Pragmatische Außenpolitik, unerträgliche Propaganda
Der iranische Präsident und die Haltung Teherans zum Staat
Israel. Was Ahmadinedschad wirklich sagte und was nicht.
Von Knut Mellenthin
http://www.jungewelt.de/2006/04-07/001.php
Ein Aufschrei von Abscheu und Empörung ging Ende
Oktober vorigen Jahres durch alle westlichen Medien und Parlamente.
Auch der Bundestag kannte, frei nach Kaiser Wilhelm II, plötzlich keine
Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Auf einem Kongreß mit dem
Titel »Eine Welt ohne Zionismus« hatte der iranische Präsident Mahmud
Ahmadinedschad gesagt: »Israel muß von der Landkarte getilgt werden.«
Als hätte das nicht gereicht, spannen Medien und Politiker den Faden
noch selbstständig weiter: Ahmadinedschad habe die »Auslöschung«
Israels angekündigt, mit Israels »Zerstörung« gedroht, die Absicht zur
»Vernichtung« des jüdischen Staates offenbart. Das Urteil der Experten
stand sofort fest: »genozidaler Antisemitismus«. Ahmadinedschad ist der
neue Hitler, wie vor ihm schon Saddam Hussein und Slobodan Milosevic.
Die Erfahrung lehrt, daß das als Kriegsgrund völlig ausreicht. Der
israelische Regierungssprecher Raanan Gissin brachte die Sache auf den
Punkt: »Es wird keine zweite Endlösung geben. Gott sei Dank verfügt
Israel über die Mittel, um das extremistische Regime Irans scheitern zu
lassen.« Der Sprecher des Weißen Hauses formulierte es so:
Ahmadinedschads Äußerungen hätten einmal mehr deutlich gemacht, wie
wichtig die Zusammenarbeit der internationalen Gemeinschaft sei, um
Iran von der Entwicklung atomarer Waffen abzuhalten.
Das Zitat, das es nicht gab
Es ist einigermaßen überraschend, wenn man feststellt, daß
Ahmadinedschad den überall zitierten Satz, Israel müsse von der
Landkarte getilgt werden, gar nicht wirklich gesprochen hat. Offenbar
hat sich die westliche Welt in kollektive Autosuggestion versetzt,
indem einer vom anderen den Satz abschrieb und kaum jemand sich
wirklich die Rede des iranischen Präsidenten angesehen hat.
Holen wir das hier also nach. MEMRI hat am 28. Oktober 2005 eine etwas
gekürzte Übersetzung der Rede auf Englisch veröffentlicht, an die wir
uns halten können. Die Abkürzung steht für Middle East Media Research
Institute. Das Hauptquartier des Unternehmens befindet sich in
Washington; daneben gibt es derzeit Büros in Berlin, London, Tokio und
Jerusalem. MEMRI unterhält einen großen Mitarbeiterstab, der
Zeitungsartikel, Reden und andere Texte überwiegend aus der arabischen
Welt und dem Iran übersetzt und an politische Multiplikatoren, wie etwa
Abgeordnete und Redakteure, verschickt. Der Gründer von MEMRI war
jahrelang Offizier des israelischen Geheimdienstes und Berater mehrerer
israelischer Präsidenten. Insider vermuten, daß die umfassenden
Übersetzungstätigkeiten von MEMRI die eine entsprechend breite
Lektüre der wichtigsten arabischen und iranischen Zeitungen
voraussetzen ohne Mithilfe staatlicher israelischer Stellen kaum zu
leisten wären. Jedenfalls, worauf es in diesem Zusammenhang ankommt:
MEMRI liefert hochwertige, kompetente Übersetzungen und ist über den
Verdacht erhaben, Ahmadinedschads Äußerungen beschönigen zu wollen.
Der entscheidende Abschnitt der Rede von Ahmadinedschad beginnt mit der
rhetorischen Frage: »Werden wir eine Welt ohne Amerika und Zionismus
erleben können?« Er zählt dann eine Reihe von Gegnern auf, deren Ende
von Ajatollah Khomeini, dem religiösen Führer Irans nach der
»islamischen Revolution« von 1979, vorausgesagt wurde. Das Muster ist:
Es habe sich jeweils um starke, unbesiegbar erscheinende Gegner
gehandelt, aber schließlich seien sie doch zusammengebrochen. Die
Aufzählung beginnt mit dem Schah-Regime. An zweiter Stelle folgt »der
östliche Imperialismus«, das heißt die Sowjetunion und ihr
Machtbereich. An dritter Stelle steht Saddam Hussein. An vierter Stelle
folgt dann das auf Israel bezogene Zitat, dessen wirklicher Wortlaut
lautet: »Der Imam (Khomeini) hat gesagt: Das Regime, das Quds
(arabischer Name Jerusalems) besetzt hält, muß von den Seiten der
Geschichte gestrichen werden. Dieser Satz ist sehr weise. Das Thema
Palästina ist keines, bei dem wir Kompromisse machen können.«
Die innere Logik und der Zusammenhang der vier angeführten Beispiele
läßt es absolut nicht zu, an »Auslöschung« und »Vernichtung« im Sinn
aggressiver Absichten Irans oder gar eines Genozids zu denken. Im
Wesentlichen geht es um politische Prozesse und um die Auf- und
Ablösung herrschender Strukturen. Daß der iranische Präsident von einer
»Welt ohne Amerika« sprach, unterstreicht diese Schlußfolgerung.
Gemeint war damit sicher nicht die »Auslöschung« der US-Bevölkerung,
sondern die Zerstörung des US-Imperialismus. Also ein nicht ganz
unsympathisches Ziel.
Die iranische Führung hat stets betont, daß sie nicht die Absicht hat,
irgend jemand militärisch anzugreifen. Sie verweist dabei darauf, daß
Iran in den letzten 250 Jahren keine Aggression begangen habe. Sicher
gilt das, wenn man nicht ganz so weit in der Geschichte zurückgehen
will, für die Zeit seit der »islamischen Revolution« von 1979. Die
iranische Führung hat nicht einmal zu militärischen Drohungen oder
kriegerischer Rhetorik gegen irgend jemand, auch nicht gegen Israel,
gegriffen. Im selben Zeitraum haben die Regierungen der USA und Israels
mehr als ein Dutzend mal sehr konkret und laut über Militärschläge
gegen Iran »nachgedacht«. Und jedem Realisten muß klar sein, daß es
sich dabei nicht um eng begrenzte »chirurgische Operationen« gegen ein
paar Atomanlagen handeln würde. Sondern diese wären zwangsläufig, wenn
sie denn überhaupt Sinn machen sollen, der Auftakt zu einem langen
Luftkrieg gegen alle sozialen und wirtschaftlichen Strukturen Irans
mit vielen tausend Toten.
Doppelmoral des Westens
Im Iran empfindet man es deshalb als typischen Ausdruck der Doppelmoral
der Großmächte, insbesondere des Westens, daß der UNO-Sicherheitsrat
sofort zusammentrat, um die Äußerungen Ahmadinedschads aufs
Allerschärfste zu verurteilen. Gleiches hat das Gremium gegenüber den
vielfachen konkreten Drohungen und Absichten der USA und Israels gegen
Iran »natürlich« noch niemals getan. Als Ausdruck der herrschenden
Doppelmoral in den internationalen Beziehungen interpretiert man im
Iran auch, daß Israel das einzige Land der Welt ist, dem es seit
nunmehr 39 Jahren straffrei gestattet wird, unter Verletzung der
UN-Charta und zahlreicher UN-Resolutionen fremdes Land zu besetzen und
stückweise zu annektieren. Und während die palästinensische Hamas jetzt
unter massiven Druck gesetzt wird, »das Existenzrecht Israels
anzuerkennen«, löst die explizite Ankündigung der israelischen
Regierung, demnächst wesentliche Teile des besetzten Westjordanlands
endgültig zu annektieren, in den westlichen Hauptstädten noch nicht
einmal milde verbale Proteste aus.
Freilich könnte man argumentieren, daß die iranischen Versicherungen,
keine aggressiven Absichten gegen Israel oder ein anderes Land zu
hegen, nicht unbedingt den Tatsachen entsprechen müssen. Iran verfügt
jedoch über keine nennenswerten offensiven Kapazitäten, schon gar nicht
für einen Angriff auf Israel, mit dem es keine gemeinsame Grenze hat
und von dem es in Luftlinie mindestens 1000 Kilometer (vom westlichsten
Punkt Irans aus) entfernt ist. Israel besitzt außerdem mit
schätzungsweise 100 bis 200 Atomwaffen auf unterschiedlichen
Trägersystemen eine ungeheure Abschreckungs- und
Vernichtungsstreitmacht. Und es könnte sich, falls es dennoch
angegriffen würde, zusätzlich auch auf die bedingungslosen
Sicherheitsgarantien sämtlicher US-Regierungen seit Kennedy verlassen.
Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen und darf nicht
verschwiegen werden, daß einige Äußerungen von Ahmadinedschad zum Thema
Israel nicht nur politisch problematisch, sondern unerträglich waren.
Was dies angeht, war nach der relativ strategisch angelegten Rede vom
28. Oktober eine makabre Eskalation zu beobachten, die auf eine
irrationale Obsession des Präsidenten mit dem Thema hindeutet.
Zunächst noch einmal zu der schon zitierten Stelle seiner Rede. Ist mit
dem »Regime, das Quds besetzt hält«, nur Israels Herrschaft über die
seit 1967 besetzten Gebiete gemeint? Eine solche Deutung ist eher
unwahrscheinlich. Aus dem Sprachgebrauch Khomeinis, auf den sich
Ahmadinedschad bezog, ist zu schlußfolgern, daß es sich bei dem Begriff
um eine Umschreibung Israels handelt: Man vermeidet die Nennung des
Namens, da allein darin schon eine unerwünschte Legitimierung des
Staates gesehen wird. Aus zahlreichen weiteren Äußerungen nicht nur des
Präsidenten, sondern auch anderer iranischer Politiker wird klar, daß
es tatsächlich darum geht, Israels Existenzrecht zu bestreiten und
seine Auflösung zu propagieren. Ob das politisch klug ist, muß sehr
bezweifelt werden. Selbst auf die Hamas als palästinensischen
Verbündeten könnte Iran dabei wohl kaum zählen.
Wie war das noch mit der DDR?
Dennoch ist diese Position von Genozid-Absichten weit entfernt. Und sie
ist in den internationalen Beziehungen weder ganz außergewöhnlich noch
widerspricht sie explizit der UN-Charta, sofern sie nicht mit
militärischen Aggressionsdrohungen verbunden ist. Beispielsweise: Die
Regierung und die herrschenden Kräfte der westdeutschen Bundesrepublik
haben fast zwei Jahrzehnte lang die Legitimation und das Existenzrecht
der Deutschen Demokratischen Republik vehement bestritten. Bis in die
60er Jahre hinein haben sie versucht, ihren Standpunkt mit
erpresserischen Mitteln Stichwort Hallstein-Doktrin und
»Alleinvertretungsanspruch« international durchzusetzen. Auch die
SPD-geführten Regierungen seit 1969 haben sich, wenn man den Wortlaut
der Ostverträge genau studiert, mit der Existenz der DDR nur bedingt
arrangiert und sich mit Formulierungs- und Deutungstricks jederzeit die
Option zur »Wiedervereinigung«, das heißt faktisch zur Einverleibung
der DDR, offengehalten. Die DDR wurde, das war schließlich das
Ergebnis, tatsächlich »aus der Geschichte gestrichen«, um Khomeini und
Ahmadinedschad zu zitieren. Das ist zwar beklagenswert, aber nach
internationalem Recht kein Grund für eine Ächtung der BRD oder gar für
militärische Strafmaßnahmen mit oder ohne UNO-Mandat.
Weitere Beispiele: »Ausgelöscht«, »aus der Geschichte gestrichen« und
sogar um die gar nicht gefallene Äußerung zu zitieren »von der
Landkarte gewischt« wurden in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren
auch die Sowjetunion, Jugoslawien und nicht zu vergessen die
Tschechoslowakei. Und das bestimmt nicht ohne Zutun der USA und ihrer
Verbündeten. Erinnert sei an US-Präsident Ronald Reagan, der die
Vernichtung des »Reichs des Bösen« ganz offen als oberstes
strategisches Ziel formulierte.
Zweifellos die Grenze des politisch und ethisch Zulässigen
überschritten hat Ahmadinedschad jedoch mit seinem Plädoyer für die
Zwangsaussiedlung der jüdischen Bevölkerung Israels nach Europa oder
Nordamerika. Erstmals sprach er das Thema am 8. Dezember 2005 an, als
er sich zu einem Gipfeltreffen der islamischen Staaten in Mekka
aufhielt. Indem er Zweifel an der historischen Realität des Holocaust
andeutete, sagte Ahmadinedschad: »Wenn ihr meint, die Juden seien
unterdrückt worden, warum sollten die palästinensischen Moslems dafür
bezahlen? Ihr habt sie unterdrückt, also gebt dem zionistischen Regime
einen Teil Europas...Also, Deutschland und Österreich, kommt her und
gebt ein, zwei oder sonst wieviele eurer Provinzen dem zionistischen
Regime, damit es dort seinen Staat errichten kann. So würde das Problem
an seinen Wurzeln gelöst.«
In einer Rede am 14. Dezember in der südiranischen Stadt Zahedan
weitete Ahmadinedschad seinen makabren Appell darauf aus, der Westen
solle den Juden Land in Europa, den USA, Kanada oder Alaska zur
Staatsgründung zur Verfügung stellen. Man hätte die darin enthaltene
Frage vielleicht mit einigem Grund und Recht 1945 diskutieren können.
Heute jedoch stellen solche Äußerungen seien sie nun wirklich ernst
gemeint oder als frivoles provokatorisches »Spiel« zu verstehen
objektiv einen Aufruf zu einer »ethnischen Säuberung« größten Stils dar
und sind selbstverständlich ohne Einschränkung abzulehnen. Sie
entsprechen weder der Politik relevanter palästinensischer
Organisationen noch der offiziellen iranischen Position.
In seiner Rede in Zadehan bezeichnete Ahmadinedschad den Holocaust
erstmals als »Mythos«. Das Wort wurde in den westlichen Medien sofort
zu »Märchen« verfälscht, verbunden mit der Behauptung, der iranische
Präsident habe den Holocaust geleugnet. Tatsächlich hatte er das, liest
man die Rede daraufhin genau, nicht getan. Das Wort »Mythos« hatte er
dort ungefähr in dem Sinn benutzt wie es Norman G. Finkelstein in
seiner These der »Holocaust-Industrie« verwendet: Der Holocaust als
Legitimierung nicht nur für die mit militärischer Gewalt erzwungene
Staatsgründung auf Kosten der arabischen Bewohner Palästinas, sondern
auch für die seit 1967 anhaltende Besetzung der Westbank und bis zum
vorigen Jahr auch des Gazastreifens.
Auch zu diesem Thema überschritten aber mehrere iranische Sprecher
wenn auch nicht der Präsident selbst inzwischen die Grenze des gerade
noch Diskutablen bei weitem. So behauptete beispielsweise der Direktor
der Abteilung für Iranische Studien, Abbas Salimi Namin, am 18. Februar
laut Nachrichtenagentur IRNA, »daß die Zionisten die internationale
Gemeinschaft betrügen, indem sie das nichtreale Massaker an sechs
Millionen Juden benutzen«. Schon vorher hatte laut IRNA vom 23.
Dezember ein hochrangiger Geistlicher in der Provinz Fars den Holocaust
als »reine Lüge« bezeichnet.
Einladung an Holocaust-Leugner
Die Reihe unerträglicher Entgleisungen gipfelte Anfang Januar in der
Ankündigung einer Holocaust-Konferenz, die eine »freie und
demokratische Plattform für Historiker« bieten sollte. Aus dem Kontext
ging hervor, daß in erster Linie den notorischen rechtsextremen
Holocaust-Leugnern wie Horst Mahler, Robert Faurisson, David Irving
(der zur Zeit allerdings in Österreich im Gefängnis sitzt) und Israel
Shamir eine Plattform geboten werden sollte. War die Initiative anfangs
vom Verband muslimischer Journalisten ausgegangen, so übernahm etwas
später sogar das Außenministerium die Schirmherrschaft für die
Konferenz. Außenamtssprecher Hamid Resa Asefi, für seine nicht immer
kontrollierten Sprüche bekannt, verstieg sich zu der maßlosen Aussage:
»Ich glaube, daß die vom zionistischen Regime begangenen Verbrecher
größer sind als der Holocaust.« (nach Al Dschasira vom 12. Februar)
Allerdings ist seit Mitte Februar, also seit gut sechs Wochen, der
Strom solcher schändlichen und abstoßenden Äußerungen vollständig
versiegt. Der Präsident hat das Thema seither nicht wieder
angeschnitten, und es ist sogar zu hoffen, daß die wahnsinnige Idee der
»Holocaust-Konferenz« zu Grabe getragen worden ist. Ahmadinedschads
Vorgänger, Mohammad Khatami, sagte der israelischen Tageszeitung
Haaretz vom 2. März zufolge: Die Wirklichkeit des Holocaust müsse
anerkannt werden, »auch wenn diese historische Realität mißbraucht
worden ist und ein enormer Druck auf dem palästinensischen Volk liegt«.
»Die Verfolgung der Juden, ebenso wie der Nazismus, ist ein westliches
Phänomen. Hier im Osten haben wir immer Seite an Seite gelebt. Und
unsere Religion gebietet uns, daß der Tod eines unschuldigen Menschen
so schwer wiegt wie der Tod der ganzen Menschheit.« Es ist bekannt,
daß Khatami die Protektion der obersten religiösen Autorität, des
Ajatollah Khamenei, hat.
Bleibt zu hoffen, daß es sich nicht nur um eine opportunistische Abkehr
von Positionen handelt, die Irans Feinden unschätzbares
Propagandamaterial geliefert haben, sondern um eine grundlegende
Besinnung zu einem Thema, das keinerlei Frivolität und Provokation
verträgt.