[Veranstaltung mit Jeff Halper]    [home]

 

Krieg gegen Gaza - Opferbilanz

Palästinensisches Gesundheitsministerium veröffentlicht Bilanz der israelischen Offensive »Sommerregen«. Illegale DIME-Waffe auch im Libanon getestet?
Von Andrea Bistrich
junge Welt, 23.10.2006 / Ausland / Seite 7

Fast vier Monate Krieg: 290 getötete Zivilisten, darunter 135 Kinder und 35 Frauen, und 4350 Verletzte – das ist die traurige Bilanz seit Beginn der israelischen Militäroperation »Sommerregen« Ende Juni im Gazastreifen, die das palästinensische Gesundheitsministerium unlängst in einem Bericht veröffentlichte. Darin hieß es unter anderem auch, israelische Apache-Helikopter und F16-Kampfjets feuerten illegale Munition ab – mit abgereichertem Uran versehen und Metallsplittern gefüllt –, und israelische Drohnen würden chemische Waffen abwerfen, die starke Verbrennungen verursachen. Das palästinensische Gesundheitsministerium hatte daraufhin umgehende Untersuchungen dieser Fälle gefordert.
Tödliche Waffentests
Diese Aussagen decken sich auch mit einer Dokumentation, die das italienische Fernsehen RAInews24 seit Mitte Oktober mehrfach ausgestrahlt hat. In dem Film wird von ernstzunehmenden Indizien gesprochen, denen zufolge die israelische Armee in Gaza mit der neuartigen Waffe DIME (Dense Inert Metal Explosive) experimentiere (siehe jW vom 17. und 18. Oktober). Mittlerweile haben palästinensische Ärzte zahlreichen internationalen Medien gegenüber geschildert, was sie in den Monaten Juli und August in den Notfallambulanzen beobachtet und dokumentiert haben. Das Schifa-Krankenhaus in Gaza veröffentlichte Fotos, die Abtrennungen der unteren Gliedmaßen sowie zusammengeschrumpfte und schwarze Körper zeigten.

Der israelische Militärexperte Professor Isaac Ben-Israel kommentierte gegenüber junge Welt, ihm erschienen »die Berichte der palästinensischen Ärzte wie Sciencefiction«. Ben-Israel war von den italienischen Fernsehreportern zu DIME befragt worden. Auf jW-Nachfrage hin erklärte er nun: Das RAI-Team habe ihn zwar befragt, aber nicht zu DIME, sondern zu dem Konflikt mit der Hisbollah im Libanon. »Ich habe […] erklärt, daß eine der Lektionen, die wir im Libanon gelernt haben, die Notwendigkeit ist, spezielle Waffen zur Eindämmung von Kollateralschäden zu entwickeln«, sagte Ben-Israel. Gegenüber der britischen Tageszeitung The Guardian behauptete er, niemand in Israel habe jemals eine Waffe wie DIME entwickelt. Eine solche Waffe, so Ben-Israel, existiere nicht. Daß US-Laboratorien seit Jahren an dieser Waffe arbeiten, darüber schweigt der frühere Leiter des israelischen Waffenentwicklungsprogramms, der neben zahlreichen anderen Auszeichnungen zweimal – 1972 und 2001 – mit dem israelischen Verteidigungsorden für seine Verdienste in der Entwicklung von speziellen Waffensystemen geehrt wurde.

Offiziell befindet sich DIME noch in der Testphase. Ein mit Wolframpulver gefülltes Kohlefasergehäuse im Projektil ersetzt ein gewöhnliches Schrapnell aus Metall. Die Explosion von DIME gilt im Vergleich zu anderen Waffen als extrem kraftvoll und tödlich, und beschränkt sich ihren Entwicklern zufolge auf einen Raum von nur wenigen Metern.

Die entsetzlichen Bilder aus Gaza werfen möglicherweise auch ein Licht auf die von der libanesischen Regierung geäußerten Anschuldigungen, Israel habe im 34-Tage-Krieg gegen den Libanon im Juli und August unkonventionelle, illegale Waffen eingesetzt. Tel Aviv hatte dies bisher verneint. Dennoch: Die Bilder von geschwärzten und offensichtlich unter starker Hitzeeinwirkung geschrumpften Körpern in Gaza und im Libanon weisen Parallelen auf. Die Genetikprofessorin Paola Manduca von der Universität Genua, Italien, hatte bereits im August von einer »makabren Art von Experiment für die zukünftige Kriegsführung« gesprochen und Toxikologen, Pharmakologen, anatomische Pathologen, Chemiker und Ärzte mit Expertenwissen über Traumata und Verbrennungen zur Zusammenarbeit in dieser Sache aufgerufen (Kontakt: nuovearmi@gmail.com).
Kriegspropaganda
Während die einen vor verheerenden Militärschlägen in den besetzten Gebieten warnen und auf Untersuchungskommissionen zur Aufklärung von Kriegsverbrechen an palästinensischen und libanesischen Zivilisten drängen, hoffen andere auf weitere Testmöglichkeiten für das tödliche »Spielzeug« vom wichtigsten Waffenlieferanten – USA. »Es wird Zeit, daß wir unsere Augen öffnen für die Gefahren, die uns umgeben«, beschwor die Jerusalem Post ihre Leser am vergangenen Mittwoch. Israel müsse sich rüsten, angesichts des Hasses, der ihm von allen Seiten entgegenschlägt – »von Beirut und Damaskus im Norden, über Teheran im Osten und Gaza im Süden«. Israel müsse jetzt handeln: »Die Regierung tut gut daran, über die Möglichkeiten eines Erstschlags mit weitreichenden Militäroperationen nachzudenken. Unsere Feinde rüsten sich in aller Öffentlichkeit für einen Krieg – warum sollten wir ihnen den Luxus gönnen, auch noch bestimmen zu können, wann er losgeht?« so die Post. Besorgniserregend ist, daß in nahezu allen online veröffentlichten Leserbriefen – bis auf einige wenige stammen sie aus den USA und Israel –, diese Ansicht geteilt wird.

* Siehe auch Interview mit Zvi Bentwich