Irak - drei Jahre nach der Okkupation

Ein kurzes Resümee über die humanitären Kosten von Krieg und Besatzung

Joachim Guilliard, März 2006

 

Als die US-geführten Truppen im März 2003 im Irak einmarschierten, hatten viele Iraker gehofft, dass sich nun, nach 13 Jahren mörderischer Sanktionen, wenigstens ihre alltäglichen Lebensbedingungen verbessern würden. Heute wissen sie es besser: „Der größte Teil des Iraks ist ein Desaster und in einem Zustand des vollständigen Chaos“, so fasste der bekannte US-Journalist Dahr Jamail kürzlich seine Eindrücke aus dem besetzen Land zusammen. Die Situation sei bestimmt durch die Brutalität von Guerillakrieg und Aufstandsbekämpfung sowie einer zusammengebrochenen Infrastruktur.[1]

 

Bereicherung statt Wiederaufbau

 

Eine im Mai 2005 veröffentlichte, umfangreiche Studie des UN-Entwicklungs­programms (UNDP) belegt eindrücklich, wie dramatisch sich die Lebensbedingungen verschlechtert haben. Zwölf Prozent aller irakischen Kinder im Alter von sechs Monaten bis fünf Jahren sind stark untergewichtig und acht Prozent akut unterernährt, 23 Prozent blieben aufgrund chronischer Unterernährung im Wachstum zurück. Die Wahrscheinlichkeit, vor dem 40. Lebensjahr zu sterben, ist für die aktuell geborenen Kinder mittlerweile fast dreimal so hoch wie in den benachbarten Ländern. [2]

Ähnlich verheerend klingt das Urteil der Studie über das irakische Gesundheitswesen, das einmal als eines der modernsten im Nahen Osten galt. Es fehle allgemein an Personal, es gäbe ein „desolates Equipment sowie zerstörte Hospitäler und Gesundheitszentren“. Fast die Hälfte der Bevölkerung, hat keine bzw. keine verlässliche Versorgung mit sauberem Drinkwasser. Vierzig Prozent der städtischen Bevölkerung lebt in Stadtvierteln, wo die Abwässer offen über die Strassen abfließen. Die Ausbreitung gefährlicher Seuchen ist die logische Folge.

 

Die Situation hat sich seither nicht verbessert. Nach wie vor gibt es, wie die Washington Post Anfang des Jahres berichtete, nur stundenweise Strom und fließendes Wasser. Die Versorgung mit Nahrungsmittel und Medikamenten ist mangelhaft, die Arbeitslosigkeit liegt weit über 50%. All dies trotz der riesigen Summen, die offiziell in den Wiederaufbau des Landes gesteckt wurden. Für viele ausländische Unternehmen hingegen wurde der Irak zur Goldgrube. Der US-Konzern Halliburton allein hat bisher 11 Mrd. US-Dollar erhalten, dreizehn weitere, mit der Bush-Administration eng verwobene Firmen, wurden mit Auftragssummen von jeweils über 1,5 Mrd. bedacht.

Insgesamt füllten Aufträge im Wert von über 50 Mrd. US-Dollar die Kassen US-amerikanischer Firmen, Gelder die vorwiegend aus irakischem Guthaben und den aktuellen Öleinnahmen stammten. Sie wurden häufig kassiert, ohne dass eine adäquate Gegenleistung zu erkennen ist. Allein die Besatzungsbehörde hatte, bis zu ihrer Auflösung im Juni 2004, nahezu unkontrolliert über 20 Mrd. US-Dollar aus irakischem Guthaben ausgegeben. Über die Verwendung von 8,8 Mrd. fehlt bis heute jeder Beleg. Auch die Untersuchungen späterer Geschäfte brachten haarsträubende Fälle von Selbstbedienung, Betrug und Korruption ans Licht – sowohl auf US-amerikanischer Seite, als auch in den von US-Beratern kontrollierten irakischen Ministerien.[3] Der gigantische Raub irakischen Vermögens ist, so Dave Whyte vom Lehrstuhl für Kriminologie an der University of Stirling, ein bislang einmaliger Fall von staatlich gefördertem Wirtschaftsverbrechen.[4]

 

Statt in die Wiederherstellung der Energie- und Wasserversorgung oder des Bildungs- und Gesundheitssystems investiert zu werden, floss beinahe die Hälfte von den 18,4 Mrd. US-Dollar, die der Kongress Ende 2003 für den Wiederaufbau des Irak bereitstellte, in die Kriegsführung, den Aufbau des Strafjustizsystems und den Prozess gegen Saddam Hussein. Gut 2,5 Mrd. flossen beispielsweise in den Aufbau neuer Sicherheitskräfte, inklusive der berüchtigten Spezialpolizeikommandos, den Bau neuer Hochsicherheitsgefängnisse und den Ausbau von Gefangenenlager.

Irakische Firmen standen von Anfang an bereit, für ein Bruchteil der Auftragssummen die Schäden zu beheben, so wie sie es 1991 in wenigen Monaten geschafft hatten. Sie haben das Know How sowie das Interesse und sie hätten dadurch Hunderttausenden wieder zu Arbeit und Einkommen verholfen. Stattdessen ruinierte die vollständige Öffnung des Landes für ausländische Waren die Bauern und irakische Unternehmen und müssen die Iraker mit ansehen, wie amerikanische Firmen die Arbeit von ausländischen Arbeitern erledigen lassen. [5]

 

Tatsächliche Kosten des Irakkriegs

 

Auch die US-amerikanische Bevölkerung kommt die Irakpolitik ihrer Regierung teuer zu stehen. Fünf Milliarden Dollar geben die USA pro Monat für den Kriegseinsatz im Irak aus. Insgesamt stellte der US-Kongress bisher 251 Mrd. US-Dollar dafür bereit und rechnet in den nächsten 10 Jahren mit weiteren 230 Mrd.. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz hingegen schätzt, unter Berücksichtigung zahlreicher indirekter Kosten, wie jahrzehntelanger Invalidenrenten und Gesundheitskosten für verwundete Soldaten, die noch ausstehenden Kosten auf 700 Mrd. US-Dollar. Rechne man noch die „makroökonomische“ Kosten hinzu, würden sich die tatsächlichen Kosten des Irakkriegs auf 1.000 bis 2.000 Milliarden Dollar belaufen. Selbst im günstigsten Fall hätte man, so Stiglitz, damit das Sozialsystem der USA für die nächsten 75 Jahre auf eine stabile Basis stellen und durch Bekämpfung der Armut in der Welt, dem Terrorismus Nährboden entziehen können. [6]

 

Menschenrechtssituation schlimmer als unter Saddam Hussein

 

Neben fehlender Infrastruktur und mangelnder Versorgung leiden die Iraker vor allem unter der miserablen Sicherheitssituation und vielfältigen Menschenrechtsverletzungen der Besatzungsmacht und der Regierung. Nach Einschätzung des früheren UN-Beauftragten John Pace haben die Menschenrechtsverletzungen im Irak längst das Ausmaß der Herrschaft von Saddam Hussein erreicht. Es sei heute jedoch ein weit größerer Teil der Bevölkerung betroffen als unter dem alten Regime. Wer unter Hussein sein Recht auf Meinungsfreiheit aufgab und sich nicht politisch gegen das Regime betätigte, blieb in der Regel unbehelligt, so der UN-Diplomat. Unter den chaotischen Verhältnissen und der herrschenden Willkür kann es nun fast jeden treffen. Der gebürtige Malteser, der über 40 Jahre lang für die Vereinten Nationen gearbeitet hatte, war bis Februar Direktor des Menschenrechtsbüros bei der UN-Unterstützungsmission im Irak (UNAMI) gewesen. Nach seiner Pensionierung schilderte er der Nachrichtenagentur AP und dem britischen Independent offen die Erkenntnisse seiner zweijährigen Tätigkeit im Irak. [7]

 

Die Zahl außergerichtlicher Hinrichtungen ist demnach sprunghaft angestiegen. Acht- bis elfhundert Leichen wurden im letzten Jahr monatlich im Bagdader Leichenschauhaus eingeliefert. Rund Dreiviertel der Toten war an Schusswunden gestorben, fast alle mit Spuren von Folter und Zeichen, die auf eine Exekution hindeuten. Vor der Invasion hatte es durchschnittlich nur 20 gewaltsame Todesfälle im Monat gegeben. Nachforschungen werden unter Gewaltandrohung zu verhindern versucht. Der Direktor des zentralen Leichenschauhauses in Bagdad, Faik Bakir, hat daher den Irak, aus Angst ebenso zu enden, verlassen, nachdem er die von ihm gesammelten Daten der UN-Mission übergeben hatte.[8]

Nicht zuletzt auf Basis dieser Informationen macht Pace schiitische Gruppen, die unter Kontrolle des Innenministeriums stehen, für den größten Teil der Morde verantwortlich. Das von der radikal-schiitischen Partei SCIRI geleitete Ministerium würde als ein „Schurkenelement innerhalb der Regierung“ agieren. Viele der 110.000 Polizisten und der paramilitärischen Polizeikommandos stehen im Verdacht Mitglieder der Badr-Brigaden, der Miliz des SCIRI, zu sein. Innenminister Bayan Jabr selbst ist einer der historischen Führer dieser Brigaden. Nicht nur die Sondereinheiten zur Aufstandsbekämpfung, wie die „Wolf-Brigade“ die „Skorpione“ oder „Tiger“, sondern auch die normalen Einheiten, bis hin zur Straßenpolizei, werden beschuldigt als Todesschwadrone zu agieren, so der Independent.

Vor allem die paramilitärischen Kommandos, die in martialischen Kampfanzügen auf ihren offenen Kleinlastern herumkutschieren sind in sunnitischen Stadtvierteln gefürchtet. Viele Personen, die von ihnen in aller Öffentlichkeit gefangengenommen worden waren, fand man Tage später erschossen im Graben wieder mit deutlichen Spuren von Folter.

 

Die Badr Brigade „tun grundsätzlich was sie wollen“ so Pace gegenüber AP. „Sie verhaften Leute, foltern Leute, exekutieren Leute, halten Leute gefangen und erzwingen Lösegelder und sie tun dies alles völlig straffrei.“ In Verbindung mit den Selbstmordattentaten auf schiitische Zivilisten und Anschlägen auf schiitische Heiligtümer durch fundamentalistische Sunniten um Al-Sarkawi und Al Qaeda, drohen diese Aktivitäten das Land in einen Bürgerkrieg zu treiben.

„Der einfache Iraker hat absolut keinerlei Schutz vom Staat oder von den [Besatzungs-]be­hörden.“ Das Ausmaß an Gewalt sei seit der Invasion exponentiell gewachsen and das Land wurde auseinandergerissen im Hinblick auf seine sozialen Strukturen, ergänzte Pace in einem weiteren Interview.[8a]

 

Der neue Bericht von Amnesty International bestätigt Paces Ausführungen. Die Menschenrechtsorganisation macht zudem die Besatzungsmacht unmittelbar für das Agieren der Einheiten des Innenministeriums mitverantwortlich. Da US-Truppen häufig zusammen mit den Spezialkommandos operieren und diesen auch Gefangene übergeben, agierten sie als „Komplizen“, zumindest aber „grob fahrlässig.“[9]

Der neue, 48-Seiten lange AI-Bericht „Jenseits von Abh Ghraib – Internierung und Folter im Irak“ erschreckt mit Dutzenden von Berichten über die Misshandlung von Gefangenen durch US-Soldaten, durch die britische Armee und vor allem durch Einheiten des irakischen Innenministeriums. Mindestens 14.000 Menschen werden allein in den amerikanischen und britischen Gefängnissen festgehalten, die meisten ohne Anklage. Die Gefangenen sind weiterhin der Willkür ihrer Bewacher schutzlos ausgeliefert, es wurden keinerlei Vorkehrungen getroffen, die Misshandlungen und Folterungen verhindern könnten: Die Besatzungstruppen hätten aus dem Folterskandal von Abu Ghraib kaum Lehren gezogen, die Lage der Menschenrechte im Irak bleibe „düster“. Die USA haben angekündigt das Gefängnis Abu Ghraib zu schließen. Das Rote Kreuz forderte daraufhin erneut generellen Zugang zu den Häftlingen. Die Organisation interessiere sich weniger für den Ort der Inhaftierung als dafür, wie die Häftlinge behandelt würden, sagte eine Sprecherin.

 

Besatzung schürt sektiererische Gewalt

 

Die Welle der Gewalt nach dem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samarra verstärkte die Angst vor einem umfassenden Bürgerkrieg. Dutzende sunnitischen Moscheen waren bei Vergeltungsangegriffen z.T. erheblich beschädigt worden, über 1.000 Menschen wurden innerhalb einer Woche ermodert oder starben bei den Auseinandersetzungen.

So unklar wie die Urheberschaft des Anschlags auf das schiitische Heiligtum sind aber auch die Hintergründe der folgenden Racheakte. Neben den Gewaltakten von Schiiten an Sunniten und umgekehrt, gab es auch vielfältige Akte der Solidarität zwischen den Religionsgruppen. Führende schiitische Persönlichkeiten, wie Ayatollah Al Sistani und Muktader Al Sadr riefen ihre Anhänger auf, ihre Wut nicht an Sunniten auszulassen und auch die heiligen Stätten der Sunniten zu schützen. In Samarra und vielen anderen Städten gingen Hunderttausende Schiiten und Sunniten gemeinsam auf die Straße. Ihr Zorn richtete sich gegen die Besatzer, die sie direkt oder indirekt für die Bomben verantwortlich machten. Die meisten arabischen Kommentatoren sahen vor allem die irakische Regierung, in der islamistische Fanatiker und Milizenführer die wichtigsten Ministerien übernommen haben, als Drahtzieher der Unruhen. Auch die großen, von den USA und der Regierung gesponserten Medien, spielen offensichtlich eine entscheidende Rolle dabei, die „Atmosphäre mit sektiererischem Gift in Rausch zu versetzen,“ so die Zeitung Al-Quds Al-Arabi.[10]

Die US-Truppen blieben in ihren Kasernen. Sie wollten nicht durch ihre Präsenz noch mehr Gewalt provozieren, begründeten Sprecher der US-Armee die Weigerung ihren Verpflichtungen als Besatzungsmacht – für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen – nachzukommen. Diese Haltung werden sie, so US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, auch in Zukunft beibehalten. Sie widerlegten so selbst all die, die eine fortgesetzte Präsenz der Besatzungstruppen als notwendigen Schutz vor einem Bürgerkrieg verteidigen.

 

Wie Jonathan Steele vom Guardian feststellte, macht zwar vieles den Eindruck bürgerkriegsähnlicher Zustände, die Gewalt sei aber vorwiegend „von oben“ organisiert. „Pogrome im Balkanstil, wo Nachbarn sich gegen Nachbarn wenden, Häuser und Läden niederbrennen“ gab es bisher keine.“[11] Dies wird auch von der neuesten Studie der International Crisis Group ICG bestätigt, die sich sehr ausführlich mit den wachsenden innerirakischen Konflikten beschäftigt. Der Nato-nahe Think Tank mit Sitz in Brüssel befürchtet aber, dass aus dem schmutzigen Krieg von „kleinen Gruppen Aufständischer,“ die Schiiten töten und „gewissen Kommandoeinheiten der Regierung, die Vergeltungsaktionen gegen die sunnitisch-arabische Bevölkerung durchführen,“ durchaus ein echter Bürgerkrieg entstehen könnte.[12]

Untergründig habe es schon immer gewisse konfessionelle Gegensätze im Irak gegeben, aber nie stark ausgeprägt und vorwiegend auf kultureller Ebene so die ICG. Virulent wurden sie nur, wenn sie durch politische Kräfte für ihre Zwecke ausgenutzt wurden, um darüber mehr Anhänger zu gewinnen. Zu keinem Zeitpunkt hatte dies aber vor dem Einmarsch der US-geführten Truppen zu größeren Gewaltausbrüchen geführt.

Verantwortlich für die jetzt immer bedrohlichere Situation wird vor allem die Besatzungspolitik der USA gemacht. Sie setzten durch, dass „zum erstenmal in der Geschichte des Landes Konfession und Volkszugehörigkeit die formalen Organisationsprinzipien der Politik wurden.“ Auf diese Weise verhalfen sie mit den kurdischen und schiitischen Parteien Organisationen in die führenden Positionen, die ihre Ziele verfolgen, indem sie religiöse und ethnische Gegensätze auszunützen suchen – ein Phänomen dass, so die ICG, auch in anderen bewaffneten Konflikten, z.B. im ehemaligen Jugoslawien zu beobachten war.

Während die Besatzungsmacht Rücksicht auf die schiitischen Kräfte nahm, förderten sie die Marginalisierung der Sunniten und heizten deren Widerstand erst so richtig an, indem sie mit großer Brutalität gegen ihre Proteste vorgingen. Obwohl Schiiten die Mehrheit der Mitglieder in der Baath-Partei stellten, auch in den höheren Rängen, wurden überwiegend Sunniten Opfer der „De-Baathisierung“ die dadurch zu einer „Ent-Sunnifizierung“ wurde. [In den Händen der kurdisch-shiitischen Regierung ist die De-Baathisierung bis heute ein wichtiges Instrument gegen ihre politischen Gegner.]

Die kurdischen und schiitischen Parteien nutzten den Übergangsprozess sich entscheidende Machtpositionen zu sichern und ihre Interessen in der neuen Verfassung zu verankern, die zum „Bauplan zur Auflösung des Staates“ wurde.

 

In einer Flut von Studien malen auch andere renommierte Nahost- und Militärexperten derzeit ein düsteres Bild vom Irak und seinen Aussichten für die kommenden Monate und Jahre. Obwohl aus politisch unterschiedlichen Lagern, kommen sie übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass nicht nur Terroristen und Aufständische, sondern vor allem die Irak-Politik der US-Regierung und das Vorgehen der US-Armee im Land selbst für das Desaster verantwortlich sind. Wahlen, Referendum, Verfassung, Übergangsregierung: Was die US-Regierung als Meilensteine in der Entwicklung eines demokratischen, neuen Irak betrachtet, sind in den Augen der Experten nichts als kleine Schritte Richtung Bürgerkrieg.[13] 

US-Krieg gegen irakische Städte

Wenig Aufmerksamkeit widmen Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen den vielfältigen Verstößen gegen Menschenrechte und humanitärem Völkerrecht durch die Besatzungstruppen im Krieg den sie im Westen und Norden des Iraks führen. Weitgehend auch unbeachtet von den großen Medien führten die US-Truppen im Sommer letzten Jahres mehrere Großoffensiven gegen die nordirakische Stadt Tal Afar durch. Luftwaffe und Artillerie legten dabei ganze Stadtviertel in Schutt und Asche, Hunderte Frauen, Männer und Kinder kamen ums Leben oder wurden verwundet. Die meisten der 200 000 Einwohner flohen. Zuvor waren Samarra, Bakuba, Qaim, Hit, Haditha Opfer ähnlicher Angriffe geworden. Falludscha liegt seit November 2004 in Trümmern. Wie arabische Journalisten berichten, zählten häufig die Krankenhäuser zu den ersten Zielen bei den Angriffen.

Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung warf den US-geführten Streitkräften vor in Fallujah, Tal Afar, Samarra und zahlreichen anderen Städten vor, zur Vorbereitung der Angriffe die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln und Wasser unterbrochen zu haben, um so die Einwohner vor Beginn von Offensiven zur Flucht zu bewegen. Teilweise mussten die Betroffenen wochenlang in der Wüste ausharren, nur notdürftig versorgt durch benachbarte Orte und irakische Hilfsorganisationen. Diese Dramen „spielen sich in völliger Stille im Irak ab, wo die Besatzungskräfte der Koalition Hunger und Wasserentzug als Kriegswaffe gegen die Zivilbevölkerung einsetzen“, so Ziegler bei einer Pressekonferenz in Genf.[14] 

Die verheimlichte Zahl der Opfer

Genaue Zahlen, wie viel Opfer der Krieg und die Besatzung bisher auf irakischer Seite forderten, gibt es nicht. „Wir zählen keine Leichen“ antwortete General Tommy Franks, der Oberkommandierende der US Army, auf eine diesbezügliche Frage. Dem irakischen Gesundheitsministerium wurde sogar ausdrücklich untersagt, entsprechende Informationen herauszugeben

 

Eine realistische Schätzung liefert eine Studie, die im Oktober 2004 im renommierten medizinischen Fachjournal The Lancet veröffentlicht wurde. Der Vergleich von Todesfällen vor und nach der Invasion ergab, dass – selbst bei vorsichtigster Interpretation der Daten – hochgerechnet 98.000 irakische Zivilisten in den ersten 18 Monaten an den Folgen des Krieges und der Besatzung starben. Die meisten Todesfälle waren auf Gewalteinwirkung zurückzuführen, hauptsächlich auf Angriffe der US-Luftwaffe und Artilleriefeuer der alliierten Bodentruppen. Die meisten Opfer waren Frauen und Kinder.[15]

Obwohl die Methode der Studie an sich unumstritten ist und ihr von anderen namhaften Wissenschaftler hohe Qualität und wissenschaftliche Korrektheit bescheinigt wurde, wiesen die meisten westlichen Medien die brisanten Ergebnisse als nach eigener Einschätzung zu hoch zurück.[16]

Entgegengehalten wurden ihr die weit niedrigeren Zahlen des „Iraqi Body Count“-Projekts, das aber nur die wenigen Todesfälle erfasst, über die in englischsprachigen Medien berichtet wurde, sowie die Ergebnisse der UNDP-Studie. Diese schätzte auf Basis ihrer Umfrage die Zahl der „kriegsbezogenen“ Todesfälle im Zeitraum März 2003 bis April 2004 auf ca. 24.000.

 

Doch die Ergebnisse der beiden statistischen Untersuchungen widersprechen sich nicht. Der Unterschied liegt allein darin, dass die UNDP „kriegsbezogen“ sehr eng auf Opfer unmittelbarer Kampfhandlungen beschränkte. Berücksichtigt man bei der Lancet-Studie ebenfalls nur Fälle direkter militärischer Gewalt und rechnet die Zahlen der UNDP-Studie auf 18 Monate hoch, so ergeben beide Studien für diesen Zeitraum die Zahl von etwa 33.000 getöteten Zivilisten.[17] Iraqi Body Count wiederum bestätigt ein anderes wesentliches Ergebnis der Lancet-Studie: Nicht Terroristen und Widerstandsgruppen, sondern die Besatzungstruppen sind für den größten Teil der gewaltsamen Todesfälle verantwortlich.

 

Bei der Lancet-Studie waren die Daten aus Falluja, wo die meisten Todesfälle gefunden wurden, als möglicherweise untypisch, bei der Berechnung nicht berücksichtigt worden. Bezieht man diese mit ein, so erhöht sich die Schätzung der Opfer auf 285.000. Diese dürfte angesichts vieler weiterer Städte, die seither von verheerenden militärischen Offensiven heimgesucht wurden, näher an der Wahrheit liegen, als die veröffentlichten 98.000. Mittlerweile haben sich, so steht zu befürchten, die Zahlen verdoppelt haben und wir müssen davon ausgehen, dass 200.000 bis 500.000 Iraker ihre fragwürdige „Befreiung“ mit dem Leben bezahlen mussten.[18]



[1] Dahr Jamail, „Wer kann, verläßt den Irak“, junge Welt, 08.11.2005:

[2] Iraq Living Conditions Survey 2004, UNDP, 12 May 2005 http://www.iq.undp.org/ILCS/overview.htm

[3]Audit Describes Misuse of Funds in Iraq Projects“, NYT, 25.1.2006, „Audit: Iraq fraud drained $1 billion“, Knight Ridder Newspaper“, 11.8.2005, „Money for Nothing – Billions of dollars have disappeared, gone to bribe Iraqis and line contractors’ pockets“, The American Conservative, 24.10.2005

[4] Dave Whyte, “The corporate plunder of Iraq”, Socialist Worker, 11.2.2006

[5] siehe das Kapitel „Der Multi-Milliardenraub“ in „Im Treibsand Iraks“, IMI-Studie 2004/03 August 2004

[6] Iraq war could cost US over $2 trillion, says Nobel prize-winning economist, Guardian, 7.1.2006, „Ätzende Abrechnung mit dem Irakkrieg“, telepolis, 10.01.2006

[7]Ex-Official: Iraq Abuses Growing Worse“, AP, 2.3.2006 und „Iraq's death squads: On the brink of civil war“, Independent, 26.2.2006

[8] Heiko Flottau, „Die Sprache der Wunden“, Süddeutsche Zeitung, 9.3.2006

[8a] „Former UN Human Rights Chief in Iraq Says US Violating Geneva Conventions, Jailing Innocent Detainees“

Interview With John Pace, Democracy Now!, 28.2.2006

[9] Beyond Abu Ghraib: Detention and Torture in Iraq, AI Report, 6.3.2006
siehe auch: „Amnesty: USA zogen keine Lehren aus Abu Ghraib - 14.000 ohne Strafverfahren in Haft“, Der Standard, 7.3.2006, „Amnesty attacks 'dire' Iraq abuse“, BBC NEWS, 6.3.2006

[10] J. Guilliard, Kein Glaubenskrieg -- Ziel des Anschlags auf die Goldene Moschee in Samarra: die Torpedierung des Einigungsprozesses der Besatzungsgegner, junge Welt, 03.03.2006

[11] Jonathan Steele, „Civil strife is not the only conflict for Iraq's Shias“, The Guardian, 3.3.2006

[12]The Next Iraqi War? Sectarianism and Civil Conflict“, ICG, Middle East Report N°52 – 27.2.2006

 Die gut 30 Seiten starke Studie ist, wie auch die früheren Abhandlungen der ICG sehr fundiert und daher auch wenn man die Zielsetzung des transatlantischen Think Tanks nicht teilt sehr zu empfehlen.

[13]Neue Studien – Experten-Ohrfeigen für Bushs Irak-Politik“, Spiegel, 9.3.2006

[14] US troops starving Iraqis, says UN, Al Jazeera/Reuters, 14.10.2005, ziemlich kurz im STANDARD: „UNO-Kommission wirft Besatzungstruppen Aushungerung von Zivilisten vor“, 14.10.2005

[15] Les Roberts, Riyadh Lafta, Richard Garfield, Jamal Khudhairi, Gilbert Burnham, „Mortality before and after the 2003 invasion of Iraq“, The Lancet, 29.10.2004

[16] J. Guilliard, „Die verheimlichten Opfer im Irak“, Ossietzky 4/2006

[17] Milan Rai, a.a.O.

[18] Andrew Cockburn, a.a.O.