beim Zoll auf dem Flughafen hinterlegen. Es folgen fast zwei Tage Warten, Verhandeln, Telefonieren, Streiten und zuletzt der Ausgang wie immer: ich erhalte die Medikamente wieder ausgehändigt (vollständig!) und man entlässt mich ohne Begleiter nach Basra.

Ein Soldat bewacht eine der Ausgangstüren des Flughafens, er tritt unter die Lichtschranke der Glastür, um sie für uns zu öffnen, die wir von dieser Seite den Flughafen betreten möchten. Anschließend bettelt er um ein Trinkgeld für diesen Dienst. Mit fünfhundert Dinar, umgerechnet knapp 20 Cent, ist er zufrieden. Seine zerschlissene Uniform ergänzt das symbolträchtige Bild. Ein amerikanischer Militärsprecher hatte vor kurzem verlautet: die irakische Armee verfüge nur mehr über ein Drittel ihrer Schlagkraft von 1991.Vor wenigen Jahren meinte ein US-Golfkriegsveteran in einer Dokumentation: Die Moskitos leisteten damals größeren Widerstand als die irakischen Soldaten. Ein "ruhmreicher" Sieg der Nation, die 400 Milliarden Dollar jährlich für die militärische Rüstung ausgibt, steht also bevor. Die "Mutter aller Bomben" wartet auf ihren Einsatz, eine teuflische Waffe, versehen mit 10 Tonnen Sprengstoff, die alles Leben im Umkreis von einem halben Kilometer erlischt. Zeitgerecht wurde sie der Weltöffentlichkeit am 12. März präsentiert.

Noch im Jänner dieses Jahres hat kaum ein Iraker offen über seine Ängste vor dem Krieg gesprochen. Alle hatten die Hoffnung, dass es diesen Krieg nicht geben wird. Jetzt bricht die Angst, die Panik aus den Menschen und niemand schämt sich mehr wegen seiner Angst. Seit wenigen Wochen ist es klar: dieser Krieg ist unabwendbar geworden, dieser Krieg wird bewusst und vorsätzlich herauf beschworen und von Tag zu Tag wächst die Angst in der Bevölkerung. Nicht nur die Angst vor den Bomben, nein, die Angst untereinander, unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Und alle sind überzeugt: den Bomben folgt der Bürgerkrieg.

Ausnahmezustand in Basra

Nachmittagsflug nach Basra. Vor dem Flughafen in Basra warten Dutzende Taxifahrer auf die wenigen Passagiere des Binnenfluges Bagdad-Basra. Gepäcksträger mustern enttäuscht die wenigen Ankömmlinge. Jeder hofft, noch rasch ein paar Dinar zu verdienen. Der "Basra International Airport" wird schon bald geschlossen sein, die Bezeichnung "international" stammt noch aus den Zeiten, als Basra ein reges Handelszentrum war. Jetzt landen hier täglich zwei Flugzeuge aus Bagdad, je eines vormittags und nachmittags, bald wird es auch damit vorbei sein.

Die Elendsquartiere entlang der Straße vom Flughafen in die Stadt vermitteln einen noch traurigeren Eindruck als sonst, die Abwasserkanäle befinden sich direkt vor den Häusern. Wenn es regnet, steht das Abwasser in den Wohnräumen. Soldaten und Zivilisten sind damit beschäftigt, neben der Straße Löcher in die Erde zu graben, so dass ein bewaffneter Mann darin Platz findet, Löcher, die mit Sandsäcken umgeben sind. Ein Polizist auf einer Verkehrsinsel ist mit Sandsäcken förmlich ummauert, nur sein Kopf ragt dahinter hervor. Sandsäcke und Erdlöcher als Verteidigung gegen die bestausgerüstete und hochtechnisierteste Armee der Welt, als Verteidigung gegen Bombenteppiche? Was hatte der ehemalige UN-Waffeninspektor Scott Ritter gesagt im Oktober des Vorjahres? "Das wird kein Krieg sein, das wird ein einseitiges Abschlachten werden, ein Massaker." Es hat eher den Anschein, diese Leute graben ihre eigenen Gräber, als dass sie Vorkehrungen zu einer wirksamen Verteidigung träfen.

Die Stimmung in Basra ist noch unheimlicher als in Bagdad, auch hier sind die Straßen leer und die Geschäfte geschlossen. Vor einem Monument mit einem der vielen Bilder des Präsidenten sitzt ein etwa 15jähriger, behinderter Junge auf dem Boden. Mit einem Stück Holz, auf den ein schwarzes Tuch gebunden ist, führt er imaginäre Fechtübungen in der Luft durch. Eine symbolträchtige Szene.

Der chaldäische Erzbischof von Basra, Gabriel Kassab, bereitet sich auf die Wochentagsmesse vor, so wie jeden Tag um 17 Uhr. "Wir beten", meint er, "wir beten für den Frieden, auch wenn es in wenigen Tagen Krieg geben wird. Was sollen wir sonst tun? Als Christen können wir die Hoffnung nie aufgegeben!" Eine Ordensschwester weint während des Gottesdienstes und auch andere Frauen benutzen auffällig oft ihr Taschentuch. Später erzählt die Schwester, dass alles teurer geworden wäre, Gemüse, Milch, ja selbst Brot. Wasserbehälter wären kaum mehr zu finden. "Wir werden die Türen der Kirchen öffnen für alle, die darin Schutz suchen und wir können nur hoffen, dass man eine Kirche nicht bombardieren wird." Der Bischof hat ein Vorratslager für die Bedürftigen angelegt, soweit es die Mittel erlaubten, auch für Wasservorräte hat er gesorgt. "Egal was passiert, ich werde hier bleiben und so lange helfen, so lange ich es kann. Ich werde der Letzte sein, der Basra verlässt." . Auch wenn Gabriel Kassab versucht, es sich nicht anmerken zu lassen, so steht ihm die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Christen und Muslime haben hier immer friedlich miteinander gelebt, meint er, und sein Bemühen um Toleranz, sein Hilfe für die Angehörigen beider Religionen hatte begonnen, Früchte zu tragen. Er war hochgeachtet unter den Muslimen in Basra. Nun aber mehren sich die Zeichen, dass die Christen die ersten sein werden, die den Preis für den kommenden Krieg bezahlen müssen.

Ein Flugzeugschwarm dröhnt über die Stadt, bereits zum zweiten Mal, seit ich hier bin, 30, 40 Flugzeuge donnern über Basra hinweg. Hat der Krieg eigentlich schon begonnen? Um 14 Uhr war die Sirene des Fliegeralarms ertönt, bis jetzt spätabends war keine Entwarnung zu hören. Der Alarm blieb die ganze Nacht hindurch aufrecht. Von mehreren Leuten höre ich, dass am Vortag 80 Menschen bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen waren. Der Strom erlischt und in der Finsternis ist die Spannung der Menschen, das Warten auf das Unvermeidliche fast körperlich fühlbar. Seit Wochen werden irakische Flugabwehrstellungen und Kommunikationseinrichtungen in Vorbereitung des Krieges weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit bombardiert, die "Kollateralschäden" unter den Zivilisten werden stillschweigend in Kauf genommen. Die Bombardements in den unilateral verhängten "Flugverbotszonen" stellen bereits seit Jahren einen Bruch des Völkerrechtes dar.

Im Hof vor der Armenapotheke des Bischofs drängen sich die Menschen. 80 % der Bevölkerung Basras sind zu arm, um sich das Medikament kaufen zu können, das ihnen der Arzt verschrieben hat. Es spricht sich immer mehr herum, dass es in der Armenapotheke die Medikamente gratis gibt, allerdings nur die, die eben vorhanden sind. Frauen in traditioneller Kleidung mit Abaya sprechen mich an, bitten um Medikamente, erzählen ihre Krankengeschichten. Ich muss mehrere Frauen und Kinder untersuchen, aber ich habe keine Medikamente für sie. Sie begnügen sich damit, dass ihnen eine europäische Ärztin zugehört hat und bedanken sich freundlich.

Ein Kriegsopfer namens Shejma

Die leitende Ärztin der Kinderkrebsstation erzählt, dass heute abend alle Ärzte Basras in die Spitäler gerufen wurden und diese nicht mehr verlassen dürfen. Es herrscht Katastrophenalarm, man erwartet die Kriegserklärung stündlich. Die Freude über die mitgebrachten Medikamente ist groß und Dr. Jenan fällt mir um den Hals, als ich ihr erzähle, dass ich auch die gesamte Behandlung für Shejma mithabe. Dann hält sie kurz inne und sackt förmlich in sich zusammen, sie sieht mich an und meint: "Aber Shejma wird trotzdem sterben, während des Krieges werde ich sie nicht behandeln können, auch nicht die krebskranken Kinder oder die Kinder mit Kala Azar. Die Spitalsbetten werden für die Verletzten gebraucht werden, die Kinder werden wir nach Hause schicken müssen." Wut und Verzweiflung steigen in mir hoch: Shejma wird eines der unzähligen Opfer dieses Krieges sein, die in keiner offiziellen Statistik aufscheinen werden, sie wird einen stillen Tod sterben, in ihrem ärmlichen Zuhause in einem der Slumgebiete von Basra wird sie verbluten, während in anderen Teilen dieser Welt Siegesparaden abgehalten werden. Genauso wie die vielen Kinder, die an Durchfallserkrankungen sterben werden, denn sobald dieser Krieg beginnt, wird die Wasserversorgung in Basra zusammenbrechen. Die Menschen werden das Flusswasser trinken, wie vor 12 Jahren, in das die Abwässer ungeklärt geleitet werden. Wieviele werden es sein? Hunderte? Tausende? Zehntausende? Shejma und diese namenlosen Kinder werden die wahren Opfer dieses Krieges sein und kein Heldendenkmal wird an sie erinnern.

Die Ärztin war soeben von einem dreitägigen Aufenthalt in Bagdad zurückgekehrt. Die Medikamente, die während ihrer Abwesenheit verabreicht werden mussten, hatte sie vordosiert, denn hätte sie eine 100 Milliliter-Flasche im Kühlschrank stehen lassen, so wäre sie sicher, dass die angebrochene (!!) Flasche verschwunden wäre. Täglich vergewissert sie sich bei den Müttern, ob die Kinder ihre Injektionen erhalten hätten. Es war schon vorgekommen, dass Krankenschwestern den kleinen Patienten destilliertes Wasser gespritzt hätten und die Ampullen auf dem Schwarzmarkt verkauft hatten. Seit dieser Vorkommnisse lässt sich die Ärztin täglich die leeren Ampullen zeigen. Eine Krankenschwester verdient umgerechnet etwa 4 Euro monatlich, leicht vorstellbar, dass man davon nicht leben kann. Eine Reinigungsfrau verdient 3000 Dinar, das entspricht 1,5 Euro. Damit kann sie sich von ihrem gesamten Monatsverdienst insgesamt 5 Liter sauberes Trinkwasser kaufen, denn ein Liter kostet 600 Dinar in Basra– übrigens kostet das Wasser damit 30 mal soviel als ein Liter Benzin. Es handelt sich dabei nicht etwa um Mineralwasser, sondern einfach um gereinigtes Flusswasser. Das Wasser, das aus der Wasserleitung kommt, ist verunreinigt und verursacht unzählige Todesfälle.

Morgen soll die Sitzung des Weltsicherheitsrates stattfinden, es ist nicht zu erwarten, dass es zu einer einstimmigen Verabschiedung einer Resolution kommen wird und in Bagdad rechnet man damit, dass die USA unmittelbar danach den Krieg erklären werden. Was das für Bagdad bedeuten würde? Wochenlang wurde schon spekuliert und man nimmt an, dass Bagdad zur geschlossenen Stadt erklärt werden würde,. dann säße man in der Falle. Gabriel Kassab sieht die Dinge genauso und er verlangt mir das Versprechen ab, morgen das Land zu verlassen. Wir sitzen bei einem bescheidenen Abendessen und Jenan fragt mich, ob auch ich diesen Krieg für sicher halten würde. Ich hätte bestimmt bessere Informationen... Leider kann ich sie nicht trösten. Sie hat den letzten Krieg in Basra verbracht und sie fragt: "Geht das wirklich alles wieder von vorne los?" Wir sind alle drei nicht sehr gesprächig bei diesem Abendessen, für das sich der Bischof zuvor entschuldigt hatte: "Wir haben Fastenzeit...."

"Unser Denken kreist seit Jahren nur mehr darum: Was essen wir morgen, was werden wir in der nächsten Woche essen?" hatte mir eine Frau vor zwei Monaten gesagt. Seit November hatte die Regierung die monatlichen Lebensmittelrationen angesichts des drohenden Krieges verdoppelt. Mehr als die Hälfte der irakischen Bevölkerung ist abhängig von der monatlichen Zuteilung, die völlig unzureichend ist in ihrem Nährwert. Es fehlt an Fleisch, Milchprodukten, Gemüse und Obst und der Eiweißanteil ist gering, mangelernährte Kinder sind an der Tagesordnung in den Krankenhäusern. Die zusätzlichen Rationen haben viele schon verbraucht, was wird mit ihnen geschehen, wenn der Krieg die Lebensmittelverteilung zusammenbrechen lassen wird? "Wir leben nicht mehr, wir existieren nur noch. Leben kann man das nicht mehr nennen. Wir existieren von einer Stunde zur nächsten, von einem Tag zum anderen und warten. Warten, dass der Krieg beginnt und unsere Existenz auslöschen wird" – das bittere Resumee eines knapp 30jährigen Ingenieurs.

Zum zweiten Mal Abschied vor dem Krieg

Abschied von Jenan am späten Abend, wir umarmen uns, Jenan steigt ins Auto. Sie steigt wieder aus und umarmt mich noch mehrere Male. "Glaubst Du, ist es das letzte Mal, dass wir uns sehen?" fragt sie. Wir fangen beide zu weinen an. Knappe 18 Stunden habe ich dieses Mal in Basra verbracht. Ich würde jedem, der für diesen Krieg ist, der diesen Krieg anstrebt, für ihn eintritt, wünschen, diese 18 Stunden hier gewesen zu sein. Jeder, der noch einen Funken menschlichen Gefühls in sich trägt, würde seine Meinung nach dieser Zeit geändert haben. In Basra hat der Krieg nicht aufgehört seit 12 Jahren und die Bewohner sterben einen langsamen, schleichenden Tod. Nur wenige Kilometer von Basra entfernt warten 300.000 Soldaten auf den Marschbefehl. Sie werden zweifellos das Regime stürzen, vor allem aber werden sie gegen ein Volk kämpfen, das aufgrund der Folgen der letzten beiden Kriege und der anhaltenden menschenverachtenden Sanktionen in allen sozialen Bereichen enorm geschwächt ist. Dieser Krieg wird das Volk mit der höchsten Kindersterblichkeitsrate der Welt treffen, das Volk mit einer Arbeitslosenrate von 80 %, Menschen, von denen jetzt bereits nur 41 % Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, wo monatlich 5000 Kinder sterben infolge Mangelernährung, mangelnder medizinischer Versorgung und chronischen Durchfallerkrankungen. Ein Volk, das an Infektionskrankheiten leidet, die weitgehend als ausgerottet galten: Kala Azar, Malaria und Tuberkulose, ein Volk, dessen Kinder in den Straßen arbeiten müssen anstelle die Schule zu besuchen und wo Kranke nach der Diagnosestellung vom Spital nach Hause geschickt werden, weil es keine Medikamente gibt, wo Ärzte ihren Beruf aufgeben möchten, weil sie sich schon lange nicht mehr als Ärzte fühlen können. Das sind die Menschen, die dieser Krieg treffen wird, an dessen Vorabend wir stehen.

Zurück in Bagdad. Den Freunden hatte ich versprechen müssen, noch heute das Land zu verlassen. Die Flüge nach Amman und Damaskus sind ausgebucht für diese Woche, die Preise für die Autos nach Syrien steigen von Stunde zu Stunde. Die Journalisten im Hotel Palestine verbreiten Panikstimmung und doch fällt die Entscheidung, abzureisen, nicht leicht. Die Freunde haben Abschied genommen, so als ob wir uns in diesem Leben nicht mehr sehen würden, sie haben mit ihrem Leben abgeschlossen. Ich schäme mich, sie zurückzulassen. Aber was könnte ich für sie tun während des Krieges? "Unsere Kinder brauchen Dich danach" – der Satz hallt noch während der 12stündigen Autofahrt nach Damaskus in mir nach.

Liebe irakischen Freunde! Auch wenn man uns jahrelang alle Informationen über euer Elend während 12 Jahre anhaltender Sanktionen vorenthalten hat, auch wenn wir diese Informationen lange mühsam suchen mussten, so wissen wir jetzt letztendlich doch Bescheid. Wir wissen um euren täglichen Überlebenskampf, wir wissen um die Zerstörung eurer Gesellschaft, eurer Infrastruktur. Wir wissen, dass ihr bestraft werdet, nicht nur von eurem diktatorischen Regime samt seinem Geheimdienst, sondern auch im Namen der sogenannten internationalen Gemeinschaft, die es zu verantworten hat, dass mehr als eine Million Menschen eures Volkes gestorben sind, bedingt durch die Sanktionen. Wir haben erkannt, dass man einem Unrecht nicht mit einem noch größeren Unrecht begegnen kann. Wir sind für euch auf die Straßen gegangen, Millionen, weltweit auf allen Kontinenten dieser Erde und wir haben erlebt, was es heißt, sich ohnmächtig zu fühlen angesichts der Entscheidungsträger dieser Welt. Dadurch sind wir euch näher gekommen, können euch besser verstehen und alle diejenigen, die ohnmächtig sind auf dieser Erde. Wir werden daraus lernen für die Zukunft. Wenn dieses Mal alle Errungenschaften unserer Zivilisation mit Füßen getreten werden, Demokratie, Menschenrechte, Völkerrecht und UN-Charta missachtet werden und die Entscheidungsträger zur Barbarei zurückkehren, so wissen wir doch, dass wir im Westen nicht in satter Selbstzufriedenheit erstarrt sind. Das Gewissen der Welt lebt noch, Lügen wurden als Lügen entlarvt. Die kleinen Staaten im Sicherheitsrat waren nicht käuflich trotz des enormen Druckes, der auf sie ausgeübt wurde, die Vetomächte haben sich nicht gebeugt, die Mehrheit der Menschheit weiß sich der Humanität verpflichtet. Heute trauern wir mit euch und sind sprach- und fassungslos darüber, dass euch innerhalb von 23 Jahren ein dritter Krieg trifft, ein Krieg, für den es keinen Grund gibt – oder besser gesagt, andere Gründe als vorgegeben werden - ein Krieg der seit langer Zeit geplant und vorsätzlich herbeigeführt ist und der einen Rückfall in die überwunden geglaubten Zeiten des Kolonialismus darstellt. Alles was bei euch erreicht werden muss, hätte sich mit Geduld, Diplomatie und Dialogbereitschaft erreichen lassen, das diktatorische Regime hat seit Jahren Zerfallserscheinungen gezeigt. Hätten wir im Westen euch, das Volk, gestärkt, hättet Ihr die Probleme in eurem Land selbst gelöst. Wir hoffen, dass ihr uns vergebt, dass wir all das so spät, für euch zu spät, erkannt haben.

 "Aladins Wunderlampe" ist ein Projekt der
Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen
A-1150 Wien, Stutterheimstraße 16-18/II/5, Tel. +43-1-526 78 10, Fax: +43-1-526 77 95
e-mail: office.vienna@saar.at
, Web: http://www.saar.at

Näheres hierzu siehe http://www.embargos.de/irak/aktionen/aladin_projekt_saar.htm, sowie Eva-Maria Hobigers Erfahrungsbericht in der Frankfurter Rundschau

» mehr über Dr. Hobiger in ZDF Politik & Zeitgeschehen 
Die "ML Frau des Jahres 2003

Im Einsatz für die Menschlichkeit