„Iraqi Freedom“ – eine bittere Bilanz
Mehr als 650.000 Iraker infolge von Krieg und Besatzung gestorben
Joachim Guilliard
(erschien leicht gekürzt im Sonderheft von Ossietzky „Die Opfer der Kriege“, Januar 2007)

Als die US-geführten Truppen im März 2003 im Irak einmarschierten, hofften viele Einwohner - unabhängig von Ihrer Haltung zur Invasion -, daß sich nach dem Ende des Krieges wenigstens ihre Lebensbedingungen verbessern würden. Die Hoffnung währte nur kurz: "Der größte Teil des Iraks ist ein Desaster und in einem Zustand des vollständigen Chaos", so fasste der bekannte US-Journalist Dahr Jamail seine Eindrücke nach längerem Aufenthalt im besetzen Land zusammen. Entgegen der Versprechungen der ungebetenen "Befreier" von Wiederaufbau und Demokratie verschlimmert sich die Situation von Monat zu Monat weiter. Untersuchungen von UN-Organisationen belegen dies eindrücklich. Bereits Mitte 2005 waren nach einer umfangreichen Studie des UNDP zwölf Prozent aller irakischer Kinder im Alter von sechs Monaten bis fünf Jahren stark untergewichtig und acht Prozent akut unterernährt, 23 Prozent waren aufgrund chronischer Unterernährung im Wachstum zurückgeblieben. Die Wahrscheinlichkeit, vor dem 40. Lebensjahr zu sterben, ist für die aktuell geborenen Kinder nun fast dreimal so hoch wie in den benachbarten Ländern. Wie die unabhängige Ärztekammer Iraks Anfang November 2006 mitteilte, hat sich der Zusammenbruch der Krankenversorgung weiter fortgesetzt, qualifiziertes Personal und Ausrüstung werden immer knapper. An 160 der 180 Krankenhäusern im Lande fehlt, so die Kammer, mittlerweile selbst das Allernotwendigste. "Unsere Krankenhäuser ähneln mehr Scheunen, ohne elektrische Energie, Medizin, Ausrüstung und nun auch Ärzten", so ein Mediziner gegenüber der Nachrichtenagentur IPS. Von den über 34.000 vor 2003 registrierten Ärzten ist mehr als die Hälfte mittlerweile aus dem Land geflohen, mindestens 2.000 wurden ermordet, heißt es in der Erklärung der Ärztekammer.

Wie dramatisch sich die Verhältnisse verschlimmern, kann man auch an den Ergebnissen einer neuen Studie über die Sterblichkeit im Irak ablesen, die Anfang Oktober in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet" veröffentlicht wurde. Aufsehen erregte in den Medien nur die erschreckend hohe Zahl von 650.000 Irakern, die demnach infolge von Krieg und Besatzung starben, fast 600.000 von ihnen eines gewaltsamen Todes. Noch alarmierender ist aber, dass sich die Zahl der Gewaltopfer seit 2003 jedes Jahr fast verdoppelte, von 90.000 über 180.000 auf 330.000. Stieg die Zahl der "natürlichen" Todesfällen bis Anfang 2006 kaum merklich, schnellten sie im ersten Halbjahr auf fast 50.000. Basis des Vergleiches - das darf nicht vergessen werden - ist die ebenfalls schon miserable Situation nach 13 Jahren Embargo, das ebenfalls schon fast 100.000 Menschen pro Jahr das Leben kostete. Der rasche Anstieg sei Anfang 2006 könnte bedeuten, dass die Reserven der irakischen Bevölkerung nun endgültig erschöpft sind und immer mehr Menschen den katastrophalen Lebensbedingungen nichts mehr entgegensetzen können.

Neben eklatanten Versorgungsmängeln ist es die alltägliche Gewalt, Behördenwillkür und Missachtung der Menschenrechte, die das Leben der Iraker zur Hölle machen. Angst vor krimineller Gewalt, vor Ermordung oder Verschleppung durch Milizen und irakischen Sicherheitskräften sowie Angriffe der Besatzungstruppen auf ganze Städte oder Stadtviertel bestimmen den Alltag. Es gibt kaum eine Familie, die nicht den Verlust von Angehörigen zu beklagen hätte. Zu den unmittelbaren Folgen der Gewalt kommen so auch noch massive psychische Leiden. Wenn Polizeieinheiten selbst in Entführungen, Folterungen und Exekutionen verwickelt sind, so bleibt niemand mehr, auf dessen Schutz der Einzelne hoffen kann, außer den eigenen Milizen und Selbstschutzgruppen. Das wiederum untergräbt zunehmend den Zusammenhalt der irakischen Gesellschaft. Vierzigtausend Iraker fliehen mittlerweile pro Monat aus dem Irak. Insgesamt haben 1,8 Millionen das Land seit Kriegsbeginn verlassen, 1,6 Millionen wurden zu Flüchtlingen im Land selbst. (Al-Jazeera report 3.11.2006)

Das humanitäre Desaster, Chaos und Gewalt im Irak wird von niemand mehr bestritten. Verantwortlich werden aber die Iraker selbst gemacht: der Widerstand gegen die Besatzung, die sektiererische Gewalt zwischen Bevölkerungsgruppen und die irakische Regierung, die dieser Gewalt nicht Einhalt gebieten könne. Völlig ignoriert wird dabei, dass die tatsächliche Macht im Land nach wie vor die USA ausüben, so wie auch die Grundursache allen Übels völlig verdrängt wird: die Eroberung des Landes durch die USA und ihrer "Koalition der Willigen" und deren konkreten Besatzungspolitik. Maßgeblich verantwortlich für den raschen Zusammenbruch der Versorgung und der Sicherheit im Alltag war die Auflösung von Armee und Polizei, die Zerschlagung der staatlichen Strukturen, die Auslieferung des Landes an ausländische Firmen und die Einführung des konfessionellen Proporzes auf allen Regierungs- und Verwaltungsebenen. 30 Milliarden, vorwiegend irakisches Geld wurden für Wiederaufbau ausgegeben. Sie flossen jedoch in die Taschen von US-Konzernen ohne sichtbare Ergebnisse zu hinterlassen. Schließlich schufen die USA eine Regierung, die maßgeblich von zwei extremistischen Kräften beherrscht wird, den separatistischen kurdischen und den radikalen schiitischen Parteien. Deren Milizen stellen in großen Maße die Polizei und Armee und sie werden auch für einen großen Teil der Entführungen und Exekutionen verantwortlich gemacht.

Die Lancet-Studie scheint zunächst zu bestätigen, dass die meisten Toten Opfer der Gewalt zwischen Irakern wurden, relativ gesehen ging die Zahl der zweifelsfrei direkt durch Besatzungstruppen getöteten Iraker auf 31% zurück. Die Studie unterscheidet allerdings bei den Tätern nur zwischen Besatzungstruppen und Irakern. Da die irakischen Armee- und Sicherheitskräfte unter dem Befehl der Besatzer agieren, müssen deren Opfer aber ebenfalls zur Rubrik Besatzungstruppen gezählt werden. Ihr Anteil bei den Kampfeinsätzen stieg und zwangsläufig auch die Zahl derer, die von ihnen getötet wurden. Während der Kämpfe können Angehörige kaum erkennen, welche Einheiten geschossen haben. So erklärt sich der hohe Anteil von Fällen (45%), die nicht eindeutig zuzuordnen sind. Da als Täter aber offenbar ausländische Truppen in Frage kamen, können die meisten wohl dem Lager der Besatzer allgemein zugerechnet werden. Dieses muss daher mit Sicherheit für weit mehr als die Hälfte aller Opfer unmittelbar verantwortlich gemacht werden. Ohnehin hat sich die Zahl der jährlich direkt durch Besatzungstruppen getöteten Zivilisten zwischen 2003 und 2006 fast verdreifacht, hochgerechnet auf die Bevölkerung von 30.000 auf 85.000. Die Zahl der durch Luftangriffe getöteten Iraker stieg sogar von 12.00 auf 40.000, jeder siebte Ermordete letztes Jahr wurde ein Opfer von US-Bomben. Schon diese Zahlen belegen, dass die Besatzungstruppen keinen Beitrag zur Verbesserung der Situation leisten können, sondern selbst die Hauptursache für das hohe Gewaltniveau sind. Hinzu kommt, dass ihre Präsenz Gewalt auf Seiten der Besatzungsgegner provoziert. Auch wenn dies sicherlich nicht alle Probleme beseitigt, der erste Schritt aus dem irakischen Desasters muss der Rückzug der Besatzer sein.