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Wahlfarce am Hindukusch

Von Matin Baraki*

Der Machtpoker um die Regierungsämter in Afghanistan hat nichts mit Demokratie zu tun.
Im Protektorat Afghanistan sind auch drei Jahre nach den US-Bombardements keine besseren Lebensverhältnisse in Sicht.


Anfang Oktober sollen in Afghanistan Präsidentschaftswahlen abgehalten werden. Auf der Petersberger Afghanistan-Konferenz im Dezember 2001 war beschlossen worden, daß im Juni 2004 gleichzeitig Parlaments- und Präsidentschaftswahlen durchgeführt werden sollen. Dies wurde im Artikel 160 der Verfassung vom 26. Februar 2004 bekräftigt. Somit wäre die Amtszeit von Interimspräsident Hamid Karsai eigentlich schon abgelaufen; er regiert also seit mehreren Monaten ohne Mandat und Legitimation. Statt sein Amt niederzulegen verschob er den Wahltermin nun zum zweiten Mal.

Spiel mit dem Feuer

Dieses Taktieren Karsais erinnert an den zweiten islamischen Präsidenten, Burhanudin Rabani, anfangs seiner Regierungszeit in den Jahren 1992/93, als dieser einen Krieg innerhalb der Regierungsparteien auslöste, der die Zerstörung Kabuls zur Folge hatte und den Einmarsch der Taleban provozierte. Stünden hinter Karsai nicht die USA, wäre ein erneuter Bürgerkrieg schon längst im Gange. Doch Karsai spielt mit dem Feuer. Obwohl am 22. Juni 2004 DemonstrantInnen in Kabul seinen Rücktritt und die Einsetzung eines Übergangsrates bis zu den vorgesehenen Wahlen forderten, trennte Karsai auch noch die Parlaments- von den Präsidentschaftswahlen.

Ein wesentlicher Grund für die Verlegung des Wahltermins war, daß sich zu wenige Wählerinnen und Wähler in die Wählerlisten eingetragen haben obwohl den Menschen schon bei ihrer Registrierung für jede Stimme eine Summe zwischen 100 bis 110 Dollar angeboten worden ist, wie mir von Betroffenen während meines Aufenthalts im Frühjahr 2004 in Afghanistan berichtet wurde. Anfang Juli, also genau einen Monat nach Ablauf des ursprünglichen Wahltermins, waren mit etwa 5,2 Millionen gerade knapp die Hälfte aller Wahlberechtigten registriert. Viele AfghanInnen glaubten nicht mehr daran, daß diese Wahlen überhaupt stattfinden werden. Die Salami-Taktik Karsais, den Wahltermin erst von Juni auf September und dann auf Oktober zu verschieben, hatte die Bevölkerung verunsichert.

Die Europäische Union und die Bundesregierung, letztere Gastgeber dreier Afghanistan-Konferenzen, demonstrierten offiziell Gelassenheit über die afghanische Unzuverlässigkeit bezüglich des Wahltermins. Intern wurde jedoch in Berlin von einer "Niederlage" gesprochen. Wenn der Zeitplan nämlich weiter ins Schleudern käme, würden die islamischen Fanatiker dies als ihren Erfolg feiern.

Obwohl die UNO und die Kabuler Administration seit neun Monaten die Wahlberechtigten erfassen, weiß tatsächlich niemand genau, wie viele Menschen in Afghanistan wahlberechtigt und wie viele inzwischen erfaßt sind. Die Angaben dazu schwanken beträchtlich. Auch über die Zahl der KandidatInnen für das Präsidentenamt gibt es die unterschiedlichsten Angaben. Sie schwankt zwischen 18 und 23 Personen, darunter auch eine Frau. Eine ähnliche Verwirrung herrscht bei den Angaben bezüglich des Frauenanteils an den Wahlberechtigten. Nach UNO-Angaben sollen bis Mitte August 2004 die Frauen knapp 42 Prozent der 9,9 Millionen ausgestellten WählerInnenausweise erhalten haben, im Juni betrug ihr Anteil nur 32 Prozent bei zehn Millionen Wahlberechtigten. Aber das Eintragen in die Wählerlisten bedeutet noch keine Stimmabgabe, insbesondere bei den Frauen. Es ist nicht auszuschließen, daß Frauen am Wahltag selber von ihren Männern daran gehindert werden, zu den Urnen zu gehen, außer wenn dies gut bezahlt wird.

Teilung der Macht

Auch in Afghanistan geht es in der Politik nicht ohne Kungelei. Karsai traf sich am 23. Mai 2004 hinter verschlossenen Türen mit den hundert mächtigsten Milizen- und Modjahedinführern, darunter Mohammad Ismael Chan aus Herat, die Ultra-Islamisten Abdul Rasul Sayaf und Burhanudin Rabani, Verteidigungsminister Marschall Mohammad Qasim Fahim, General Abdul Raschid Dostum und dessen Rivale Milizenführer Atta Mohammad, aus dem Norden des Landes, letzterer ein Verbündeter Fahims. Dieses Treffen hat dem Verdacht Nahrung gegeben, daß Karsai - mit Rückendeckung der USA - eher mit den Warlords die Macht teilt, als am Reformkurs, Recht und Gesetz festzuhalten.

Diese Koalition stimmt insofern mit der US-Strategie in der Region überein, als eine Allianz aus Karsai, Warlords- und Modjahedinführern das US-Militär hinsichtlich seines Einsatzes in Irak entlasten dürfte. Beim erwähnten Treffen sprachen die Modjahedinführer der ehemaligen Nordallianz Karsai ihre Unterstützung unter der Bedingung zu, daß ein Modjahed (Heiliger Krieger) Vizepräsident und ein weiterer Präsident der Nationalversammlung (Schoraie Melli) werden würde. Darüber hinaus sollen fünfzig Prozent der Posten im künftigen Kabinett mit Modjahedin besetzt werden, und es sollen "Heilige Krieger" in die Nationalarmee und in die Polizei aufgenommen werden. Hiermit wird eine ohnehin bestehende Infiltration der Sicherheitsorgane durch Islamisten weiter verstärkt.

Diese personelle Konstellation wird Karsai die Hände binden, seine verfassungsmäßig starke Position durchzusetzen. "Hamid Karsai muß seine Herrschaft mit vielen teilen, um an der Macht zu bleiben, mit Zalmay Khalilzad, dem amerikanischen Botschafter in Kabul, mit Verteidigungsminister Mohammad Fahim, mit Finanzminister Aschraf Ghani, mit den Königstreuen und selbst mit einem Teil der Taliban. Was bleibt ihm am Ende? Nichts als ein bloßer Titel!", schrieb "Pyame Mudjahed" (Die Botschaft des Modjahed).

Wie so viele Vereinbarungen zwischen den Modjahedin-Kommandanten in der Vergangenheit war auch die im Mai geschlossene Abmachung nicht von langer Dauer. Am 22. Juli 2004 trat Karsais Sicherheitsberater Abdul Raschid Dostum und am 26. Juli der amtierende Erziehungsminister Junus Qanuni zurück, um für die Präsidentschaft kandidieren zu können.v Taktisch geschickt ernannte Karsai den jetzigen Kabuler Botschafter in Moskau, Ahmad Zia Masud, den jüngsten Bruder des berühmten islamistischen Kommandanten der Nordallianz, Ahmad Schah Masud, und Schwiegersohn des ehemaligen Präsidenten Rabani, zu seinem Stellvertreter. Mit der Ernennung Karim Khalilis, des einflußreichen Chefs der schiitischen Hasara-Partei "Hesbe Wahdat" (Partei der Einheit), zu seinem zweiten Vize gelang ihm ein weiterer Schachzug. Auch auf der Suche nach "guten Taleban" und "guten Kommunisten" ist er erfolgreich. Der ehemalige Minister für Erziehung der Demokratischen Republik Afghanistan, Abdul Raschid Jalili, rief seine Parteigänger auf, für Karsai zu stimmen. Kürzlich hat dieser 700 Kämpfer und den berüchtigten und gefürchteten Religions- und Außenminister der Taleban aus der Haft entlassen. Damit verbessern sich die Aussichten Karsais, schon im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit der Stimmen auf sich zu vereinen.

Die Probleme Afghanistans

Das ganze Wahlprozedere soll insgesamt 200 Millionen Dollar kosten, Berlin hat sich mit 5,1 Millionen Euro daran beteiligt. Wie viel Schulen hätte man mit diesem Geld wohl bauen können? Die Probleme Afghanistans sind mit dieser Wahlfarce nicht gelöst. Die Warlords und Heroinbarone samt Verbündete der USA, die die von Karsai geführte Zentralregierung marginalisieren, bleiben mächtig wie eh und je.

Der Opiumertrag soll in diesem Jahr 3600 Tonnen erreicht haben, das entspricht 75 Prozent des weltweiten Heroinverbrauchs bei einem Umsatz von 2,3 Milliarden Dollar. Davon profitieren beachtliche Teile unter den hochrangigen Funktionären des Staatsapparats in allen Bereichen. Selbst der Kabuler Finanzminister Ashraf Ghani sprach von einem "Drogenmafia-Staat" in Afghanistan. Auch die Taleban und Al Qaeda finanzieren sich durch Drogenhandel, da sie etwa 35 Prozent des Landes im Süden und Osten, wo im großen Stil Mohnanbau betrieben wird, kontrollieren.

Der Aufbau der Nationalarmee dagegen kommt nicht nennenswert voran - 75000 Mann wurden im Januar 2002 als Zielvorstellung genannt, die Armee kann aber gerade mal 8300 Soldaten aufweisen. Das bedeutet gegenüber den vom Armeechef Bismillah Chan geschätzten 100000 Privatmilizionären der Warlords ein Verhältnis wie Maus und Elefant. In einer Untersuchung des britischen Parlaments von Mai 2004 wird die Lage in Afghanistan als "Desaster" bezeichnet. "Die Infrastruktur liegt am Boden, die Opiumproduktion explodiert, und die Taliban kontrollieren ebenso wie die Warlords weite Teile des Landes." Und der Weg zu einer "Normalisierung" wird immer länger und nicht kürzer.

Anfang August ist ein Machtkampf zwischen dem Warlord und selbst ernannten Gouverneur der westafghanischen Provinz Herat, Ismael Chan, und dem von Karsai und seiner Entourage unterstützten ehemaligen Taleban-Kommandanten Amanullah Chan ausgebrochen. Dadurch wurde nicht nur die sowieso am Boden liegende Infrastruktur weiter zerstört, sondern der gesamte Westen Afghanistans destabilisiert. Nicht Karsai, sondern der eigentliche Herrscher Afghanistans, US-Botschafter Zalmay Khalilzad, hat den Warlord Ismael Chan entlassen, wie er am 12. September bei einer Pressekonferenz in Kabul offen zugab. "Das ist die Aufgabe des Präsidenten, aber ich habe mit Ismael Chan darüber gesprochen, das heißt ich habe ihm seine Entlassung mitgeteilt." Khalilzad hält jeden Monat eine Rede, die von den afghanischen Medien landesweit übertragen wird.

Das Land zerfällt

Im Norden des Landes kämpfen die Einheiten General Dostums und des mit dem Verteidigungsminister verbündeten Warlords Atta Mohammad gegeneinander. Atta hat es sich sogar geleistet, den von Karsai ernannten Polizeikommandanten für Masare Scharif nach Kabul zu vertreiben. In der darisprachigen Sendung von BBC begründete er dies damit, daß er im Auftrage des Volkes handle. Die Gouverneure, die Karsai für die nördlichen Provinzen Fariab und Sare Pul ernannt hatte, wurden ebenfalls nach Kabul gejagt.

Sicherheit kann nicht einmal in Kabul gewährleistet werden. Das letzte Bombenattentat in Kabul vor der Unterkunft der US-Sicherheitsfirma "Dyncorp", die Karsais Bodyguards stellt, bei dem etwa zwanzig Menschen ums Leben kamen, spricht Bände. Über 35 Prozent des Landes im Osten und Süden werden für Angehörige der Kabuler Administration als "No-Go-Area" eingestuft. Nur die US-Marines führen ab und zu Operationen durch, ansonsten schalten und walten dort Al Qaeda, Taleban und die Milizen von Hekmatjar, dem ehemaligen Super-Modjahed der USA.

Die Entwaffnung der Privatarmeen der Warlords wird permanent unterlaufen, sogar von Kabinettsmitgliedern wie Verteidigungsminister Fahim. Selbst wenn hier und dort eine Entwaffnungsshow veranstaltet wird, bei der zum größten Teil alte Waffen abgegeben werden, ist die Angelegenheit ein gutes Geschäft. Für jede alte abgegebene Kalaschnikow erhalten die Söldner hundert Dollar auf die Hand. Auf dem freien Markt kann sich jeder für siebzig Dollar eine neue Kalaschnikow kaufen.

Es wird kaum thematisiert, warum die USA und die NATO ganz besonders auf einen Erfolg der "Nation-Building"- Konzeption in Afghanistan setzen. Wäre diese Konzeption auch in Irak annähernd so erfolgreich, ein Einmarsch der US-Marines in Iran, Syrien, Jemen und so weiter hätte schon stattgefunden. Man muß nicht einverstanden sein mit dem Widerstand in Afghanistan oder in Irak, aber ein Erfolg beim "Nation Building" beziehungsweise der "Greater-Middle-East"- Initiative der USA wäre eine erneute Kolonialisierung der Region und darüber hinaus. Denn der erfolgreiche militärische Sieg der USA in Afghanistan hat den Krieg gegen Irak begünstigt. Von daher gilt es die Folgen zu bedenken, ehe manche naive Leute den US-Marionetten in Afghanistan Erfolg wünschen.

Gutes Geschäft

Im Kabuler Wahlkoordinationsbüro herrscht das blanke Chaos. Bei den verantwortlichen Wahlgremien ist ein Wettkampf um eine möglichst hohe Anzahl von registrierten Wählern entbrannt. Eine Personalausweis-Kontrolle wird nicht unbedingt durchgeführt. Nicht nur afghanische, sondern auch pakistanische Taxi- und Busfahrer können sich deshalb problemlos mit Wahlkarten versorgen. Ohne Alterskontrolle werden komplette Schulklassen in die Wählerlisten eingetragen. Viele Afghanen lassen sich mehrfach um die Wette registrieren. "Der mir bekannte Rekord liegt bei dreißig Wahlkarten", bestätigt Sanjar Sohail, Mitglied des Demokratischen Studentenzentrums in der afghanischen Hauptstadt. Kein Wunder, daß die Zahl der Wahlberechtigten immer weiter nach oben angepaßt werden muß. Wohlhabende Warlords kaufen massiv Karten auf, wofür sie zwischen fünfzig bis hundert Dollar zahlen. Je näher der Wahltermin rückt, desto teurer werden die Stimmzettel. Die Wahlen in Afghanistan werden auf jeden Fall ein gutes Geschäft für diejenigen, die die meisten Wahlkarten gehortet haben. Es ist nicht ausgeschlossen, daß selbst Taleban und Al-Qaeda-Leute sich an diesem guten und leicht zu machenden Geschäft beteiligten.

* Dr. Matin Baraki, Lehrbeauftragter an der Uni Marburg und Kassel