Saddam nach Den Haag!
von Uri Avnery

www.uri-avnery.de / ZNet Deutschland 18.12.2003

Das Spektakel war ekelhaft.
„Freue dich nicht über den Fall deines Feindes, und dein Herz sei nicht froh über sein Unglück. Der Herr könnte es sehen und Missfallen daran haben und seinen Zorn von ihm wenden.“ So gebietet ein alter jüdischer Moralkodex (Sprüche 24,16) Der Schreiber dieser Warnung wusste natürlich, dass sich jeder hämisch darüber freut, wenn sein Feind fällt. Aber er wollte darauf hinweisen, dass dies ein hässlicher menschlicher Zug sei und man versuchen solle, ihn zu überwinden.

Und nun ist eine mächtige Weltmacht auf dieses niedrige Niveau gefallen. Wiederholt wurde dieses Spektakel der amerikanischen Soldaten zur Schau gestellt, wie sie in den Haaren des erbärmlichen Saddam nach Läusen suchten und zwischen seinen Zähnen herumstocherten.

Falls es überhaupt möglich ist, mit einem Mann wie Saddam, der für den Tod von Hunderttausenden verantwortlich ist, Mitleid zu wecken, dann haben die Amerikaner dies erreicht. Indem sie ihn wie einen drogenbetäubten Landstreicher zeigten, haben sie genau das Gegenteil von dem zustande gebracht, was sie wollten. Der Vatikan hat um Gnade für ihn ersucht. Die öffentliche Demütigung eines arabischen Führers – egal, wie man über ihn denkt – weckt die tiefsten Gefühle der Beleidigung und des Zornes unter Zehn Millionen Arabern. Diese Gefühle werden eines Tages ihren Ausdruck in Gewalt finden. Sie werden viel, viel Blut kosten.

( Vor noch nicht langer Zeit schrieen die Amerikaner zum Gotterbarmen, als die Iraker einige amerikanische Gefangene zeigten. Aber es scheint in Washington DC keine Spiegel zu geben.)
Die kindische Story über den riesigen Erfolg der amerikanischen Armee und der Geheimdienste ist nur lächerlich. Es ist ziemlich sicher, dass es nur die Angelegenheit eines gut bezahlten Informanten war.

Ein geübtes Auge konnte leicht erkennen, wie die „spontanen“ Freudenausbrüche gestellt waren. Hier eine kleine Gruppe, die kommunistische Fahnen schwenkte, dort ein paar Dutzend Leute, die wie Affen vor den Kameras herumsprangen – wahrscheinlich dieselben Leute, die ein Jahr zuvor vor Saddams Kameras tanzten. Zwei arabische „Journalisten“ produzierten bei der sorgfältig inszenierten Pressekonferenz des amerikanischen Generals eine lärmende Show. Nachdem Winston Churchill einen schrecklichen Krieg gewonnen hatte, benahm er sich nicht wie George W. Bush. Nein, er ist kein Winston.

Ich habe in dieser Kolumne seit dem Ende der „Hauptfeindseligkeiten“ nicht über den Irak geschrieben. Ich habe mich beherrscht. Ich weiß, dass es weder nett noch weise ist, zu sagen: „Habe ich es euch nicht gesagt?“ Aber es ist sehr schwer, über den Irak zu schreiben, ohne diese sechs Wörter zu benützen, da fast alle Voraussagen in dieser Kolumne vor und während des Krieges sich erfüllt haben, eine nach der anderen. Zum Beispiel:

(Eins) Die Amerikaner überfielen den Irak, um dort zu bleiben

Sie überfielen ihn nicht wegen des „internationalen Terrors“. Auch nicht wegen der „Massenvernichtungswaffen“ - es ist das Öl, das sie dorthin zieht. Das Ziel der Vereinigten Staaten war nicht, Saddam zu stürzen und nach Hause zu gehen, sondern eine dauernde amerikanische Militärbasis in der arabischen Welt zu schaffen, in einem Land, das die zweitgrößten ausgewiesenen Ölreserven der Welt hat und das innerhalb der Reichweite der Ölreichtümer von Saudi Arabien und des Kaspischen Meeres liegt. Inzwischen ist auch ganz klar: Saddam hatte keinerlei Verbindungen zu Osama Bin-Laden. Die „Massenvernichtungswaffen“ existieren nicht. Die Amerikaner haben die Kriegsgründe nach dem Geschehen verändert. („Führe zuerst einen Krieg – danach finde einen Grund!“) Nun soll es darum gehen, Saddam zu eliminieren und Demokratie in den Irak zu bringen, Gut. Saddam ist nun zur Strecke gebracht worden – und die Amerikaner denken gar nicht daran, sich nach Hause zu bewegen. Die Wahlen könnten sofort stattfinden. Aber die Amerikaner verweigern dies. Sie wollen ihre Marionetten an Ort und Stelle halten, damit sie die Amerikaner auffordern können, für immer zu bleiben. Die amerikanische Besatzung wird lange, lange dauern. Sie ist nicht Mittel zum Zweck. Sie ist der Zweck.

(Zwei) Saddams Sturz wird nicht das Ende des Krieges sein. Es wird der Anfang sein

Die Voraussage hat sich nun in extremster Weise erfüllt. Kein Volk findet sich mit ausländischer Besatzung ab. Besatzung erzeugt Widerstand. Damals erinnerte ich an unsere Erfahrungen im Süd-Libanon. Die vordringenden Israelis wurden als Befreier willkommen geheißen; denn sie trieben die Palästinenser weg. Ein paar Monate später wurden sie von allen Seiten beschossen; denn sie gingen nicht nach Hause. Nach 18 Jahren und Tausend getöteten Soldaten, setzten sie sich – „mit eingezogenem Schwanz“ im Dunkel der Nacht ab. Die Amerikaner wollen diese einfache Lektion nicht lernen. Sie sehen sich nicht als Besatzer sondern als Befreier, die dem irakischen Volk Gutes tun wollen. Sie sind davon überzeugt, dass die Irakis ihnen gegenüber dankbar sind und sie lieben. Sie trösten sich mit einer von ihnen erfundenen Legende: es sind nicht irakische und arabische Freiheitskämpfer, die die Besatzungsarmee und ihre Kollaborateure angreifen, sondern die hartnäckigen Gefolgsleute des bösen Saddam. Aber nun ist der böse Saddam gefangen worden, und es scheint, dass er überhaupt keine Möglichkeit hatte, Operationen von seinem Rattenloch aus zu dirigieren. Saddams Gefangennahme müsste das Ende der Legende der hartnäckigen Loyalisten bringen. Der Irak befindet sich nun in einer klassischen Kolonialsituation. Ein ausländischer Eroberer beraubt die einheimische Bevölkerung ihrer natürlichen Ressourcen. Widerstandsgruppen, von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt, inszenieren gewalttätige Angriffe. Vor zweihundert Jahren haben solche Gruppen den mächtigen Napoleon in Spanien besiegt. Zu jener Zeit wurde der Ausdruck „Guerilla“ ( kleiner Krieg) geprägt. Was wird nun geschehen? Es ist leicht voraussagbar: während man auf Operationen des Widerstandes reagiert, wird die Besatzung immer brutaler. Das heißt auch, dass die Unterstützung durch die Bevölkerung für die Guerillas wachsen wird – und so weiter. Eine Gewaltspirale, die den Israelis nur allzu bekannt ist. So geschah es im Libanon. So geschieht es nun in den besetzten palästinensischen Gebieten. Die öffentliche Demütigung des besiegten Führers wird den Prozess nur beschleunigen.

(Drei) Ein besiegter Saddam wird viel gefährlicher sein als ein siegreicher.

Nun erhebt sich die Frage: was soll man mit dem Gefangenen tun? Die Amerikaner sagten schon, was sie mit ihm tun wollen: ihren irakischen Marionetten aushändigen. So kann er im Irak verurteilt und hingerichtet werden. Das wäre ein Fehler erster Klasse. Keiner würde an die Fairness einer solchen Gerichtsverhandlung glauben. Sie kann ja gar nicht fair sein , weil Saddam in einem fairen Prozess die öffentliche Plattform benützen würde, um seine eigenen Anklagen vorzubringen, und so würde er Hundert Millionen Araber und andere Muslime erreichen. Das beste wäre, man ließe ihn auf die Fidschi-Inseln entfliehen, wo er sein Leben ruhig zu Ende leben könnte wie Idi Amin in Saudi Arabien. Aber George W. Bush benötigt die weitergehende Demütigung Saddams für seine Wahlkampagne. Der einzig vernünftige Weg wäre jetzt, Saddam nach Den Haag zu bringen. In den Augen der Welt hat er Anspruch auf dieselbe Behandlung wie ein anderer politischer Massenmörder, Slobodan Milosevic. Wenn er anders behandelt wird, würde jeder Muslim zu recht den Verdacht schöpfen, dass es eine Doppelmoral gebe, eine für einen christlichen Europäer und eine für einen muslimischen Araber. Aber Bush wird so lange nicht zufrieden sein, bis die Leiche Saddams auf einem öffentlichen Platz Bagdads hängen wird – vielleicht auf demselben Platz, auf dem vorher die Statue stand, die dann bei einem sorgfältig arrangierten TV-Spektakel gestürzt wurde.

(vier) Die Rede darüber, die Demokratie zu bringen, ist heuchlerischer Unsinn

Um ihre Besatzung aufrecht zu erhalten, brauchen die Amerikaner ein unterstützendes lokales Regime. Um einen Terminus aus der Zeit des 2. Weltkrieges zu benützen: sie brauchen Quislinge. Als die Briten den Irak zu ihrem Protektorat machten, krönten sie Emir Faisal, einen Nachfahren der hashemitischen Familie aus Mekka. Um den Irak als ihr eigenes Protektorat halten zu können, müssen die Amerikaner ihre eigenen lokalen Agenten krönen. Wenn wirklich demokratische Wahlen abgehalten werden sollten, würden die amerikanischen Agenten im Nu hinausfliegen, falls sie nicht schon vorher gelyncht worden sind. Das ist selbstverständlich. Deshalb wird es keine demokratischen Wahlen geben. Allgemein gesagt: Demokratie kann nicht einfach irgendwohin „gebracht“ werden. Sie kann nicht in eine völlig andere Gesellschaft mit einer völlig anderen Kultur verpflanzt werden, als ob sie ein Baum wäre. Und ein Baum braucht fruchtbaren Boden. Die westliche Demokratie ist im Laufe von Jahrhunderten organisch gewachsen – aus der Dorfgemeinschaft zum nationalen Parlament. Sie unter Zwang in die irakische Gesellschaft einzupflanzen, die sich auf Stämme und Großfamilien ( Hamulah) und auf verschiedene Vorstellungen und Traditionen gründet, ist ein hoffnungsloses Unterfangen.

Was geschah der westlichen Demokratie, als sie in Japan implantiert wurde? Die äußeren Formen blieben intakt, die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Was geschieht mit der westlichen Demokratie in Russland? Frag einen Russen – und er wird in schallendes Gelächter ausbrechen.

(Fünf) Der Irak wird sich in seine Bestandteile auflösen

Als wir das vor einem Jahr sagten, sah es wie wilde Spekulation aus. Heute ist es eine sichere Wette. Nur ein brutaler Diktator wie Saddam war in der Lage, das Paket zusammenzuhalten. Vor der 1958er-Revolution taten dies die britischen Kolonialherren. In einer Demokratie hat dies keine Chance. Eine einfache Tatsache: Die Schiiten sind die Mehrheit. Sie werden regieren. Da gibt es gar keine Chance dafür, dass sie ein liberales Regime errichten werden, nachdem sie so lange von den Sunniten unterdrückt wurden. Es ist unmöglich, dass die Sunniten im Zentral-Irak, die die Schiiten verachten, ihre Übermacht akzeptieren. Es ist unmöglich, dass die Kurden im Norden, die immer für ihre Unabhängigkeit gekämpft haben, eine arabische Regierung akzeptieren – weder von den Schiiten noch von ihren Glaubensbrüdern, den Sunniten. Sie akzeptieren mit Mühe ihre kurdischen Brüder. Die Amerikaner können das Auseinanderfallen des Irak nur durch die Aufrechterhaltung eines offenen oder eines versteckten Besatzungsregimes verhindern. Sie könnten auch eine künstliche Struktur, eine Scheinföderation errichten, in der der Irak aus drei autonomen Teilen bestehen würde. Aber das würde reine Spiegelfechterei sein. Wenn der Irak aus praktischen Gründen zu existieren aufhören wird, wird es in der Region ein neues Gleichgewicht der Mächte geben. Jahrhundertelang hat der Irak als östlicher Schutzwall der arabischen Welt gedient, ein Bollwerk gegen den Iran – der niemals die Tage des Kyros (König von Persien, 539 v.Chr.) vergessen hat, als es (Persien) Regionalmacht war. Der Fall dieses Bollwerkes würde die geopolitische Situation der ganzen Region, auch Israels, ändern. Die Implosion des Irak würde ein Signal für allgemeine Anarchie sein: die arabische Welt würde in Aufruhr geraten, die islamischen Fundamentalisten würden die arabischen Regime bedrohen, die Grenze zwischen der Türkei und dem kurdisch-irakischen Staat würde sich aufheizen, zwischen Israel und Iran würde sich vielleicht eine nukleare Balance des Terrors halten, die Legende des „internationalen Terrors“ würde zur Realität werden.

Da es weder nett noch weise ist, zu sagen: „Das habe ich euch vorausgesagt“, sage ich es nicht.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)