[home]  

 

Kein Glaubenskrieg

Ziel des Anschlags auf die Goldene Moschee in Samarra: die Torpedierung des Einigungsprozesses der Besatzungsgegner

 

Von Joachim Guilliard
aus junge Welt, 03.03.2006 / Thema / Seite 10

(Der vorliegende Text enthält weitere Quellen und einige nachträgliche Updates sind in blau. Stand 5.3.2006)

 

Auf den Bildern der großen Demonstrationen gegen den Bombenanschlag auf die Goldene Moschee in Samarra am 22. Februar mischen sich die mächtigen schwarzen und weißen Turbane der islamischen Geistlichen. Schwarz tragen die schiitischen und weiß die sunnitischen Prediger. Auch wenn die Grabmoschee der Imame Ali al-Hadi und Hassan al-Askari als eines der wichtigsten Heiligtümer der Schiiten gilt, wurde sie von Sunniten ebenso geschätzt und viel besucht. Über ihre religiöse Bedeutung hinaus war das berühmte Bauwerk zudem der Stolz der gesamten Stadt.

Im Westen hielt man sich nicht lange mit Nachforschungen auf, passte der Anschlag und die folgenden brutalen Racheaktionen doch gut in das seit langem gepflegte Bild von einer tiefen Feindschaft zwischen den Konfessionen. Dabei ist es in diesem Fall ziemlich abwegig, religiöse Sunniten als Urheber des Anschlags zu vermuten. Ebenso absurd ist die Annahme, Schiiten würden die Gemeinschaft der Sunniten als solche für das Verbrechen verantwortlich machen.

 

Selbst führende Schiiten wie Muqtada Al Sadr hätten zur Rache an den Sunniten aufgerufen, meldeten die Medien und malten den Ausbruch eines umfassenden Bürgerkriegs an die Wand. Tatsächlich hatte der einflussreiche Schiitenführer die Möglichkeit jedoch kategorisch ausgeschlossen, Sunniten könnten für den Anschlag verantwortlich sein und seiner Mahdi-Armee befohlen, die heiligen Stätten der Sunniten zu schützen.[1]

Einige Tage später rief Al Sadr dazu auf, eine große friedlichen Demonstration der Einheit zu und für einen unverzüglichen Abzug der fremden Truppen zu organisieren sowie gemeinsame, kommunale Gottesdienste von Sunniten und Schiiten. In seiner Rede in Basra machte er erneut die Besatzungsmacht für den Anschlag in Samarra verantwortlich. „Manchmal beschimpfen sie den Propheten auf übelste Weise mit ihren Karikaturen, und manchmal jagen sie unsere Imame in die Luft. Die Serie von Angriffen ist nicht die erste und wird nicht die letzte sein.“ [2]

Auch die oberste geistliche Führung der Schiiten wies, so Ayatollah Hussein Ismail Al Sadr, den Vorwurf energisch zurück, dass Sunniten diese Tat begangen hätten. Er schloss die Möglichkeit eines Bürgerkrieges aus, warnte aber vor dem Aufkommen religiöser Konflikte, die die Terroristen durch die Bomben zwischen den Irakern entfachen wollen. „Die Moscheen unserer muslimischen Brüder müssen geschützt werden“, so der dringende Appell des Ayatollahs, „und wir müssen zusammenstehen gegen Terrorismus und Sabotage.“ [3] Der höchste schiitische Führer, Ayatollah Al Sistani hat ebenfalls zur Ruhe aufgerufen.

 

Wut auf Besatzer

Nicht nur in Samarra, auch in vielen anderen Städten gingen Hunderttausende wütende Iraker gemeinsam auf die Straße. Ihr Zorn richtete sich eindeutig gegen die Besatzer, die sie direkt oder indirekt für die Bomben verantwortlich machten: „Kalla, kalla Amrica, kalla kalla lill-irhab“ – „Nein zu Amerika, nein zum Terrorismus“, hieß die Parole, die Schiiten und Sunniten einte. In Samarra, einer der Hochburgen des Widerstands, haben sunnitische Freiwillige mit dem Wiederaufbau der Moschee begonnen.

 

Neben der Frage nach den Urhebern des Anschlags in Samarra stellt sich eine weitere, nicht weniger interessante: Wer organisierte die gewalttätigen Racheaktionen gegen sunnitische Moscheen und Geistliche, die die Atmosphäre erst bis zum Siedepunkt anzuheizen drohten.

 

Überraschend für viele Beobachter war schon die Schnelligkeit gewesen, mit der sie begannen. Es scheint, als hätten die Akteure nur auf ihren Einsatz gewartet, meinte die international bekannt gewordene irakische Bloggerin „Riverbend“.[4] Keiner der vielen bewaffneten Angriffe auf sunnitische Moscheen, so der irakische Politologe Sami Ramadani im britischen Guardian vom 24. Februar, machte den Eindruck eines spontanen Protests. Die Berichte darüber deuten vielmehr daraufhin, dass sie meist von vermummten Bewaffneten initiiert worden waren.

[Update:] Die Angriffe begannen schon innerhalb weniger Stunden nach der Explosion in Samarra. „Ich sah einen der Anschläge auf sunnitische Moscheen,“ berichtete ein Augenzeuge der Nachrichtenagentur IPS. „Es geschah direkt vor mir bei der Al Quds Moschee im Baladiyat-Viertel im Osten Bagdads.“ Er sah wie viele Jeeps und Autos angefahren kamen und ihre Insassen sofort das Feuer eröffneten. „Ich bin mir sicher, dass sie dies vorher trainiert hatten, sie wussten alle sehr genau was zu tun ist.“ Im selben Stadtviertel hatte es in den Wochen vorher auch Angriffe ähnlicher Milizgruppen auf palästinensische Flüchtlingslager gegeben. [5]

Die meisten der Demonstrationen waren als friedlicher Protest geplant gewesen, so Abd Ali, der selbst eine mitorganisiert hatte. Neben dem Gros der friedlichen Demonstranten kamen aber auch bewaffnete Schiiten „deren Ärger schwer zu kontrollieren war.“ [6]

 

Die anschließende Eskalation von Mordanschlägen war ebenfalls gut organisiert und zielte nur teilweise auf Sunniten. Opfer wurden, so Ramadani weiter, auch gemischte Gruppen, wie beim Mord an 46 Arbeitern am 23. Februar bei Bakuba. Die Mehrheit der Demonstranten brachte diese Morde mit den vielfältigen Berichten und Gerüchten über Todesschwadrone in Verbindung und machte die USA und die mit ihnen verbündeten irakischen Regierungsparteien für die Gewaltwelle verantwortlich.[7] Nicht grundlos: Wie beispielsweise die Londoner Times erfuhr, konnten die schwerbewaffneten Kämpfer nach einem Angriff auf die sunnitische Al-Quds-Moschee unbehelligt wieder in ihre Autos klettern und unter dem Beifall der unter US-amerikanischer Führung stehenden irakischen Nationalgarde davonfahren.[8]

 

Im Irak sind sei Beginn der Besatzung eine große Zahl von Milizen entstanden, die meisten gehören zu einer der religiösen oder ethnisch orientierten Parteien. Die größten sind die Peshmergas der Kurdenparteien und die Badr-Brigaden des SCIRI, d.h. der Parteien, die wichtigsten Posten in der irakischen Regierung innehaben. Diese Milizen stellen mittlerweile einen großen Teil der Armee, Polizei und sonstiger Sicherheitskräfte und werden seit langem für Anschläge auf politische Gegner verantwortlich gemacht. [9]

 

Die meisten arabischen Kommentatoren sahen daher vor allem die irakische Regierung, in der islamistische Fanatiker und Milizenführer die wichtigsten Ministerien übernommen haben, als Drahtzieher der Unruhen. Auch die großen, von den USA und der Regierung gesponserten Medien, spielen offensichtlich eine entscheidende Rolle dabei, die „Atmosphäre mit sektiererischem Gift in Rausch zu versetzen,“ so die Zeitung Al-Quds Al-Arabi (23.2.2006).[10]

Wie Jonathan Steele vom Guardian feststellte, macht zwar vieles den Eindruck bürgerkriegsähnlicher Zustände, die Gewalt geht aber vorwiegend „von oben“ aus. „Pogrome im Balkanstil, wo Nachbarn sich gegen Nachbarn wenden, Häuser und Läden niederbrennen gab es keine.“[11]

 

Die US-Truppen blieben in ihren Kasernen. Sie wollten nicht durch ihre Präsenz noch mehr Gewalt provozieren, begründeten Sprecher der US-Armee ihre völlige Untätigkeit. Unabhängig davon, ob diese Begründung nur vorgeschoben ist, zeigt das Verhalten der Besatzer, dass sie keinesfalls Schutz vor einem Bürgerkrieg bieten können, sondern selbst das größte Problem darstellen.

[Upd:]

Die US-Truppen hätten die meisten dieser völlig offen ausgeführten Gewaltakte gegen Moscheen und Geistliche durchaus verhindern können, wenn sie sofort eingeschritten wären, ist sich Mutahana Hareth Al-Dari, der Sprecher der AMS, sicher, fünf, sechs  Panzer hätten genügt. Als Besatzungsmacht wäre sie dazu nach internationalem Recht auch verpflichtet gewesen. Auch das BRussel Tribunal, der belgische Ableger der internationalen Iraktribunalbewegung, hat in einer Erklärung auf diese Verpflichtung hingewiesen und betont, dass - unabhängig davon, wer hinter dem Anschlag auf die Goldene Moschee steht - allein schon aus diesem Grund, die Besatzungsmacht für die Zerstörungen verantwortlich ist. (Statement on events in Samarra and across Iraq, BRussells Tribunal, 23 Feb. 2006)

 

„Die Bomben und der scharfe Anstieg der Gewalt danach liefert den letzten Beweis für das Versagen der US-amerikanischen militärischen Besatzung, der irakischen Bevölkerung Sicherheit geschweige den ‚Demokratie’ zu bringen,“ so die renommierte US-amerikanische Nahostexpertin Phillis Bennis.[12] Auch die Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte trägt wenig zur Verbesserung der Sicherheitslage bei. Durch die Durchsetzung mit sektiererischen Kräften, deren Loyalität nicht dem Staat, sondern ihren Partei- und Milizführen gilt, sind sie oft selbst die Hauptverantwortlichen für die ausufernde Gewalt.

 

Professionelle Sprengung

Erstaunlich wenig Aufmerksamkeit richten westliche Medien auf die Art und Weise, wie der Anschlag auf die Moscheein Samarra durchgeführt wurde. Überzeugt davon, dass nur sunnitische Terroristen vom Schlage Abu Musab Al Sarkawi dahinter stecken können, interessierte sich kaum ein Journalist für die Details.

 

Die planmäßige Sprengung der goldenen Kuppel passt jedoch in vieler Hinsicht nicht zu den anderen verheerenden Anschlägen, für die Al Sarkawis Gruppe verantwortlich gemacht wird. Die Sprengladungen waren hier nicht einfach an einem leicht zugänglichen Ort, in einem Auto, Koffer oder ähnlichem versteckt, sondern genau kalkuliert an den vier Hauptsäulen des Mausoleums angebracht worden. Sie wurden sorgfältig in zuvor gebohrte Löcher gesteckt und miteinander sowie mit einer weiteren Ladung direkt unter der Kuppel und einem Fernzünder verbunden. Eine Arbeit, die mit dieser Präzision, so der irakische Bauminister Jassem Mohammed Jaafar, nur von Spezialisten durchgeführt werden konnte. Allein das Bohren der Löcher dürfte dabei vier Stunden in Anspruch genommen haben.[13]

All diese Vorbereitungen geschahen in einer der am besten bewachten Moscheen Iraks, in einer Stadt, in der zwischen acht Uhr abends und sechs Uhr morgens eine strikte Ausgangssperre herrscht. Augenzeugen berichteten von ungewöhnlich starken Aktivitäten der Irakischen Nationalgarde rund um die Moschee. Ihre Fahrzeuge wären die ganze Nacht zu hören gewesen. Auch US-Truppen wurden gesehen. Um sechs Uhr morgens hätten die irakischen Soldaten das Gebiet verlassen, um 6.30 Uhr folgten die US-Soldaten. Um 6.40 Uhr bzw. nach anderen Quellen um 6.55 Uhr explodierten die Sprengsätze.[14]

 

Inwieweit irakische Sicherheitskräfte und US-amerikanische Einheiten tatsächlich in den Anschlag verwickelt sind, könnte nur eine unabhängige Untersuchung klären. Diese ist so wenig wie bei vorangegangenen Terrorakten in Sicht. Auch die Irakischen Demokraten gegen die Besatzung (IDAO) lassen in einer Stellungnahmeverlauten, daß es praktisch nicht möglich sein wird zu erfahren, wer für den Bombenanschlag verantwortlich ist. Denn der Irak habe mittlerweile viele geheime Armeen – geschaffen, ausgebildet und kontrolliert von der Besatzungsmacht – sowie die fundamentalistischen „Takfiri“-Kräfte. Es sei daher eine seltsame Ironie, wenn nun alle, von George W. Bush bis zu Dschalal Talabani, den Anschlag als Versuch verurteilen, Zwist zwischen den Bürgern zu säen, und ausgerechnet der britische Außenminister Jack Straw die Iraker zur Einheit aufruft. Tatsache sei, daß seit Beginn der Besatzung des Irak die eingedrungenen Mächte zum Mittel der willkürlichen Teilung der Iraker in Sunniten, Schiiten und Kurden gegriffen haben, um das Land zu kontrollieren. [15]

 

Mutahana Hareth Al-Dari, der Sprecher der AMS bringt den Anschlag auf das Heiligtum in Samarra in Zusammenhang mit den Verhandlungen über eine Regierung der „Nationalen Einheit“ Der Druck von Seiten der USA eine solche Regierung ist sehr groß. Das würde allerdings für Wahlgewinner, die schiitischen Parteien, bedeuten, dass sich ihre Parlamentsmehrheit nicht richtig auszahlt, dass sie Konzessionen machen müssten. „Ihre Antwort gaben sie in Samarra,“ so Al-Dari.[16]

 

Doch wer auch immer hinter der Sprengung der Moschee stehen mag, für die Besatzungsmächte kam das Ereignis zu einem sehr günstigen Zeitpunkt. Waren sie doch in den letzten Wochen wieder heftig unter Druck geraten. Ein Video, das britische Soldaten bei der brutalen Misshandlung irakischer Jugendlicher in Basra zeigt, brachte für viele Schiiten im Süden, die bisher noch mit den Besatzern kooperierten, das Fass zum Überlaufen. Die Regionalregierungen der Provinzen Basra und Maysan stellten nun die Zusammenarbeit mit den Briten ein und hoben das Gesetz auf, das allen Besatzungssoldaten Immunität vor irakischen Gerichten gewährt. Diese Gesetz ist eines der vielen, die der ehemalige US-Statthalter Paul Bremer erlassen hatte und die nach wie vor in Kraft sind. Sollten die Provinzen mit ihrer Absicht ernst machen, würde dies nicht nur eine direkte Konfrontation in der Frage der Strafverfolgung britischer Soldaten bedeuten, sondern generell die von den Besatzern auferlegten Spielregeln einer beschränkten Selbstverwaltung unter ihrer Hoheit in Frage gestellt.

Dem Video aus Basra folgte die Veröffentlichung neuer Fotos von Folteropfern aus Abu Ghraib. Auch diese Misshandlungen werden weithin als Demütigung aller Iraker verstanden und empören Sunniten und Schiiten gleichermaßen. Der Gouverneur von Maysan forderte die britische Armee auf, Mitgliedern des Provinzrates unverzüglich Zugang zu den von ihnen geführten Gefängnissen zu gewähren. Basra und die von US-Truppen kontrollierte Provinz Kerbala kündigten ähnliche Schritte an.

 

Wachsende Einheit

Eine andere für die Besatzungsmächte bedrohliche Entwicklung ist die wachsende politische Einheit des bewaffneten Widerstands und seine steigende Akzeptanz im schiitischen Süden durch das aktive Vorgehen gegen terroristische Gruppen. Immer mehr bewaffnete Gruppierungen einigen sich nun darauf, ihre Angriffe allein auf Besatzungstruppen zu konzentrieren und „keine Zeit und Energie mit Konfrontationen mit der [irakischen] Armee, Polizei und Nationalgarde zu vergeuden, während sich die Besatzungssoldaten erholen können“. Angriffe auf Armee und Polizei sollten nur noch erfolgen, wenn diese „›Mudschaheddin‹ angreifen, Leute schlecht behandeln oder überfallen.“ [17]

 

Sie grenzten sich damit nicht nur klar von den Terrorgruppen bzw. „Takfiri“ ab, wie die sunnitischen Fundamentalisten genannt werden, die andere Muslime als Ketzer und Ungläubige verdammen. Sie kündigten auch an, aktiv gegen diese, Al Sarkawi zugerechneten Gruppen vorzugehen, die sowohl für die verheerenden Anschläge auf schiitische Zivilisten als auch auf Polizisten und Rekruten verantwortlich gemacht werden. Die sunnitischen Araber würden nun zwei Kämpfe führen, so ein Sprecher der dem sunnitischen Widerstand nahestehenden Vereinigung Islamischer Gelehrter (AMS): einen „gegen die Besatzer und den von ihnen eingesetzten Regierungsapparat“ und den anderen „gegen die terroristischen Banden“.

 

Offensichtlich konnten die Organisationen, die ihren Kampf schon immer auf die Besatzungstruppen konzentrierten – wie z. B. die „Islamische Front des irakischen Widerstands“[18]  – auch radikal-islamische Gruppen überzeugen, dass Angriffe auf irakische Sicherheitskräfte oder gar Zivilisten kontraproduktiv sind. Durch Aufklärungsarbeit über den „wahren Charakter der bewaffneten Gruppen, die im Namen der Religion und des Widerstands töten“, sei es gelungen, so ein Stammesführer aus Ramadi, die logistische Unterstützung „für die terroristischen Elemente“ durch Einwohner zu unterbinden.

 

Seit letztem Sommer gab es in Ramadi immer wieder bewaffnete Zusammenstöße zwischen Al-Sarkawi-Anhängern und der Guerilla sowie Angehörigen sunnitischer Stämme, die sich schützend vor die schiitische Minderheit in der Stadt stellten (Washington Post, 14.8.2005).[19] Nach einer Welle von Attentaten auf sunnitische Politiker im Vorfeld der letzten Wahlen und der Ermordung von 42 Polizeirekruten in Ramadi erklärten die sechs großen Widerstandsgruppen der Provinz der Al-Sarkawi-Gruppe den Krieg. „Volks-“ und „Clan-Komitees“ begannen in Ramadi und anderen sunnitischen Städten, Jagd auf seine Anhänger zu machen, um die „Terroristen“ aus dem Land zu vertreiben.

 

Im schiitischen Süden wurde dies mit großer Genugtuung aufgenommen. Vor allem Sprecher der Bewegung Al Sadrs priesen daraufhin die Bürger von Ramadi in ihren Freitagsgebeten.[20] Obwohl sie dem schiitischen Wahlbündnis beigetreten sind, das von den US-Verbündeten SCIRI und al-Dawa angeführt wird, haben sich die Kontakte zwischen Vertretern Al Sadrs und denen sunnitischer Gruppierungen wie der AMS und der Front der irakischen Eintracht, intensiviert. Vieles deutet daraufhin, dass der Anschlag auf die Goldene Moschee und die folgende Welle der Gewalt gegen Sunniten hier einen neuen Keil dazwischen treiben sollte.

 

In vielen wesentlichen Punkten steht Al Sadr den sunnitischen Organisationen und dem patriotischen Widerstand näher als seinen Partnern im schiitischen Wahlbündnis SCIRI und al-Dawa. Er lehnt insbesondere die sehr weitgehende Föderalisierung des Iraks ab, den die kurdischen Parteien zusammen mit den schiitischen Regierungspartien in der neuen Verfassung verankerten. Vor den letzten Wahlen initiierte einen „Pakt der Ehre“ der die Unterzeichner verpflichtet, sich für einen raschen Abzug der Besatzer einzusetzen und die Anerkennung des Rechts der Iraker zum Widerstand fordert. Al Sadrs Bewegung genießt daher auch in den mehrheitlich sunnitischen Widerstandshochburgen Sympathien und kann eine Brücke zwischen den Besatzungsgegnern im Norden und Süden schlagen.[21]

Da ein Teil der Angreifer auf sunnitische Moscheen in schwarz, der Farbe der Mahdi-Armee gekleidet war, wurde diese von vielen Sunniten beschuldigt, sich an den Pogromen beteiligt zu haben. Die Mahdi-Armee ist keine streng hierarchische Organisation ist, eine Beteiligung von eines Teils ihrer Leute kann daher nicht ausgeschlossen werden. Die schwarze Kleidung kann aber auch ohne weiteres von Gegnern benutzt worden sein, um Al Sadrs Bewegung in sunnitischen Kreisen in Misskredit zu bringen.[22]

 

Zumindest auf der Ebene der politischen Führer ist dies offensichtlich misslungen. Al Sadr und Scheich Jawad Al Khalisi, der Führer des Irakischen nationalen Gründungskongresses (INFC) trafen sich wenige Tage nach dem Anschlag in Samarra mit Vertretern der einflussreichen Vereinigung Islamischer Gelehrten (AMS) und vereinbarten gemeinsame Maßnahmen, um die Gewalt zwischen den Religionsgruppen einzudämmen.

 

Doch wenn der Irak tatsächlich in einen Bürgerkrieg gestützt wird, dann wird dies – da ist sich der Politologe Sami Ramadani gewiß – kein Krieg der Araber gegen Kurden oder Sunniten gegen Schiiten, sondern einer von den USA gestützten Minderheit gegen die Mehrheit der irakischen Bevölkerung sein.

 

–––––––––––––––––––––

[Upd:] Teilweise wird dies auch von der neuesten Studie der „International Crisis Group“ ICG bestätigt, die sich sehr ausführlich mit den wachsenden innerirakischen Konflikten beschäftigt. Die Experten des Nato-nahen Think- Tanks mit Sitz in Brüssel sehen allerdings die Gefahr, dass aus dem schmutzigen Krieg, der im Moment von „kleinen Gruppen Aufständischer“ geführt wird, „die einen konfessionellen Streit entfachen wollen, indem sie Schiiten töten" und "gewissen Kommandoeinheiten der Regierung, die Vergeltungsaktionen gegen die sunnitisch-arabischen Bevölkerung durchführen,“ durchaus ein echter Bürgerkrieg entstehen könnte.[23]

Es habe zwar immer schon untergründig gewisse konfessionelle Gegensätze gegeben, sie wären aber nie stark ausgeprägt gewesen und hätten vorwiegend auf kultureller Ebene gelegen. Virulent wurden sie nur, wenn sie durch politische Kräfte für ihre Zwecke ausgenutzt wurden, um darüber mehr Anhänger zu gewinnen. Zu keinem Zeitpunkt bisher hatte dies aber vor dem Einmarsch der US-geführten Truppen zu größeren Gewaltausbrüchen geführt

Verantwortlich für die jetzt immer bedrohlichere Situation wird vor allem die Besatzungspolitik der USA gemacht. Sie setzten durch, dass „zum erstenmal in der Geschichte des Landes Konfession und Volkszugehörigkeit die formalen Organisationsprinzipien der Politik wurden.“ Auf diese Weise verhalfen sie mit den kurdischen und schiitischen Parteien Organisationen in die führenden Positionen, die ihre Ziele verfolgen, indem sie religiöse und ethnische Gegensätze auszunützen suchen – ein Phänomen dass, so die ICG, auch in anderen bewaffneten Konflikten, z.B. im ehemaligen Jugoslawien zu beobachten war. Auch die Gegner dieser Politik sehen sich dadurch zunehmend gezwungen, Politik in ethnisch-konfessionellen Kategorien zu betreiben.

Während die Besatzungsmacht Rücksicht auf die schiitischen Kräfte nahm, förderten sie die Marginalisierung der Sunniten und heizten deren Widerstand erst so richtig an, indem sie mit großer Brutalität gegen ihre Proteste vorgingen. Obwohl Schiiten die Mehrheit der Mitglieder in der Baath-Partei stellten, auch in den höheren Rängen, wurden überwiegend Sunniten Opfer der „De-Baathisierung“ die dadurch zu einer „Ent-Sunnifizierung“ wurde. [In den Händen der kurdisch-shiitischen Regierung ist die De-Baathisierung ein wichtiges Instrument gegen ihre politischen Gegner.] Die kurdischen und schiitischen Parteien nutzten den Übergangsprozess sich entscheidende Machtpositionen zu sichern und ihre Interessen in der neuen Verfassung zu verankern, die zum „Bauplan zur Auflösung des Staates“ wurde. 

 

In einer Flut von Studien malen auch andere renommierte Nahost- und Militärexperten derzeit ein düsteres Bild vom Irak und seinen Aussichten für die kommenden Monate und Jahre. Obwohl aus politisch unterschiedlichen Lagern, kommen sie übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass nicht nur Terroristen und Aufständische, sondern vor allem die Irak-Politik der US-Regierung und das Vorgehen der US-Armee im Land selbst für das Desaster verantwortlich sind. Wahlen, Referendum, Verfassung, Übergangsregierung: Was die US-Regierung als Meilensteine in der Entwicklung eines demokratischen, neuen Irak betrachtet, sind in den Augen der Experten nichts als kleine Schritte Richtung Bürgerkrieg. [24]


[1] Dahr Jamail „Who Benefits?“, 24.2.2006, http://dahrjamailiraq.com/weblog/archives/dispatches/000365.php

Muqtada Al Sadr macht „Besatzern und Baathisten“ verantwortlich. Mit letzteren meint er offensichtlich die Kräfte um Ijad Allawi, mit denen er tief verfeindet ist.

[2]Muqtada calls for Sunni-Shiite Marches – Prayers Want Pan-Islamic Resolution for US Withdrawal“, Al-Zaman/Juan Cole, 27.2.2006

[3] Dahr Jamail „Who Benefits?“, a.a.O.

[4] Riverbend „Tensions... Things are not good in Baghdad“, 23.2.2006

[5]Political Motives Behind Attacks Surface”, IPS, 26.2.2006

[6] ebd.

[7] John Pace, bisheriger Leiter der Abteilung für Menschenrechtsfragen der "United Nations Assistance Mission in Iraq" UNAMI berichtete Ende Februar, dass Tausende Menschen im Irak durch Todesschwadrone getötet wurden, die mit dem Innenministerium in Verbindung stehen. Siehe „Iraq's death squads: On the brink of civil war“, Independent, 26.2.2006 und „Irakische" Todesschwadrone“, Freace, 26.2.2006

[8] Sami Ramadani, „Exit without a strategy - The popular response blame the occupation, not rival sects“, Guardian, 24.2.2006,

[9] Iraq's death squads: On the brink of civil war“, Independent, 26.2.2006

[10]The Ignition of the Civil War in Iraq“, Alquds Al-Arabi, 23.2.2006

[11] Jonathan Steele, „Civil strife is not the only conflict for Iraq's Shias“, The Guardian, 3.3.2006

[12] Phyllis Bennis and Erik Leaver,The Samarra Bombing and its Aftermath: A New Face on the Civil War?

Institute for Policy Studies/ZNet; February 28, 2006

[13]Iraq shrine bombing was specialist job: minister“, afp, 25.2.2006 sowie “Political Motives Behind Attacks Surface”, IPS, 26.2.2006

[14] „The night before the bombing: Two eyewitnesses“, Baghdad Dweller, February 23, 2006, www.roadstoiraq.com/?p=723 sowie “Political Motives Behind Attacks Surface”, a.a.O.

[15] „Unity of the Iraqi people against US occupation is the only guarantee for solving the current political crisis“, IDAO, 26.2.06, http://www.idao.org/2006/02/unity-of-iraqi-people-against-us.xml

[16] There is ethnic cleansing“, Al-Ahram Weekly, 2.3.2006

[17] „AMS: We Are Now Waging Two Battles: Against 'the Occupation' and Against 'the Terrorists'“ Al-Hayat/ZNet, 26.1.2006, http://www.zmag.org/content/showarticle.cfm?SectionID=15&ItemID=9596

[18] , s. „Besatzermythen“, Marxistische Blätter, 4-05

[19]Iraqi Sunnis Battle To Defend Shiites - Tribes Defy an Attempt by Zarqawi To Drive Residents From Western City“, Washington Post, 14.8.2005

[20]Sadrists Call for Sunnis to Fight Zarqawi“, Juan Cole, 28.1.2006

[21] Nir Rosen, „Muqtada al-Sadr - America's Unlikely Savior“, Salon.com/ZNet; 5.2.2006

[22] Siehe auch „Civil strife is not the only conflict for Iraq's Shias“, a.a.O
Al Ahram Weekly schreibt zudem: „Informierten irakischen Quellen zufolge, die unter Zusicherung von Anonymität mit der Weekly sprachen, wurde die Mahdi Armee von der Badr-Organisation [...] und anderen vom Staat unterhalten Milizen ‚infiltriert“. Al-Sadr hätte daher teilweise die direkte Kontrolle über seine Milizen verloren. Für die sunnitischen Organisationen AMS sei Al-Sadr weiterhin eine „nationalistische Persönlichkeit.“
(There is ethnic cleansing“, Al-Ahram Weekly, 2.3.2006)

[23]The Next Iraqi War? Sectarianism and Civil Conflict“, ICG, Middle East Report N°52 – 27.2.2006

 Die gut 30 Seiten starke Studie ist, wie auch die früheren Abhandlungen der ICG sehr fundiert und daher auch wenn man die Zielsetzung des transatlantischen Think Tanks nicht teilt sehr zu empfehlen.

[24]Neue Studien – Experten-Ohrfeigen für Bushs Irak-Politik“, Spiegel, 9.3.2006