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Nach der Vertreibung der Taliban 2001 bestand eine reale Chance, die Staatlichkeit Afghanistans wiederherzustellen. Noch während des US-geführten Krieges gegen Afghanistan fand unter formaler UN-Ägide Ende 2001 eine internationale Konferenz statt, auf der die Grundlage für den künftigen Status des Landes gelegt wurde.2 Nicht in Afghanistan durch Afghanen, sondern auf dem Petersberg bei Bonn wurden die Weichen gestellt und eine Regierung auf massiven Druck der über zwanzig anwesenden US-Vertreter unter Beteiligung dreier islamistischer und einer monarchistischen Gruppe gebildet. Hamid Karsai, der seit Beginn des afghanischen Bürgerkrieges enge Verbindungen zur CIA unterhalten hatte und sich im Indischen Ozean auf einem US-Kriegsschiff befand, wurde zum Interimsministerpräsidenten ernannt. Da diese Regierung weder Legitimation noch Rückhalt in Afghanistan hatte, wurde sie nach kolonialem Muster von einer internationalen «Schutztruppe», der «International Security Assistance Force» (Isaf), gebildet von Soldaten vor allem aus Nato-Staaten, nach Kabul begleitet und vor Ort weiter gesichert. Petersberg war eine Neocon-Konzeption.
Die Deutschen haben mitgewirkt, um Afghanistan als Türöffner für weltweite Einsätze der Bundeswehr zu instrumentalisieren. Wie schon in der Vergangenheit wurde eine militärische «Lösung» des Konfliktes favorisiert. Afghanistan ist seitdem zu einem regelrechten Übungsplatz von USA und Nato geworden, wo die neuesten Waffen, darunter auch völkerrechtlich geächtete, und die Einsatzfähigkeit der Soldaten getestet werden.
Das afghanische Volk war somit vor vollendete
Tatsachen gestellt worden. Auf der Grundlage des Petersberger Fahrplans
wurden zwischen 2002 und 2005 mehrere Wahlprozeduren durchgeführt. Im
Dezember 2001 war Karsai in das Amt des Ministerpräsidenten eingeführt
und dann im Juni 2002 auf einer Loya Djirga (Ratsversammlung) zum
Präsidenten gewählt worden, wobei 24 Stimmen mehr abgegeben wurden als
Abgeordnete anwesend gewesen waren.3 An der Tür zum Wahlzelt waren
Abgeordnete durch Minister und Gouverneure per Unterschrift
verpflichtet worden, für Karsai zu stimmen.4
Im Vorfeld dieser
Wahlen hatten die USA 10 Millionen Dollar ausgegeben, um für ihn
Stimmen zu kaufen. Anfang Januar 2004 wurde auf einer weiteren Loya
Djirga eine Verfassung verabschiedet und Afghanistan zur Islamischen
Republik proklamiert. 2004 wurden dann Präsidentschaftswahlen und 2005
Parlamentswahlen abgehalten, wobei Drohung, Gewalt, Mord und
Stimmenkauf die Regel waren. Die «New York Times» nannte die Art und
Weise, wie die Wahlen zustande kamen, «eine plumpe amerikanische
Aktion».5 Bei all diesen Aktionen war die internationale Gemeinschaft
präsent: die Vereinten Nationen mit ihrem Beauftragten für Afghanistan,
Lakhdar Brahimi, die Europäische Union mit ihrem Repräsentanten, dem
spanischen Diplomaten Francesc Vendrell, und die Vereinigten Staaten
als Hauptakteur mit ihrem Botschafter Zalmay Khalilzad. Alle
entscheidenden Beschlüsse wurden entweder im Büro Karsais oder in der
US-Botschaft gefasst. Sowohl UN- wie EU-Vertreter liessen sich von den
USA instrumentalisieren und nickten die getroffenen Entscheidungen nur
noch ab. Damit haben sie ihre Neutralität und Glaubwürdigkeit
eingebüsst. Es war dann nur logisch, dass die Nato auf ihrem
Gipfeltreffen in Istanbul am 28. Juni 2004 die Entmachtung
beziehungsweise Unterordnung der «Schutztruppe» Isaf unter
Nato-Kommando beschloss. Das Land wurde nach einem Operationsplan des
Nato-Hauptquartiers unter den Besetzern in vier etwa gleich grosse
Sektoren aufgeteilt.6 Dadurch sind faktisch die Aufsichtsfunktion der
Uno, die Souveränität und Eigenstaatlichkeit Afghanistans aufgehoben
worden.
Diese Demütigung der Afghanen ist der Nährboden, auf dem der Widerstand wächst. Solange militärische Besetzung und Fremdbestimmung andauern, wird in Afghanistan keine Ruhe, kein Wiederaufbau und keine zivile Lösung des Konfliktes möglich sein. Da die USA und die Nato beabsichtigen, für sehr lange Zeit im Lande zu bleiben, haben sie dafür entsprechende politische und militärische Voraussetzungen geschaffen. Noch vor den Parlamentswahlen hatte Karsai eine sogenannte «Nationale Konferenz» einberufen, auf der 100 Personen aus seiner Entourage zusammenkamen. Sie bevollmächtigten ihn, mit den USA einen Vertrag zu schliessen, auf dessen Grundlage die Militäreinheiten der Vereinigten Staaten auf unabsehbare Zeit in Afghanistan bleiben dürfen.
Hat Afghanistan eine souveräne und unabhängige
Regierung? Das jetzige Kabuler Kabinett besteht zu über 50% aus
American Afghans, den Rest stellen Euro-Afghanen und einige willfährige
Warlords. Hinzu kommen noch die US-Berater, die ausnahmslos in allen
Ämtern präsent sind und die Entscheidungskompetenz innehaben.
Der
11. September 2001 wurde zum Anlass des Krieges gegen Afghanistan,
obwohl dieser schon lange vorher geplant war, denn bereits im Juni 2001
hatte die Bush-Administration ihren regionalen Verbündeten Pakistan
darüber informiert, wie der ehemalige Aussenminister Pakistans Naiz
Naik bestätigte.7 Ende September 2006 brüstete sich auch der ehemalige
US-Präsident Bill Clinton damit, einen solchen Krieg gegen Afghanistan
geplant zu haben.8 Unter dem formalen Dach der Uno wurde das Land zu
einem Protektorat der internationalen Gemeinschaft degradiert. Seit
Beginn der neunziger Jahre wird die «Treuhandschaft»9 und das «liberale
Protektorat», das auch als «liberaler Imperialismus» bezeichnet wird,
als eine Chance für «nation building» und zur Demokratisierung von
aussen propagiert. Die «failing states» sollen für geraume Zeit unter
internationale Verwaltung gestellt werden, und es wird einem «neuen
Interventionismus» der westlichen Mächte mit «robustem» militärischem
Mandat das Wort geredet.10 In Afghanistan wurde diese «Theorie»
umgesetzt. Da die internationale Gemeinschaft zum grössten Teil aus
Nato-Ländern unter US-Führung besteht, ist sie selber voreingenommen
und Partei. Sie kann die Probleme des Landes nicht lösen – im
Gegenteil, sie ist Teil des Problems geworden. Da die Uno zur Schaffung
der Protektorate wesentlich mit beigetragen und sich damit
diskreditiert hat, kann sie keine angemessene und glaubwürdige
Führungsfunktion mehr übernehmen.
Weil Protektorate faktisch
Kolonien sind, können im günstigsten Fall Probleme nur verschoben, im
ungünstigsten Fall verschlimmert werden. Zu einer Lösung kommt es, wie
an Afghanistan ersichtlich, nicht.
Gerade durch den Status als Protektorat ist die
Wirtschaft Afghanistan zerstört worden. Wie der Kabuler
Wirtschaftsminister Mohammad Amin Farhang hervorhob, bestehen 99% aller
Waren auf dem afghanischen Markt aus Importen. Der einheimischen
Wirtschaft wird jegliche Chance genommen, sich zu entwickeln. Da die
Heroinbarone im Staatsapparat integriert sind, nutzen sie den
«Wirtschaftsboom» zur Geldwäsche. Sie investieren nur im Luxussegment –
Hotels, Häuser und Lebensmittel – für den Bedarf zahlungskräftiger
Ausländer. Ein Wiederaufbau für breite Schichten der Bevölkerung findet
kaum statt. Die Arbeitslosigkeit beträgt etwa 70%11, mancherorts, vor
allem im Osten und Süden, sogar 90%. Dort sympathisieren bereits 80%
der Menschen mit den Taliban.12 Den Afghanen wurden blühende
Landschaften versprochen; nun müssen wir seit fast sechs Jahren
erleben, dass der Westen «eine Menge Lügen erzählt und falsche
Versprechungen macht»,13 äusserten sich Dorfbewohner im Süden des
Landes. Das von der Uno in Millionenhöhe unterstützte Rückkehrprogramm
für afghanische Flüchtlinge muss deswegen scheitern, weil sie weder
Arbeit noch Unterkunft finden. Die im Rahmen der Demobilisierung
freigesetzten 50 000 Kämpfer der Warlords mehren nicht nur zusätzlich
das Heer der Arbeitslosen, sondern sind zu einem Faktor von
Destabilität, Kriminalität und Unruhe geworden. Da sie keine bezahlte
Beschäftigung finden können, gehen sie entweder zurück zu ihrem Warlord
oder schliessen sich den Taliban beziehungsweise al-Kaida an. Die
Sicherheitslage ist so schlecht wie seit dem Sturz des Taliban-Regimes
nicht mehr. Die Besatzungsmächte reagieren mit massiven und
rücksichtslosen Bombardierungen. Opfer sind Tausende von Zivilpersonen,
Frauen und Kinder, einfache Dorfbewohner.
Der Bevölkerung geht es
immer schlechter. Selbst in Kabul funktionieren weder Wasser- noch
Stromversorgung. Wegen der katastrophalen sanitären Verhältnisse kommt
es in den heissen Sommermonaten wiederholt zu Cholera-Epidemien. Nur
eine kleine Minderheit kann sich eine angemessene medizinische
Versorgung leisten. Offiziell ist zwar die Behandlung in staatlichen
Krankenhäusern kostenlos, aber ohne Bakschisch läuft auch da nichts.
Die Mietpreise in der Stadt sind unerschwinglich geworden, selbst für
die Menschen, die Arbeit haben.
Zu diesen schon auf dem Petersberg falsch gestellten Weichen gab es eine Alternative, die jedoch nie diskutiert wurde. Der beste und einzig gangbare Weg zur Befriedung Afghanistans wäre die Bildung einer repräsentativen Regierung in Afghanistan gewesen und eben nicht irgendwo weit weg im Ausland. Unter strengster Kontrolle nicht der «internationalen Gemeinschaft», sondern der Blockfreien Staaten, der Konferenz der Islamischen Staaten, der internationalen Gewerkschaften, von Friedens- und Frauenorganisationen hätten Wahlen für eine Loya Djirga durchgeführt und auf dieser repräsentativen Versammlung eine provisorische Regierung und Kommissionen zur Ausarbeitung einer Verfassung sowie von Parteien- und Wahlgesetzen gewählt werden müssen. Ich bin davon überzeugt, dass ein solches Verfahren ganz andere Ergebnisse gehabt hätte als die heutigen vom Petersberg. Eine Regierung, vom Volk gewählt, hätte auch in Kabul kaum etwas zu befürchten. Im schlimmsten Fall hätte man, wenn für kurze Zeit Militärschutz benötigt worden wäre, ihn von den Staaten in Anspruch nehmen können, denen das Land nahesteht, wie den Blockfreien und den islamischen Staaten. Afghanistan gehört bekanntlich zu deren Gründungsmitgliedern.14 Damit wäre auch den Islamisten der Wind aus den Segeln genommen, denn Afghanistan wäre dann nicht von «ungläubigen Christen» und dem «grossen Satan» besetzt. Diese Alternative war jedoch von Anfang an unerwünscht. Selbst heute ist es noch nicht zu spät, diesen Weg einzuschlagen und die Petersberger Fehler zu korrigieren.
Ein nachhaltiger Wiederaufbau, der ein Kampf gegen
den Hunger wäre und allen Afghanen zugute kommen müsste, muss Priorität
haben. Die Milliarden Dollars, auf diversen internationalen
Geberkonferenzen dem Land versprochen und auf einem Sonderkonto bei der
Weltbank geparkt, fliessen über die 2500 in Kabul stationierten und mit
allen Vollmachten ausgestatteten «Non Governmental Organizations»
(NGO), die «oft gegeneinander statt miteinander»15 arbeiten, in die
Geberländer zurück. Die NGOs fungieren faktisch als Ersatzregierung und
zerstören die afghanische Wirtschaft noch weiter. Einheimische
Unternehmen erhalten von ihnen kaum Aufträge. Der naive und energische
Franco-Afghane Ramazan Bachardoust wurde auf Wunsch der Pariser
Regierung nach Kabul delegiert und von Karsai zum Planungsminister
ernannt. Als er die Machenschaften der NGOs, die er «als die neue
al-Kaida in Afghanistan bezeichnet»16, aufdecken wollte, wurde er von
Karsai entlassen.17
Afghanistans ökonomische Perspektive liegt in
der Abkoppelung von kolonialähnlichen wirtschaftlichen Strukturen und
der Hinwendung zu einer regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit
den industriell entwickelteren Nachbarn Indien, China, Iran und
Pakistan sowie in einer Süd-Süd-Kooperation.
Als Nato-Protektorat
hat Afghanistan weder politische noch ökonomische Perspektiven,
geschweige denn eine friedliche Zukunft. Ausserdem: Die von der Nato
favorisierte «militärische Lösung» kann es nicht geben. Selbst wenn es
sie gäbe, wäre sie ein gigantischer «Ressourcenschlucker» und stünde in
einem eklatanten Missverhältnis zu einer politischen Lösung. Seit 2002
wurden in Afghanistan 82,5 Milliarden Dollar für den Krieg ausgegeben,
jedoch nur 7,3 Milliarden für den Wiederaufbau. «Damit übersteigen die
Militärausgaben die Hilfsmittel um 900 Prozent.»18 Die waffentechnische
Überlegenheit der Nato in Afghanistan hat zu einer Barbarisierung des
Krieges geführt.
Die afghanische Elite unterschiedlichster
Schattierung hat sich schon an die Besatzungsmächte verkauft. Die
internationalen Stiftungen sind regelrecht auf Jagd nach der politisch
käuflichen Intelligentia. So hat sich das «National Democratic
Institute for International Affairs» der ehemaligen US-Aussenministerin
Madeleine Albright der Kabuler Parlamentarier mit linker Vergangenheit
angenommen. Mit Ausnahme der Rosa-Luxemburg-Stiftung sind alle anderen
deutschen Parteistiftungen in Kabul aktiv.
Ein afghanisches
Sprichwort besagt: «Der Baum sagt zur Axt, wäre dein Griff nicht ein
Stück von mir, hättest du mich nicht schlagen können.» Die USA
versuchen jetzt, die Völker mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Wir
leben jetzt «in einer Welt, in der Unterwürfigkeit als Tugend gilt oder
zumindest als Beweis für Talent. In einer Welt, in der gemietet wird,
wer sich nicht verkauft», wie der uruguayische Schriftsteller Eduardo
Galeano festgestellt hat.
Die Neocons stehen vor dem Scherbenhaufen
ihrer Militärdoktrin. In Afghanistan haben die alten Imperialmächte in
der Vergangenheit keine Siege erringen können. Auch die neuen werden
sich nicht auf Dauer am Hindukusch etablieren können. Es ist längst
überfällig, dass der Westen seine Strategie überdenkt, um Afghanistan
vor der Spirale der unkontrollierten Gewalt zu bewahren. •
1 Vgl. Les Révélations d’un
Ancien Conseiller de
Carter, «Oui, la CIA est entrée en Afghanistan avant les Russes …», in:
«Le Nouvel Observateur», 15–21.1.1998, S. 76.
2 Baraki, Matin:
Afghanistan nach «Petersberg», in: Blätter für deutsche und
internationale Politik, Bonn, Jg. 47, 2002, H. 2, S. 147–150.
3 Vgl. «Karsai fordert Einigkeit und
Opferbereitschaft», in: «Frankfurter Rundschau», 14.6.2002, S. 2.
4
Vgl. Pohly, Michael: Am Anfang war der Wahlbetrug, in:
Bedrohte-Völker-Pogrom, Göttingen, Nr. 218 (2/2003), S. 8.
www.gfbv.de/dokus/dossiers/afghanistan/pohly_pog218.htm.
5 Zitiert nach: Paasch, Rolf: Stunde der
Strippenzieher, in: «Frankfurter Rundschau», 19.6.2002, S. 3.
6 Vgl. Nato hofft auf baldige Ausweitung von Isaf,
in: «Frankfurter Allgemeine Zeitung», 29.10.2004, S. 7.
7 Vgl. Hahn, Dorothea: Vergebliche Suche nach der
«goldenen Brücke», in: «TAZ», 3./4.11.2001.
8 Vgl. Leyendecker, Hans: «Ich habe es versucht», in:
«Süddeutsche Zeitung», 25.9.2006, S. 2.
9 Ulrich Menzel von der Universität Braunschweig ist
ein massgeblicher Vertreter dieser «Theorie».
10
Diese «Theorie» wird von Prof. Menzel von der TU Braunschweig und
Prof. Franz Nuscheler von der Universität Duisburg vertreten.
11
Lüders, Michael: Nur die Milliarden aus dem Ausland halten Karsai
an
der Macht, in: «Frankfurter Rundschau», 24.4.2006, S. 6.
12 Vgl. Möllhoff, Christine: «Westen hat in
Afghanistan versagt», in: «Frankfurter Rundschau», 14.9.2006, S. 6.
13 Ebenda.
14 Weitere Gründungsmitglieder der Blockfreien
Staaten waren Ägypten, Indien, Indonesien und die Bundesrepublik
Jugoslawien.
15 Fischer, Karen: Afghanistan kommt nicht zur Ruhe,
in: Hintergrund Politik, Deutschlandfunk, 26.6.2006, 18.40 Uhr.
16 Busse, Nikolas: Böse Blicke, in: «Frankfurter
Allgemeine Zeitung», 4.6.2005, S. 3.
17 Vgl. Koelbl, Susanne: Versickernde Milliarden, in:
Der Spiegel, Nr. 13, 26.3.2005, S. 117.
18 Möllhoff, Christine: «Westen hat in Afghanistan
versagt», a.a.O.