Die Büchse der Pandora
Berlin und Brüssel eskalieren den
Machtkampf gegen Russland mit neuen Sanktionen. Moskau kann sich bei
seiner Ukrainepolitik auf den Präzedenzfall Kosovo berufen.
german-foreign-policy.com, 23 Feb 2022
BERLIN/BRÜSSEL/MOSKAU (Eigener Bericht) –
Mit schweren Vorwürfen und einer massiven Verschärfung der Sanktionen
gegen Russland reagieren Berlin und die EU auf die Anerkennung der
„Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk durch Moskau. Unter anderem werden
alle 351 Duma-Abgeordneten, die Präsident Wladimir Putin zur Anerkennung
der „Volksrepubliken“ aufgefordert haben, mit Einreise- und
Vermögenssperren belegt. Moskau hatte seinen Schritt unter anderem damit
begründet, dass keinerlei Aussicht mehr auf eine Umsetzung des Minsker
Abkommens besteht. Der Vorwurf trifft vor allem Berlin: Die
Verhandlungen zur Realisierung des Abkommens wurden unter maßgeblicher
deutscher Regie geführt. Noch an diesem Wochenende riet eine führende
deutsche Tageszeitung dazu, die Verhandlungen zwar fortzusetzen, um
Russland zu „binden“, die Verwirklichung des Abkommens aber nicht
ernsthaft zu forcieren. Moskau betreibt die Anerkennung der
„Volksrepubliken“ mit Argumenten, mit denen Berlin bzw. die NATO die
Abspaltung des Kosovo von Jugoslawien gegen den Willen der Regierung in
Belgrad erzwangen – ein Präzedenzfall, der in Europa die Büchse der
Pandora geöffnet hat.
Neue Sanktionen
Mit einer deutlichen Verschärfung der
Sanktionen gegen Russland reagieren Berlin und die EU auf die
Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk durch Moskau. Das
Sanktionspaket, auf das sich die Mitgliedstaaten geeinigt haben, umfasst
vier Teile. Der erste sieht vor, dass sämtliche 351 Abgeordnete der
russischen Duma, die Präsident Wladimir Putin zur Anerkennung der
„Volksrepubliken“ aufgefordert haben, nicht mehr in die EU einreisen
dürfen; sollten sie Vermögen dort haben, wird es eingefroren. Es handelt
sich um das erste Mal, dass nahezu ein komplettes gewähltes Parlament
mit Strafmaßnahmen belegt wird. Darüber hinaus dürfen keine Geschäfte
mehr mit 27 Banken und Unternehmen getätigt werden, denen die EU
vorwirft, mit den Separatisten oder russischen Militärs, die diese
unterstützen, Geschäfte zu machen. Drittens werden die „Volksrepubliken“
vom Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine ausgeschlossen.
Auch wird der russische Zugang zum europäischen Finanzmarkt weiter
eingeschränkt; dabei geht es vor allem um Staatsanleihen mit einer
Laufzeit von weniger als 30 Tagen.[1] Deutschland stoppt zudem zumindest
vorläufig, wie Bundeskanzler Olaf Scholz mitteilte, die Erdgaspipeline
Nord Stream 2.[2]
Das Minsker Abkommen
Moskau hat die Anerkennung der
„Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk vor allem damit begründet, es
bestünden keinerlei Aussichten mehr, das Minsker Abkommen umzusetzen und
so den Krieg im Osten der Ukraine zu beenden. Der Vorwurf trifft
insbesondere Berlin, das stets eine führende Rolle in den Verhandlungen
im „Normandie-Format“ beansprucht hat; in ihnen ging es darum, das
Minsker Abkommen zu realisieren. Die Verhandlungen wurden im November
2021 von Russland abgebrochen, da die Ukraine sich nicht nur unverändert
weigerte, zentrale Bestimmungen des Abkommens umzusetzen, sondern auch
dazu überging, Donezk und Luhansk mit Drohnen des Typs Bayraktar TB2 zu
attackieren; diese Drohnen hatten etwa im Krieg Aserbaidschans gegen
Armenien kriegsentscheidend gewirkt.[3] Berlin nahm nicht nur den
Drohneneinsatz hin, obwohl er gültige Vereinbarungen brach; es deckte
auch die ukrainische Weigerung, das Minsker Abkommen zu erfüllen. Erst
nachdem US-Präsident Joe Biden bilaterale Verhandlungen mit Moskau
angekündigt hatte, war die Bundesregierung um die rasche Wiederaufnahme
der Gespräche im „Normandie-Format“ bemüht.[4] Zuletzt schienen sich
dabei Fortschritte abzuzeichnen; Kiew sagte zu, die notwendigen Gesetze
auf den Weg zu bringen.[5]
„Russland binden“
Allerdings blieb nicht nur unklar, ob die
erwähnten Gesetze wirklich verabschiedet werden können; im ukrainischen
Parlament ist eine Mehrheit dafür nicht in Sicht. Es bleiben darüber
hinaus auch Zweifel, ob der Westen das Minsker Abkommen zu unterstützen
bereit ist. Die Hintergründe schilderte am Samstag die einflussreiche
Frankfurter Allgemeine Zeitung. Wie das Blatt schrieb, sei zu
berücksichtigen, dass die Ukraine am 12. Februar 2015, als das Abkommen
unterzeichnet wurde, „in große militärische Bedrängnis geraten“ war.
Darauf sei zurückzuführen, dass es Bestimmungen enthalte, „die sehr
ungünstig für die Ukraine sind“; den Versuch, sie umzusetzen, „würde
keine ukrainische Regierung überstehen“.[6] Darüber hinaus behauptete
die Frankfurter Allgemeine, in Donezk und Luhansk seien „freie Wahlen“,
wie sie das Minsker Abkommen vorsehe, „unmöglich“. Sollten Berlin und
Paris wirklich in Betracht ziehen, „Druck“ auf Kiew auszuüben, um die
Umsetzung der Vereinbarung zu erzwingen, sei das „sinnlos“ und sogar
„gefährlich“. Die Zeitung rät dazu, nicht ernsthaft auf das Minsker
Abkommen zu setzen. Offiziell solle es freilich nicht aufgegeben werden,
weil es „einen Rahmen zur Einhegung des Konflikts“ biete und vor allem
Russland „binde“.
Quod licet Iovi...
Hat Berlin sieben Jahre lang jede Chance
vertan, den Konflikt um Donezk und Luhansk mit einer Durchsetzung der
Bestimmungen des Minsker Abkommens zu lösen, so bezieht die
Bundesregierung nun umso schärfer Position. Die Anerkennung der
„Volksrepubliken“ durch Moskau sei „ein schwerwiegender Bruch des
Völkerrechts“, erklärte gestern Bundeskanzler Olaf Scholz; Russland
verstoße mit ihr gegen „Grundprinzipien, wie sie in der Charta der
Vereinten Nationen zum friedlichen Zusammenleben der Völker verankert
sind. Dazu gehören die Wahrung der territorialen Integrität und
Souveränität der Staaten, der Verzicht auf Androhung und Anwendung von
Gewalt und die Verpflichtung zur friedlichen Streitbeilegung.“[7] Die
Äußerung ist nicht nur deshalb aufschlussreich, weil führende westliche
Mächte regelmäßig gegen die erwähnten Grundprinzipien verstoßen haben,
etwa mit den Überfällen auf den Irak im Jahr 2003 und auf Libyen im Jahr
2011; Sanktionen hatte dabei keine der beteiligten Mächte zu befürchten.
Die Stunde der Heuchler
Aufschlussreich ist Scholz‘ Äußerung auch,
weil Russlands Vorgehen in zentralen Punkten dem deutschen Vorgehen bei
der Abspaltung des Kosovo entspricht. Die Anerkennung der
„Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk geschah ebenso gegen den Willen der
Ukraine, wie die Anerkennung des Kosovo im Februar 2008 gegen den Willen
Serbiens vollzogen wurde. Die Abspaltung des Kosovo wurde dabei mit
serbischer Gewalt gegen die kosovarische Bevölkerung begründet; im
Bürgerkrieg um Donezk und Luhansk kamen inzwischen mehr als 14.000
Menschen zu Tode – mehr als im Kosovo. Während Russland erst Truppen in
die „Volksrepubliken“ entsandte, nachdem es sie offiziell anerkannt
hatte, besetzte die NATO, darunter deutsche Truppen, das Kosovo
allerdings im Rahmen eines Angriffskriegs gegen Jugoslawien im Frühjahr
1999, dem Tausende Zivilisten zum Opfer fielen, und schuf mit
umfassenden Bombardements die Voraussetzungen für die Abspaltung des
Gebiets. Moskau hat das Vorgehen des Westens damals scharf kritisiert.
Allerdings kann sich heute, wer die Abspaltung von Teilen fremder
Staaten anerkennt, stets auf den Präzedenzfall berufen, den die
NATO-Staaten mit der Abspaltung des Kosovo geschaffen haben – unter
Führung nicht nur der USA, sondern auch der Bundesrepublik.
[1] Thomas Gutschker, Jochen Buchsteiner:
Strafen gegen Abgeordnete, Oligarchen und Banken. Frankfurter Allgemeine
Zeitung 23.02.2022.
[2] Scholz stoppt Gasleitung Nord Stream 2.
Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.02.2022.
[6] Reinhard Veser: Kein Mittel zur Lösung
des Konflikts. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.02.2022.
[7] Schwerwiegender Bruch des Völkerrechts –
Deutschland an der Seite der Ukraine. bundesregierung.de 22.02.2022.