Spirale der Dekadenz

Der Autor
Tahar Ben Jelloun ist einer der wichtigen arabischen Intellektuellen und als bedeutendster Vertreter der französischsprachigen Literatur des Maghreb. Er wurde 1944 in Marokko geboren und lebt seit 1971 in Paris, wo er regelmäßig für die Tageszeitung "Le Monde" schreibt. Den größten Erfolg hatte er mit seinem Buch "Papa, was ist ein Fremder?", in dem er seiner Tochter den Rassismus erklärt
Das irakische Volk wird eines Tages wissen, wie es sich seines Despoten zu entledigen hat

Von Tahar Ben Jelloun, FR 08.04.2003

Niemand beabsichtigt, die amerikanische Demokratie in Frage zu stellen. Dennoch ist die angezweifelte Wahl von George W. Bush ein aufschlussreiches Beispiel: Die Demokratie ist keine Technik, sie ist eine Kultur. Wenn ein Volk einen so unkultivierten Menschen wie Bush an seine Spitze wählt, einen unumstößlichen Partisan der Todesstrafe, einen ehemaligen, durch den Glauben geretteten Alkoholiker, kann man mit dem Schlimmsten rechnen. Und das Schlimmste ist bereits eingetreten, auch wenn es durch den 11. September beschleunigt wurde. Das Schlimmste ist der Triumph der Unwissenheit und der bequemen Gewissheiten. Es ist die Überzeugung, dass man selbst der Gute und der andere, der Fremde, der Böse ist. Es ist eine simplifizierende, verfälschende, eine Hass und Rassismus verursachende Mythologie. Bush ist überzeugt, die "Achse des Bösen" gefunden zu haben, dabei ist er nur der Achse der Dummheit zum Opfer gefallen.

Dass Bush nichts von der arabisch-islamischen Welt weiß, ist eine Sache. Beunruhigender ist indes, dass sogar seine Berater und Geheimdienste derart enorme Einschätzungsfehler machen angesichts der Notwendigkeit und des Ablaufs dieses absurden Irak-Kriegs. Wir haben es hier zu tun mit einer von Arroganz und Missachtung gekrönten Unfähigkeit, mit der Missachtung der irakischen Menschen, die tagtäglich ermordet werden, aber auch der Millionen von demonstrierenden Kriegsgegnern und einigen Staatschefs, die den Mut hatten, der Kriegstreiberei zu widerstehen.

All dies ist schon gesagt worden, aber Bush bleibt unerschütterlich. Er ist wie erstarrt in seiner als Gebet kaschierten Entschlossenheit. Er hat ein gutes Gewissen und schläft ohne Schlaftabletten. Auch Saddam hat keine Probleme beim Einschlafen, wie er neulich im Fernsehen sagte. Beide sind sie selbstsichere Menschen, die nur ihr Ziel im Auge haben, ohne das Geschrei der Volksmassen oder das Tuscheln ihrer Berater auch nur wahrzunehmen. Wenn Macht durch das Gesetz nicht kontrolliert wird, verwandelt sie sich in Brutalität. Wenn das Recht nicht beachtet, übertreten oder in seinen Prinzipien missachtet wird, beginnt die politische Regression und die Missachtung der demokratischen Grundprinzipien. Bushs Amerika verhält sich durch seine koloniale Invasion in Irak wie jeder anderer Schurkenstaat, der keine Werte, keine Moral und keine Kultur besitzt. Es ist in ein Land eingefallen, genauso wie Saddam in Kuwait eingefallen ist, um sich der Reichtümer einer Ölmonarchie zu bemächtigen. Dieser illegale, vom halben Planeten kritisierte Eingriff wird weltweit dramatische Folgen haben.

Saddam Hussein ist ein Machthaber, den niemand schätzt. In seinem Land wird er gefürchtet, nicht geliebt. Der Beweis dafür ist, dass er mit 100 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde. Diese Zahl ist Ausdruck der Angst und der Furcht vor Repressionen. Saddam ist ein Diktator, der für seine Brutalität und seinen Zynismus bekannt ist. Man darf ihn weder unterstützten noch schützen. Aber seit wann kümmern sich die mächtigen Staaten so sehr um Völker, die von ihren Diktatoren unterdrückt und misshandelt werden?

Erinnern wir uns, dass dieselben Vereinigten Staaten von Amerika mit Nixons und Kissingers Stimme im September 1973 in Chile interveniert sind, um den Sozialisten Salvador Allende zu ermorden, einen demokratisch gewählten Staatschef, den sie durch eine Militärjunta ersetzt haben mit einem General an der Spitze, der eine blutige Diktatur ausübte und Tausende von Chilenen verschwinden ließ. Ganz gleich was sich die internationale Justiz erhofft, Pinochet wird in seinem Bett sterben. Kissinger ebenfalls. Und nun will Bush also die Demokratie in Irak und der arabischen Welt einführen. Seltsame Demokratie, die mit Tonnen von Bomben und Explosionen auf Wochenmärkten über das Land kommt. Amerika verliert den Verstand. Die Nation weiß nicht mehr, wo ihr Herz und ihre Seele sind. Und der Glaube eines Fundamentalisten, der vor jeder Konferenz betet, wird sie nicht retten.

Die amerikanische und britische Armee ist in eine Hölle hineingeraten. Aus dem einfachen Grund, weil der Irak eine komplexe Gesellschaft ist und sich die Washingtoner Militärexperten in ihren Vorhersagen geirrt haben. Denn Bush hat nicht begriffen, dass die irakische Gesellschaft wie ein Clan aufgebaut ist. Der Chef kann ein Despot sein, in jedem Fall ist er der Vater, ein gehasster Vater zwar, aber niemals wird man Fremde um Hilfe bitten, um die Probleme in der eigenen Familie zu regeln. Deshalb werden die amerikanischen Soldaten nicht als Befreier begrüßt.

Die Iraker werden vor den Augen des Eroberers denjenigen, der sie so misshandelt hat, aus Stolz und Tradition nicht verstoßen, jedenfalls nicht in dem Ausmaß, wie es sich die Amerikaner erhofft haben. Bushs Amerika hat die Ohren verschlossen angesichts der warnenden Schreie derjenigen, die diese Tragödie vermeiden wollten. Ein Staatschef, der auf niemanden hört, nicht einmal auf den Papst, ist ein gefährlicher Chef. Längst stehen wir vor einem Katastrophenszenario: Es gibt nicht nur mehr und mehr zivile Opfer. Dieser ungerechte, illegale Krieg wird das ohnehin vorhandene Gefühl der Demütigung bei Arabern und Moslems nur verstärken. Die Islamisten werden diese Situation auszunutzen wissen. Sie werden sich auf ihre Art wieder bemerkbar machen. Bereits jetzt ist die Rede von mehreren tausend Kandidaten für Selbstmordattentate. Der Krieg wird von den schlechtesten Aspekten der Religion instrumentalisiert werden. Das ist ein sehr schlechtes Zeichen. Die Stimmung wird hochkochen, und der Fanatismus wird den Ton angeben. Das, was man nach dem 11. September fürchtete, tritt genau jetzt ein: Der Terrorismus wird sich verbreiten und zu genau jenem clash of civilizations führen, von dem Samuel Huntington spricht.

Den Rassismus werden wir ganz einhellig wieder auf der Straße antreffen. Man wird keinen Unterschied zwischen einem Moslem und einem Integristen, einem Juden und einem Israeli machen, und man wird auch alle Amerikaner in einen Sack stecken und ablehnen. Es wird keine Nuancen und keine Zweifel mehr geben. Derweil wird Saddam seine Position stärken, und die arabischen Regime der Region werden zittern.
Was wird das für Konsequenzen in den Nachbarländern haben? Bereits jetzt zeugen die Demonstrationen in der arabischen Welt von der Ablehnung Amerikas, des christlichen Westens und der arabischen Machthaber, die auf ihrem Boden die Soldaten der "Aggression gegen den Irak" beherbergen. Die Völker vertrauen nicht mehr ihren Staatsoberhäuptern. Sie sind empfänglich für den Fanatismus, vor allem die Jugend kann es kaum abwarten, einen radikalen Wandel in den arabischen Ländern auszulösen und ihre Seele an die Integristen zu verkaufen.

Der Islamismus wird weiter vorankommen, die Demokratie zurückweichen. Der Frieden zwischen Palästinensern und Israelis wird geopfert oder auf unabsehbare Zeit vertagt werden. Irak wird Umwälzungen erleben, die mit denen Jugoslawiens nach dem Tod Titos vergleichbar sein werden. Die Region wird sich neu strukturieren; nichts wird mehr so sein, wie es vorher war. Amerika wird eine politische Niederlage erleiden und ein großes Chaos hinter sich lassen. Und in Amerika selbst wird ein nicht unwesentlicher Teil dieses blutigen Chaos spürbar sein, denn die Nation hat sich in die Spirale der Dekadenz begeben.

Was bleibt zu tun, wenn das Recht versagt hat, die Diplomatie verworfen wurde und niemand die weisen und vernünftigen Worte hat hören wollen? Was gilt es zu tun, damit das Recht wieder die Oberhand über diese vom Furor ergriffenen Männer bekommt? Bleiben noch die Vereinten Nationen, diese "Maschine", von der Charles de Gaulle sprach, sie könnten ihre Rolle spielen, indem sie alle Nationen vereinigen und die USA und Großbritannien zwingen würden, dieses finstere, koloniale Abenteuer abzubrechen; gleichzeitig müssten sie das Embargo aufheben, von dem Saddam allein profitiert hat, und es diesem totgesagten Volk erlauben, den Frieden wiederzufinden und die nötige Kraft, um sich selbst die Demokratie zu geben, die es wünscht. Es wird das irakische Volk sein, das wissen wird, wie es sich seines Despoten zu entledigen hat.

Aus dem Französischen von Martina Meister.




[ document info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Erscheinungsdatum 08.04.2003