Jugoslawien
Fünf Jahre nach dem Überfall

Ralph Hartmann
Ossietzky 5/2004

Bald jährt sich zum fünften Mal der Tag, es war Mittwoch, der 24. März 1999, an dem NATO-Kampfflugzeuge von ihren Flugbasen in den USA, in Deutschland, Italien, Bosnien, Mazedonien, Ungarn und von den im Mittelmeer kreuzenden Flugzeugträgern starteten, um pünktlich um 20 Uhr MEZ ihre Raketen und Bomben in jugoslawische Ziele zu bringen. Deutsche Tornados flogen in der ersten Staffel. Sie trugen am Rumpf das gleiche Balkenkreuz wie einst die Stukas, die im April 1941 über Jugoslawien herfielen und Belgrad in Schutt und Asche legten. Dieses Mal währte der Krieg gegen Jugoslawien nicht vier Jahre, sondern nur 78 Tage, an denen jedoch mehr Sprengstoff eingesetzt wurde als während des ganzen Zweiten Weltkrieges gegen das damalige wesentlich größere jugoslawische Königreich. Die Folgen des Dauerbombardements sind der Öffentlichkeit in den NATO-Staaten bis heute kaum bekannt: Tausende Frauen und Männer, Kinder und Greise wurden erschlagen, die Infrastruktur und ganze Bereiche der Wirtschaft zerstört, die Umwelt schwer geschädigt.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es Dutzende von Kriegen gegeben, an deren Folgen noch heute Menschen leiden. Von all diesen Kriegen war der gegen Jugoslawien, unter der Tarnbezeichnung »Kosovo-Krieg« in die vorherrschende Geschichtsschreibung eingegangen, der feigste: Eine hundertfach überlegene Militärallianz fiel über ein relativ kleines Land her. Ausschließlich aus der Luft, selbst nahezu unangreifbar, säte sie mit High-Tech- und international geächteten Waffen Tod und Verderben. Vorbereitet war dieser Krieg mit dreisten Lügen, die zu seiner Rechtfertigung endlos wiederholt wurden. Der sozialdemokratische deutsche Militärminister verbreitete Greuelmärchen, der grüne deutsche Außenminister machte aus der Zerstörung von Chemieanlagen in der Nähe von Großstädten eine humanitäre Tat, und ein Balkan-Korrespondent der ARD klärte die Schuldfrage so: Er habe »nicht geglaubt, daß Milosevic sein Land in die Steinzeit zurückbomben lassen wird«. In all dieser absichtsvollen Verwirrung zauderten und schwankten sogar entschiedene Kriegsgegner, weil sie befürchteten, als Fürsprecher eines angeblichen Diktators, des zum zweiten Hitler gescheitelten Milosevic, zu gelten. Die Dämonisierung eines Volkes, der Serben, und seines Präsidenten gelang so perfekt, daß nur wenige Deutsche wagten, gegen die NATO-Angreifer zu protestieren, ohne gleichzeitig die Angegriffenen zu verurteilen und dadurch dem Protest die Schärfe und Wirksamkeit zu nehmen.

Dieser Krieg – das ist die Hauptsache, an die zu erinnern ist – war nach 1945 der erste Krieg in Europa, geführt gegen einen souveränen Staat von einer angeblichen Verteidigungsallianz, die unter der Führung Clintons, Blairs und Schröders das Völkerrecht zertrampelte. Es war der erste Krieg, an dem sich die Bundesrepublik Deutschland offen beteiligte, gegen einen Staat der Antihitlerkoalition, dem die Regierenden beim Anschluß der DDR feierlich versichert hatten, ihn niemals wieder militärisch zu bedrohen oder gar anzugreifen.

Die Aggression verfolgte viele Ziele. Das einzige Land in Europa, in dem die rote Fahne, wenn auch arg zerschlissen, immer noch wehte und das sich gegenüber der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds widerspenstig gezeigt hatte, sollte endgültig zerschlagen, die Osterweiterung der NATO vorangetrieben und der traditionelle Einfluß Rußlands auf dem Balkan zurückgedrängt werden. Doch nicht allein deshalb hatten die USA das humanitäre Völkerrecht außer Kraft gesetzt, die Charta der Vereinten Nationen, die KSZE-Schlußakte und selbst das eigene Bündnisstatut grob verletzt. Es ging ihnen um weitaus mehr: ihre globalen Hegemonialansprüche zu demonstrieren, die neue NATO-Strategie durchzusetzen und zu erproben, das Völkerrecht der Gleichberechtigten dauerhaft durch das Gewaltrecht der Stärkeren zu ersetzen und der Welt vor Augen zu führen, daß politische Unbotmäßigkeit nicht hingenommen, sondern hart und falls erforderlich auch präventiv bestraft wird.

Unmittelbar nach dem letzten Raketenangriff – die NATO-Luftarmada flog mehr als 32 000 Einsätze gegen Jugoslawien – erklärte der damalige NATO-Oberbefehlshaber, General Wesley Clark, daß der Krieg gegen Jugoslawien »ein ganz entscheidender Präzedenzfall für das kommende Jahrhundert« gewesen sei. Dieses Jahrhundert ist gekommen, und mit ihm kamen ganz nach dem jugoslawischen Muster seine ersten Kriege: gegen Afghanistan und den Irak. Weitere werden folgen, und Deutschland wird sich daran beteiligen, wenn nicht gerade wichtige Wahlen anstehen und die Meinung des Volkes gefragt sein sollte. Zu diesem Zweck hat Scharpings Nachfolger Struck in seinem neuen strategischen Konzept für die Bundeswehr die Bildung von »Einsatzkräften« vorgesehen, die »mit hoher Intensität« in »allen Dimensionen (Land-, Luft-, See-, Welt- und Informationsraum) operieren« sollen. »Mögliches Einsatzgebiet ist die ganze Welt«, und wir erinnern uns bei diesen Worten des deutschen Angriffsministers an die alte Melodie »Und heute gehört uns Deutschland und morgen...«

Vorerst hat sich die deutsche Armee nach ihrer Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien, mit der sie die Tür zur neuen deutschen Militär- und Eingreifdoktrin weit aufgestoßen hat, im Süden des Landes, in Kosovo, fest einquartiert, und tagtäglich wird im dortigen Soldatensender das Lied von der Lili Marleen ausgestrahlt. Mittlerweile wird es von unseren Jungs auch an der deutschen Verteidigungslinie am Hindukusch gesungen. Und wo wird es morgen erklingen?

Nachdem der UN-Sicherheitsrat am 10. Juni 1999 die Resolution 1244, mit der die Terrorangriffe gegen Jugoslawien beendet wurden, verabschiedet hatte, feierte das deutsche Parlament das Ende eines Krieges, den die Bundesrepublik Deutschland nie erklärt und der amtlich gar nicht begonnen hatte. Noch Tage nach dem Beginn des NATO-Angriffskrieges hatten sich die Regierenden geweigert, überhaupt zuzugeben, daß Deutschland Krieg führte. Nun jedoch, da der Krieg zu Ende war und sich die rosa-grüne Regierung auf der Seite der Sieger sah, mußte man nicht mehr leugnen, Krieg geführt zu haben. Sieger kennen keine Scham. Fischer und Scharping bejubelten den gewonnenen Krieg. »Der Stolz der Sieger« – so überschrieb die Berliner tageszeitung ihren Bericht – »stand ihnen ins Gesicht geschrieben.« Die Bündnispartner feierten sich ebenso. Großbritanniens Premier Tony Blair sprach gar von einem »Sieg der Zivilisation. Das Gute hat über das Böse triumphiert.«

Ein reichliches Jahr später – in Belgrad war mit umfassender NATO-Unterstützung die von Slobodan Milosevic geführte Sozialistische Partei (SPS) gestürzt worden – erlebte die Siegesfeier eine Neuauflage. In einer Sonderdebatte des Bundestages wurde »die friedliche, demokratische und freiheitliche Revolution in Belgrad« stürmisch begrüßt und schlankweg als Ergebnis des NATO-Krieges dargestellt. Nach den Worten des Hauptredners Fischer war der Angriffskrieg, er umschrieb ihn vornehm als »Eingreifen«, »richtig« und »notwendig«; ohne ihn »hätte es garantiert nicht einen Sieg der Demokratie in Belgrad gegeben«.

Was aber hat die politische Wende dem Volk in Serbien gebracht? Welches Bild bietet das Land fünf Jahre nach dem Krieg und dreieinhalb Jahre nach dem großen »Sieg der Demokratie«?

Wer für den Befreiungskampf der Völker Jugoslawiens gegen die Hitlerwehrmacht und ihre enormen Aufbauleistungen nach 1945 Hochachtung empfand, kann jetzt nur mit Bestürzung sehen, daß Jugoslawien auch dem Namen nach von der politischen Landkarte getilgt ist. An seine Stelle ist unter dem erpresserischen Druck der EU ein amorphes Staatsgebilde mit dem Namen »Serbien und Montenegro« getreten, in dem nur noch die Außenpolitik, die Verteidigung und einige Wirtschaftsangelegenheiten mehr oder weniger gemeinsam betrieben werden. Es gelten unterschiedliche Währungen: in Serbien der Dinar und in Montenegro der Euro. Zwischen beiden Teilen bestehen Zollgrenzen.

Kosovo, laut der schon erwähnten UN-Resolution 1244 integraler Bestandteil Jugoslawiens, ist ein von der NATO okkupiertes und von der UNO verwaltetes Gebiet. Seit Beginn des NATO-Krieges, begründet mit einer angeblich geplanten ethnischen Vertreibung der albanischen Bevölkerung, wurden 250 000 Serben, Roma und andere Nichtalbaner vertrieben. In der Gebietshauptstadt Pristina, wo einst 40 000 Serben lebten, werden noch 150 gezählt. Sie sind in einem einzigen, von KFOR-Soldaten streng bewachten Gebäude zusammengepfercht und können es nur unter militärischem Schutz verlassen. Die Stadt ist judenfrei. Auch in anderen Orten Kosovos leben die wenigen verbliebenen Serben wie in Ghettos. Seit Juni 1999 wurden 6000 Angriffe auf Serben registriert, jeder sechs­ te forderte Todesopfer. Alles, was an die fast tausendjährige Geschichte des Gebietes erinnert, wird systematisch ausgelöscht. 117 Klöster und Kirchen sind inzwischen zerstört. Der seit sieben Jahrhunderten bestehende, seit Juni 1999 dreifach bewehrte Sitz des Patriarchen der Serbischen Orthodoxen Kirche in Pec wurde wiederholt angegriffen. In der Stadt Pec und Umgebung lebten vor dem Krieg 32 000 Serben, jetzt ist ihre Zahl an den Fingern abzuzählen. NATO-Politiker unterstützen die Bestrebungen der albanischen Separatisten nach völliger Abtrennung des Gebietes von Serbien. Einer von ihnen, Michael Steiner, hat im vergangenen Jahr kurz vor Übergabe seines Amtes als Chef der UN-Verwaltung, die eigentlich für die Einhaltung der UN-Resolution 1244 zu sorgen hat, eine schöne Albanerin als seine zukünftige Gattin vorgestellt und gewissermaßen als Brautgeschenk das südserbische Gebiet Kosovo mit Albanien zu einer Zollunion zusammengeführt.

Im sogenannten engeren Serbien ist wie überall im ehemaligen Jugoslawien die Restauration kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse weit vorangeschritten. Das Privatisierungsgesetz vom Mai 2001 versetzte der jugoslawischen Selbstverwaltung den Todesstoß, enteignete das Volk und verschleuderte die Betriebe in einer Art Sommerschlußverkauf an private Unternehmer; die wertvollsten wurden Beute ausländischer Konzerne. Das metallurgische Werk SARTID in Smederevo, erst 1999/2000 mit Investitionen von 250 Millionen Dollar modernisiert, wurde, einschließlich großer Liegenschaften und des Donau-Hafens, von der US-amerikanischen Firma US Steel für ganze 23 Millionen Dollar erworben. Die US-Firmen Philip Morris und British American Tobacco rissen die führenden serbischen Zigarettenfabriken in Nis und Vranje an sich. Die vier größten serbischen Banken (Beobanka, Jugobanka, Investbanka, Beogradska Banka) wurden geschlossen und durch private Banken ersetzt. Beim ausländischen Zugriff auf das Bankensystem erwies sich die österreichische Raiffeisenzentralbank am geschicktesten. Wie in anderen ehemaligen sozialistischen Ländern gerieten die meisten Zeitungen inzwischen in die Hände ausländischer Aktionäre und Verlage. Die Politika , die traditions- und einflußreichste Zeitung, befindet sich nun im Besitz der deutschen WAZ -Gruppe (deren Chef Bodo Hombach Schröders Balkan-Beauftragter war). Die Auslandsschulden haben die Rekordsumme von zwölf Milliarden Dollar und damit das Zweieinhalbfache des jährlichen Exportvolumens erreicht. Allein 2002 betrug das Außenhandelsdefizit rund 4,5 Milliarden Dollar.

Die imperialistischen Staaten haben zwar nur Kosovo besetzt, regieren aber im ganzen Land. Der Staat »Serbien und Montenegro« steht unter kaum verdeckter Fremdherrschaft. Im Hintergrund schalten und walten, steuern und erpressen die Weltbank und der IWF, die USA, die EU und die NATO, die westlichen Banken und Konzerne sowie nicht zuletzt das Haager Jugoslawientribunal und seine umtriebige Chefanklägerin Carla del Ponte. Im beleuchteten Vordergrund, auf der politischen Bühne, agiert ein Bündnis aus 18 Parteien, die Demokratische Opposition Serbiens (DOS), das im Herbst 2000 die Regierungsgeschäfte übernahm und danach eine politische Tragikomödie aufführte. Bisherige Hauptdarsteller waren Vojislav Kostunica, der lange Zeit populäre, als patriotisch geltende Vorsitzende der Demokratischen Partei Serbiens (DSS), bis zur Auflösung der Bundesrepublik Jugoslawien deren Präsident, und Zoran Djindjic, Lieblingsserbe des Westens, Vorsitzender der Demokratischen Partei (DS) und Ministerpräsident Serbiens bis zu seiner Ermordung im März 2003. Vor den Augen der erstaunten und immer mehr erzürnten serbischen Bürger wurde in dem Theaterstück unter Djindjics Regie alles vorgeführt, was zu einem deftigen Politikspektakel gehört: Verleumdungen, Beleidigungen bis hin zu Tätlichkeiten im Parlament, Drohungen, Erpressungen, ungeklärte politische Morde, Wahlbetrügereien und -boykotte, Mandatsentzug für ordentlich gewählte Parlamentarier der DSS und Ersetzung durch Anhänger der DS, Inhaftierung und geheimdienstlich organisierte Entführung des Ex-Präsidenten Milosevic unter Bruch der Verfassung nach Den Haag, Mißachtung des Verfassungsgerichtes, Suspendierung verfassungstreuer Richter, mehrfach fehlgeschlagene Präsidentschaftswahlen, sechswöchiger Ausnahmezustand nach der Ermordung Djindjics mit Massenrazzien, 10 000 willkürlichen Inhaftierungen und totaler Pressezensur, monatelanges politisches Vakuum ohne Präsident, ohne Parlament und gewählte Regierung.

Das Volk, auf die Zuschauertribüne verbannt, war des üblen Spiels, des Gerangels um Einfluß, Macht und Pfründe im vergangenen Dezember endlich überdrüssig. In vorgezogenen Neuwahlen erhielten die sogenannten Demokraten die Quittung. Die Partei der Djindjic-Nachfolger erreichte 12,58 Prozent, Kostunicas DSS 17,72 Prozent der Stimmen. Dagegen kam die Radikale Partei auf 27,61 Prozent. Die von allen Seiten verfemte, durch Abspaltungen geschwächte SPS wurde mit 7,6 Prozent zum Zünglein an der Waage. Mit ihrer Duldung kam eine Minderheitsregierung unter Kostunica zustande, der niemand ein langes Leben prophezeit.

Ausschlaggebend für das Wahlergebnis waren der Abscheu gegen das erbärmliche Schauspiel, das die neue politische Elite bot: Es hatte zwar einen gewissen Unterhaltungswert, machte aber die Menschen nicht satt. Nach den ökonomischen Sanktionen der 90er Jahre, zerstörerischem Krieg und dem Mißmanagement der DOS-Regierung, die unmittelbar nach der Machtübernahme alle Sozialisten und ihnen Nahestehenden aus den Leitungsfunktionen vertrieben und durch eigene, meist unqualifizierte Anhänger ersetzt hatte, liegt die Wirtschaft am Boden. Die Arbeitslosenquote beträgt nach offiziellen Angaben 32 Prozent. Während der Wohlstand einer kleinen Oberschicht rasant wächst, leben große Teile der Bevölkerung in tiefer Armut.

Verklungen ist »Jugoslavijo, Jugoslavijo!«, der Hit einer bekannten Pop-Sängerin namens Lepa Brena (die schöne Brena). Daß auf serbischen Boden nun das Lied von der Lili Marleen erklingt, symbolisiert die Veränderungen im Herzen des Balkan.

URL: http://www.sopos.org/aufsaetze/406178db24ae2/1.phtml