[home]

 

Was will Israel?

von Ilan Pappe, 
Haifa
, 14 July 2006

Original: "What Does Israel Want?", http://electronicintifada.net/v2/article5003.shtml

* Dr. Ilan Pappe, Jahrgang 1954, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Haifa und Leiter des dortigen Instituts für Konfliktforschung. Er schrieb mehrere Bücher über den arabisch-israelischen Konflikt, u.a. "The Making of the Arab-Israeli Conflict" (London and New York 1992), "A History of Modern Palestine" (Cambridge 2003), "The Modern Middle East" (London and New York 2005) "Ethnic Cleansing of Palestine" (2006)


Stellen Sie sich eine Gruppe hochrangiger Generäle vor, die über Jahre Szenarien eines dritten Weltkrieges simulieren, in denen sie riesige Armeen umherziehen lassen und die raffiniertesten Waffen einsetzen können, die sie zur Verfügung haben und die dabei die Immunität computerisierter Hauptquartiere geniessen, von denen aus sie ihre Kriegsspiele führen können. Stellen Sie sich nun vor, man habe sie dahingehend informiert, dass kein dritter Weltkrieg stattfinde und ihre Fachkenntnisse nun gebraucht würden, um Ruhe in einige der nahegelegenen Slums zu bringen oder um mit der rapide zunehmenden Kriminalität in sozial unterprivilegierten Gemeinden fertig zu werden. Und dann stellen Sie sich – als letzte Episode meiner phantasierten Krise – vor, was geschieht, wenn sie darauf kommen, wie irrelevant ihre Pläne gewesen sind und wie nutzlos ihre Waffen sind im Kampf gegen die Gewalt in den Strassen, die durch soziale Ungleichheit, Armut und Jahre der Diskriminierung in der eigenen Gesellschaft hervorgerufen worden ist. Entweder gestehen sie ihr Versagen ein oder sie entschliessen sich, das gewaltige und zerstörerische Arsenal, das ihnen zur Verfügung steht, trotzdem zum Einsatz zu bringen. Heute sind wir Zeugen des verheerenden Schadens, den israelische Generäle anrichten, die sich für die zweite Vorgehensweise entschieden haben.

Soll Krieg zum Selbstzweck werden?

25 Jahre lang habe ich an israelischen Universitäten gelehrt. Einige meiner Studenten waren hochrangige Offiziere der Armee. Ich konnte ihre zunehmende Frustration seit dem Ausbruch der ersten Intifada von 1987 mitverfolgen. Sie verabscheuten diese Art der Konfrontation, die von den Gurus des amerikanischen Studienfaches «Internationale Beziehungen» beschönigend «Konflikte niedriger Intensität» genannt wurde. Für ihren Geschmack war sie zu niedrig. Sie waren mit Steinen, Molotow-Cocktails und primitiven Waffen konfrontiert, die nur einen sehr begrenzten Einsatz des riesigen Arsenals erforderten, das die Armee im Laufe der Jahre angehäuft hatte, und das Funktionieren ihrer Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld oder im Kriegsgebiet wurden dabei nicht auf die Probe gestellt. Selbst wenn die Armee Panzer und F-16 Kampfjets einsetzte, war das alles weit entfernt von den Kriegsspielen, welche die Offiziere des israelischen Generalstabes in ihren Hauptquartieren spielten – und für die sie mit dem Geld der amerikanischen Steuerzahler die höchstentwickelten und modernsten Waffen kauften, die es auf dem Markt überhaupt gibt.
Die erste Intifada wurde niedergeschlagen, aber die Palästinenser suchten weiter nach Wegen, um der Besetzung ein Ende zu setzen. 2000 erhoben sie sich wieder, diesmal von einer religiöseren Gruppe nationaler Führer und Aktivisten inspiriert. Aber es handelte sich noch immer um einen «Konflikt niedriger Intensität» und um nichts mehr. Das war aber nicht das, was die Armee erwartete, sie sehnte sich nach einem «richtigen» Krieg. Wie Raviv Druker und Offer Shelah, zwei israelische Journalisten mit engen Verbindungen zur Armee, im kürzlich erschienenen Buch Boomerang (Seite 50) zeigen, beruhten die wesentlichen militärischen Übungen vor der zweiten Intifada auf dem Szenario eines ausgewachsenen Krieges. Man hatte prophezeit, im Falle eines weiteren Aufstandes der Palästinenser gäbe es drei Tage «Unruhen» in den besetzen Gebieten, die dann zu einer Frontalkonfrontation mit den benachbarten arabischen Staaten, in erster Linie Syrien, führen würden. Man argumentierte, eine solche Konfrontation sei nötig, um Israels Abschreckungspotential aufrechtzuerhalten und das Vertrauen der Generäle in die Fähigkeit ihrer Armee zu stärken, einen konventionellen Krieg führen zu können.
Die Frustration wurde unerträglich, als die in der Übung vorgesehenen drei Tage zu sechs Jahren wurden. Und dennoch kreist die hauptsächliche Vorstellung der israelischen Armee vom Schlachtfeld noch immer um die Strategie des «shock and awe» [der kurzen, überwältigenden, «ehrfurchtgebietenden» Strategie «Schock und Ehrfurcht», wie sie die USA im Irak einsetzten], und weniger darum, Heckenschützen, Selbstmordattentäter oder politische Aktivisten zu jagen. Der Krieg «niedriger Intensität» stellt die Unbesiegbarkeit der Armee in Frage und unterhöhlt ihre Fähigkeit, einen «richtigen» Krieg zu führen. Wichtiger aber als alles andere ist die Tatsache, dass es Israel damit nicht möglich ist, seine Vorstellung vom Land Palästina unilateral durchzusetzen – ein [entarabisiertes] Land ohne Araber und überwiegend in jüdischer Hand. Die meisten arabischen Regimes waren selbstgefällig und schwach genug, um die Israeli beim Verfolgen ihrer Politik gewähren zu lassen – abgesehen von Syrien und der Hizbollah in Libanon. Diese müssen ausser Gefecht gesetzt werden, wenn der israelische Unilateralismus Erfolg haben soll.
Nach Ausbruch der zweiten Intifada im Oktober 2000 durften sie einen Teil der Frustration abreagieren durch den Abwurf von 1000-Kilo-Bomben auf ein Haus in Gaza oder während der Operation «Defense Shield» von 2002, als die Armee das Flüchtlingslager von Jenin mit Bulldozern zerstörte. Aber auch das war weit entfernt von dem, was die stärkste Armee des Nahen Ostens zu tun in der Lage wäre. Und trotz der Dämonisierung der Form des Widerstandes, den die Palästinenser in der zweiten Intifada wählten – die Selbstmord­attentäter – brauchte man nur zwei oder drei F-16 und eine geringe Anzahl Panzer, um die Palästinenser kollektiv zu bestrafen, indem man ihre menschliche, wirtschaftliche und soziale Infrastruktur vollständig zerstörte.

Nichts weniger als die totale Zerstörung Libanons, Syriens und Teherans

Ich kenne diese Generäle so gut, wie sie jemand überhaupt kennen kann. Letzte Woche hatten sie ihren grossen Tag. Schluss mit dem wahllosen Einsatz von 1-Kilo-Bomben, von Schlachtschiffen, Hubschraubern oder schwerer Artillerie: Ohne Zögern akzeptierte der schwache und unbedeutende neue Verteidigungsminister, Amir Peretz, die Forderung der Armee, den Gaza-Streifen zu vernichten und Libanon zu Staub zu zermalmen. Aber das ist womöglich nicht genug. Es kann immer noch in einen ausgewachsenen Krieg mit der glücklosen Armee Syriens ausarten, und meine ehemaligen Studenten könnten sogar mit provokativen Aktionen auf eine solche Möglichkeit drängen. Und glaubt man, was in der hiesigen Presse steht, könnte es sogar zu einem Krieg mit dem entfernten Iran eskalieren – unter amerikanischer Protektion von höchster Stelle.
Selbst die einseitigsten Berichte, die in der israelischen Presse darüber erschienen, was die Armee der Regierung von Ehud Olmert als mögliche Operationen für die kommenden Tage vorschlug, machen deutlich, was die israelischen Generäle zurzeit so begeistert: Nichts weniger als die totale Zerstörung Libanons, Syriens und Teherans.
Die höchsten Politiker sind bis zu einem gewissen Grad zahmer. Sie haben das Verlangen der Armee nach einem «Konflikt hoher Intensität» nur teilweise befriedigt. Aber ihre Tagespolitik ist bereits von militärischer Propaganda und Argumentation eingenommen. Daher konnte der israelische Aussenminister, Zipi Livni, ein ansonsten kluger Mann, am 13. Juli 2006 im israelischen Fernsehen ernsthaft sagen, der beste Weg, um die zwei gefangenen Soldaten zurückzuholen, «ist die vollständige Zerstörung des internationalen Flughafens von Beirut». Entführer und Armeen, die zwei Kriegsgefangene haben, werden natürlich sofort hingehen und für die Kidnapper und die zwei Soldaten am internationalen Flughafen ein im Handel erhältliches Billett für den nächsten Flug kaufen. «Aber sie [die Entführer] könnten sie [die Soldaten] mit einem Auto hinausschmuggeln», insistierte der Fragesteller. «O ja, gewiss», antwortete der israelische Aussenminister, «deshalb werden wir auch alle Strassen zerstören, die aus dem Land führen.» Das sind gute Nachrichten für die Armee, um Flughäfen zu zerstören, Benzintanks in Flammen zu setzen, Brücken in die Luft zu jagen, Strassen zu beschädigen und der Zivilbevölkerung Kollateralschäden zuzufügen. Auf jeden Fall kann die Luftwaffe ihre «wirkliche» Macht demonstrieren und die frustrierenden Jahre des «Konflikts niedriger Intensität» wettmachen, in denen die Besten und Wildesten Israels ausgeschickt wurden, um in den Gassen von Nablus oder Hebron Knaben und Mädchen nachzurennen. In Gaza hat die Luftwaffe bereits fünf solcher Bomben abgeworfen, von denen sie in den letzten sechs Jahren nur eine niedergehen liess.
Das könnte den Armeegenerälen aber nicht genügen. Am Fernsehen sagen sie schon deutlich: «Wir hier in Israel sollten Damaskus und Teheran nicht vergessen.» Frühere Erfahrungen sagen uns, was sie mit diesem Appell gegen unsere kollektive Amnesie meinen.
Die gefangenen Soldaten in Gaza und in Liba­non sind bereits gestrichen von der hiesigen öffentlichen Tagesordnung. Es geht darum, die Hizbollah und Hamas ein für alle Mal zu zerstören, und nicht darum, die Soldaten nach Hause zu holen. Ganz ähnlich hat die israelische Öffentlichkeit im Sommer 1982 das Opfer völlig vergessen, das der Regierung von Menachem Begin die Rechtfertigung für die Invasion in Libanon lieferte. Es war Shlomo Aragov, Israels Botschafter in London, auf den eine palästinensische Splittergruppe einen Anschlag verübte. Der Angriff auf ihn diente Ariel Sharon als Vorwand dafür, in Libanon einzumarschieren und dort 18 Jahre zu bleiben.

Die USA für Israel – Israel für die USA

Alternative Konfliktverläufe werden in Israel gar nicht aufgebracht, nicht einmal von der zionistischen Linken. Niemand erwähnt Ideen, die einem der gesunde Menschenverstand eingibt, wie den Austausch von Gefangenen oder den Beginn eines Dialoges mit der Hamas und anderen palästinensischen Gruppen – wenigstens während eines längeren Waffenstillstandes, um den Boden für zukünftige, sinnvollere politische Verhandlungen zu legen. Dieser alternative Weg nach vorn wird bereits von allen arabischen Ländern unterstützt, aber leider nur von ihnen. In Washington mag Donald Rumsfeld einige seiner Stellvertreter im Verteidigungsministerium verloren haben, aber er ist noch immer der Minister. Für ihn wird die vollständige Vernichtung der Hamas und der Hizbollah – zu welchem Preis auch immer und sofern es ohne Verlust amerikanischen Lebens geht – die Existenzberechtigung seiner Dritt-Welt-Theorie «bestätigen», die er zu Beginn des Jahres 2001 propagierte. Für ihn ist die gegenwärtige Krise ein berechtigter Kampf gegen eine kleine Achse des Bösen – weg vom Morast des Irak – und ein Vorläufer für die im Kampf gegen den Terror bisher nicht erreichten Ziele – Syrien und Iran. Wenn das Imperium im Irak tatsächlich bis zu einem gewissen Grad dem Vertreter diente, so zeigt die vollumfängliche Unterstützung, die Präsident Bush der gegenwärtigen Aggression in Gaza und Libanon gibt, dass nun möglicherweise die Zeit der Entlöhnung gekommen ist: Nun soll der Vertreter das verwickelte Imperium retten.
Die Hizbollah verlangt den Teil des südlichen Libanon zurück, den Israel noch immer besetzt hält. Ausserdem möchte sie in der libanesischen Politik eine bedeutende Rolle spielen, und sie zeigt ideologische Solidarität sowohl mit dem Iran als auch mit dem palästinensischen Kampf im allgemeinen sowie dem der Islamisten im besonderen. Die drei Ziele haben sich nicht immer gegenseitig ergänzt, was in den vergangenen sechs Jahren zu eher begrenzten kriegerischen Anstrengungen gegenüber Israel geführt hat. Die völlige Wiederbelebung des Tourismus auf der israelischen Seite der Grenze zu Libanon bezeugt, dass die Hizbollah ihre Gründe hatte, auf Grund derer sie – anders als die israelischen Generäle – mit dem Konflikt niedriger Intensität sehr zufrieden ist. Falls eine umfassende Lösung der palästinensischen Frage erreicht wird, würde selbst dieser Impuls aussterben. 100 Meter in das eigentliche Israel einzudringen ist eine solche Aktion. Der Umstand, dass eine solch mässige Operation mit totalem Krieg und Zerstörung vergolten wird, lässt klar erkennen, dass es um die grosse Planung geht und nicht um den Vorwand.

Die Welt muss handeln, ehe es zu spät ist

Das ist nichts Neues. 1948, als die Vereinten Nationen den Palästinensern ein Abkommen aufdrängten, das ihnen die Hälfte ihres Heimatlandes entriss und es einer Gemeinde von Neuankömmlingen und Siedlern übergab, von denen die meisten nach 1945 gekommen waren, entschieden sich die Palästinenser für einen Konflikt sehr geringer Intensität. Die Führer der Zionisten hatten lange auf diese Gelegenheit gewartet und begannen mit einer ethnischen Säuberungsaktion, bei der die Hälfte der einheimischen Bevölkerung vertrieben und die Hälfte ihrer Dörfer zerstört wurde und die die arabische Welt in einen unnötigen Konflikt mit dem Westen verwickelte, dessen Mächte mit dem Niedergang des Kolonialismus schon begonnen hatten, sich zurückzuziehen. Die beiden Planungen stehen miteinander in Zusammenhang: Je weiter die militärische Macht Israels sich ausdehnt, desto leichter kann die unerledigte Aufgabe von 1948 vollendet werden: die völlige Ent­arabisierung Palästinas.
Es ist noch nicht zu spät, um die israelische Planung davon abzuhalten, eine neue und schreckliche Realität zu schaffen. Aber der Spielraum ist begrenzt, und die Welt muss handeln, ehe es zu spät ist.    •

Übersetzung Zeit-Fragen


Israels Einsatz von chemischer Munition in Gaza

von Duraid Al Baik
Gulf News vom 13.7.2006

Ein Arzt eines palästinensischen Krankenhauses hat Israel angeklagt, chemische Munition einzusetzen, die Verbrennungen und Verletzungen in Weichteilen verursacht und nicht durch Röntgenstrahlen aufgespürt werden kann.
Chemische Substanzen oder abgereichertes Uran könnte bei der Verwendung dieses neuen Typs an Munition verwendet worden sein, so Dr. Jomaa al Saqqa, Chef der Unfallabteilung an Gazas grösster Einrichtung zur medizinischen Versorgung, dem al Shifa-Krankenhaus.
In einem Telefoninterview erzählte al Saqqa den «Gulf News», dass Operation Sommerregen nicht nur der Codename für eine militärische Operation war, die seit dem 26. Juni von Israel gegen Gaza durchgeführt wird.
«Es ist die lebendige Erprobung einer neuen Munition, die bis jetzt 50 Palästinenser getötet und 200 verletzt hat», sagte er.
Er meinte, er sei sich bisher nicht sicher über die Art der verwendeten Chemikalien, da die israelische Armee in den ersten Tagen des Anschlages das einzige kriminaltechnische Labor in Gaza bombardiert hätte.
Dr. Saqqa, der seit fast 10 Jahren am al Shifa-Krankenhaus arbeitet, sagte, er hätte niemals vorher solche Wunden gesehen.
Am Anfang der Operation Sommerregen bemerkte ich, dass die Wunden der Menschen ungewöhnlich aussehen.
«Ich dachte, der Grund dafür sei, dass der Angriff aus einer kurzen Distanz erfolgte oder dass die Temperatur der Kugeln, als sie in die Körper der verletzten oder getöteten Menschen eindrangen, so hoch war, dass dies Verbrennungen verursachte.
Später fand ich heraus, dass alle Wunden, die in unser Krankenhaus seit Beginn der Operation eingeliefert wurden, sehr ähnlich waren.
Ich bemerkte ausserdem, dass neben den Schäden in inneren Weichteilen in den Körpern der verletzten Menschen keine Splitter durch Röntgenstrahlen gefunden werden konnten. Mit anderen Worten, sie waren verschwunden oder im Körper aufgelöst.»
Al Saqqa drängte die internationalen Gesundheitsbehörden, nach Gaza zu kommen und die Wunden der Menschen im al Shifa-Krankenhaus zu untersuchen.
«Die Situation ist sehr schlimm, denn unter den 200 Verletzten sind 50 Kinder, die schrecklich unter ihren inneren Verletzungen leiden, die von dieser neuen Art an Munition verursacht wurden», sagte er.
«Gulf News» wandte sich an den Sprecher der israelischen Armee, aber dieser stand für eine Stellungnahme nicht zur Verfügung.