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Nach der Ermordung
des libyschen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi hat die NATO
erklärt, der militärische Job sei getan. Generalsekretär Anders
Fogh Rasmussen verkündete in der vergangenen Woche in Berlin und
am Montag in Tripolis: »Das war wohl eine der erfolgreichsten
Missionen in der Geschichte der NATO«. Die meisten Medien
hierzulande sind gleichfalls hoch zufrieden und verweisen
vorsichtshalber noch einmal darauf, daß der UN-Sicherheitsrat mit
der Resolution 1973 den Militäreinsatz in Libyen erlaubte. Die
positive Bilanz, die sich die NATO selbst ausstellt, wird nicht
hinterfragt. Dabei fällt die Schlußrechnung, wenn man sie an den
offiziellen Zielen mißt, vernichtend aus.
Erinnern wir uns: Die besagte UN-Resolution, die den Willigen die
Tür zum Krieg einen Spalt weit öffnete, forderte einen
Waffenstillstand, Verhandlungen über eine politische Lösung und
den Schutz der Zivilbevölkerung. Geschehen ist jedoch genau das
Gegenteil. Die NATO torpedierte alle Vermittlungsbemühungen, die
Zahl der bisherigen Opfer des Krieges wird auf 60000 geschätzt.
60000 Libyer haben also den »Schutz« der NATO nicht überlebt.
Oder besteht der gefeierte Erfolg womöglich doch nur in der
Liquidierung des unbequemen Gegenspielers Muammar Al-Ghaddafi?
Dann sind natürlich Zehntausende Tote für die westliche Allianz zu
vernachlässigen.
Die Ermordung des libyschen Revolutionsführers Ghaddafi ist
exemplarisch für den ganzen Krieg und unterstreicht einmal mehr
dessen verbrecherischen Charakter. Der Jubel westlicher Politiker
und Medien über seinen Tod zeugt nicht nur von einem rapiden
zivilisatorischen Verfall, sondern auch von der Unfähigkeit, aus
früheren Untaten zu lernen. In Afghanistan und im Irak ging der
Widerstand nach dem anfänglichen Triumph der Aggressoren erst
richtig los. Die aktuellen Siegesfeiern dürften sich daher sehr
schnell als genauso verfrüht erweisen wie George W. Bushs »Mission
accomplished« im Mai 2003.
Zuverlässige Informationen über die Umstände von Ghaddafis
Ermordung gibt es wie immer kaum. Doch wer genau ihn liquidierte,
ist zweitrangig. Sicher scheint, daß französische Kampfjets und
US-amerikanische Killerdrohnen seinen Konvoi zusammenbombten und
damit die siebenmonatige Jagd der NATO auf das faktische
Staatsoberhaupt eines einst souveränen Staates erfolgreich
abschlossen. Ihre Bodentruppen, die libyschen Rebellenmilizen,
mußten – wie immer – das Werk nur noch vollenden.
Die NATO sagte nach Mafiaart, sie habe nicht gewußt, wer alles im
Konvoi ist und nur – als eine Art rabiate Verkehrspolizei – auf
dessen hohe Geschwindigkeit reagiert. Der BND, der auch Anspruch
auf einen Anteil am Erfolg anmeldet, steckte dem Spiegel jedoch,
daß ihm der Unterschlupf Ghaddafis in Sirte »seit Wochen« bekannt
gewesen sei. Das klingt nach Prahlerei, vermutlich hatten die
deutschen Spione nur Hinweise darauf, daß er sich in einem Teil
von Sirte befand. Plausibler sind die Meldungen, daß die NATO
durch Erfassen von Funktelefonsignalen den ungefähren
Aufenthaltsort ermitteln konnte. Als sich aus dem mutmaßlichen
Stadtviertel Fahrzeuge in Bewegung setzten, wurden sie durch
Kampfbomber und Drohnen gestoppt und größtenteils zerstört.
Mit ziemlicher Sicherheit waren dann auch schon Spezialeinheiten
der NATO-Armeen zusammen mit Rebellenmilizen in der Nähe des
Geschehens. Dem israelischen Militärinformationsdienst DebkaFile
zufolge legen »Berichte militärischer Quellen« sogar nahe, daß es
erstere waren, die Ghaddafi aufspürten und gefangen nahmen (siehe
auch Spalte). Sie hätten ihm in beide Beine geschossen und
anschließend den Misurata-Milizen übergeben, überzeugt, diese
würden ihn umbringen.
Es handelt sich somit bei der Aktion zunächst um ein weiteres
Kapitel des extrem ungleichen Kampfes zwischen den Verteidigern
der libyschen Souveränität und den angreifenden NATO-Mächten.
Letztere verfügen über die stärksten Streitkräfte der Welt und
brachten das modernste Arsenal an Waffen, Aufklärungssystemen und
Mitteln der psychologischen Kriegsführung zum Einsatz. Satelliten,
Kampfjets und Drohnen ermöglichen es ihnen, aus der Luft nahezu
jede größere Bewegung des Gegners zu entdecken und alles, was
verdächtig erscheint, ohne Gefahr für sich selbst anzugreifen und
– auch rein prophylaktisch – mit ungeheurer Feuerkraft
auszulöschen. Spezialeinheiten erkundeten und markierten zu
zerstörende Gebäude und Infrastrukturanlagen, leiteten die
Aktionen der Rebellenmilizen und steuerten das Eingreifen von
Kampfjets und -hubschrauber in die Bodenkämpfe. Daß sich Sirte
unter diesen Bedingungen zwei Monate halten konnte, wird
vermutlich in die Heldengeschichten des afrikanischen
Unabhängigkeitskampfes eingehen.
Nicht nur der DebkaFile-Bericht legt nahe, daß es wahrscheinlich
Milizen aus Misurata waren, die Muammar Al-Ghaddafi und seinen
Sohn liquidierten. Dafür spricht auch, daß die Leiche nicht in die
Hauptstadt, sondern nach Misurata geschafft und dort zur Schau
gestellt wurde. Die Milizen, die bereits durch ihr brutales
Vorgehen in den Nachbarorten berüchtigt wurden, zeigen wenig
Neigung, sich denen aus Bengasi, die nun die Führung des ganzen
Landes beanspruchen, unterzuordnen.
Auf ihr Konto ging vermutlich auch die Exekution von 53
Ghaddafi-Anhängern im Hotel Mahari. An dessen Eingang und an Wände
im Innern gemalt, fand man die Namen von fünf bekannten »Brigaden«
aus Misurata, die dort wohl ihre Basis hatten: die Tiger-Brigade
(Al-Nimer), die Unterstützungsbrigade (Al-Isnad), die
Jaguar-Brigade (Al-Fahad), die Löwen-Brigade (Al-Asad) und die
Zitadellen-Brigade (Al-Qasba). Man sollte sich die Namen merken.
Es steht zu befürchten, daß man auch in Zukunft noch von ihnen
hören wird.
Rückfall
Westliche Partylaune und Scheinwelten
Von Joachim Guilliard
03.11.2011 / Schwerpunkt / Seite 3
http://www.jungewelt.de/2011/11-03/048.php
Nicht nur der NATO-Angriff auf Libyen ist ein Rückfall ins 19.
Jahrhundert, in die Zeit der Kolonialkriege. Auch die westlichen
Medien fallen auf die moralischen Standards dieser Zeit zurück. So
herrschte auf allen Fernsehkanälen und im größten Teil der
Printmedien unverhohlene Freude über den Tod Muammar Al-Ghaddafis.
Nicht wenige Kommentatoren sahen Vorteile darin, daß das libysche
Staatsoberhaupt liquidierte wurde. Für fast alle stand die Freude
im Vordergrund, daß er ein für allemal ausgeschaltet ist. Man
erachtete es als nebensächlich, wie er zu Tode kam.
Zu den besonders widerlichen Beispielen gehört der Leitartikel von
Julia Gerlach »Ein Grund zu feiern« in Frankfurter Rundschau und
Berliner Zeitung, in dem sie verkündet: »Der Tod von Muammar
Al-Ghaddafi ist erst einmal ein Grund für eine Party«. Daß der
Gefangene liquidiert wurde, habe »auch etwas Gutes: Ghaddafi im
Gefängnis und vor Gericht hätte sicherlich keine Gelegenheit
ausgelassen, weiter Unruhe zu stiften und für Verwirrung zu
sorgen«. Auch sogenannte Experten begrüßten seine Ermordung. »Der
große Vorteil« sei, daß nun kein Gerichtsverfahren stattfinden
müsse, meint der Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen
Welt an der Universität Mainz, Günter Meyer, im Deutschlandfunk.
Wer so in Partylaune ist, wie Gerlach und Kollegen, den
interessiert es natürlich nicht, daß dem Angriff auf Ghaddafis
Konvoi eine zweimonatige Bombardierung und Belagerung der
Küstenstadt Sirte vorausgegangen war, durch die sie weitgehend
zerstört und mehrere Tausend Bewohner getötet wurden. »Die
Heimatstadt Ghaddafis wurde ins finstere Mittelalter gebombt«,
meldete BBC-Reporter Wyre Davies direkt aus dem Ort. Afrikanische
Kommentatoren verglichen Sirte bereits mit dem irakischen
Falludscha oder dem baskischen Gernika. Tatsächlich wurde an Sirte
ein Exempel statuiert, das als Warnung weit über das angegriffene
Land hinaus dienen soll.
Die meisten Medien bauen sich in ihren Berichten eine hübsche
Scheinwelt vom »befreiten Libyen« zusammen, indem sie alles
ausblenden, was nicht zum Bild paßt – z.B. auch die Greueltaten
der aufständischen Milizen bei der brutalen Verfolgung aller, die
man der Loyalität zum bisherigen Regime verdächtigt.
Die moralische Verkommenheit der Berichterstattung wird dabei
meist noch durch Dummheit und Ignoranz übertroffen. Jetzt, wo der
ehemalige Machthaber tot ist, so tönen die Kommentatoren, würden
seine Anhänger aufgeben. Der Krieg sei nun vorüber, und ein neues,
freies und glückliches Zeitalter könne nun endlich anbrechen. Doch
nur wer den Krieg in Libyen auf einen Kampf der Aufständischen
gegen Ghaddafi reduziert, oder gar das Bild »Diktator gegen das
Volk« für bare Münze nahm, kann glauben, daß er nun zu Ende ist.
Es gibt jedoch weder Grund zur Annahme, daß der Widerstand gegen
die NATO und ihre libyschen Verbündeten nun vorbei ist, noch zu
der, daß die neuen Herren dem Land eine fortschrittliche
Entwicklung bescheren werden – ganz im Gegenteil.
Mordmandat?
Im Rahmen des Normalen
http://www.jungewelt.de/2011/11-03/049.php
Der Focus berichtet in seiner aktuellen Ausgabe, Frankreich und
die USA hätten von vornherein den Tod Ghaddafis zum Ziel gehabt
und nicht seinen Prozeß. Das in München erscheinende Wochenmagazin
beruft sich auf die französische Zeitung Canard Enchaîné. »Obwohl
die NATO-Mission in Libyen in dieser Woche zu Ende geht, lediglich
den Schutz der Zivilisten vorsah, hätten eine US-Drohne und zwei
Mirage-Kampfjets den Fluchtkonvoi Ghaddafis beschossen. Zudem
sollen sich in Sirte 50 französische Elitesoldaten aufgehalten
haben, die nicht eingeschritten seien, als Ghaddafi gelyncht
wurde.« Focus gegenüber habe ein Diplomat aus dem französischen
Außenministerium bestätigt: »Das gehörte nicht zum NATO-Auftrag,
aber man soll nicht scheinheilig tun: Die Alliierten haben
mehrfach versucht, Ghaddafi zu liquidieren. Wenn er dann auf der
Flucht stirbt und dies manchen Staaten entgegenkommt, bewegt sich
das doch im Rahmen des Normalen.«
Sam Nujoma, der langjährige Präsident Namibias (1990–2005),
äußerte sich schockiert über die »von Ausländern gesponserte
Ermordung von Libyens Führer Muammar Al-Ghaddafi«. Diese müsse für
Afrika als Lehre dienen, daß fremde Aggressoren bereit sind, sich
auf den Kontinent zu stürzen. Der Feind sei auf Beutezug und werde
Afrika jederzeit angreifen, solange der Kontinent gespalten
bleibe.
Der Zürcher Tagesanzeiger meldete am Montag zur Lage in Sirte:
»Große Teile der Stadt am Mittelmeer mit ihren von Palmen
gesäumten Boulevards sind zerstört. Ganze Viertel sind
unbewohnbar, in den Wänden rußgeschwärzter Häuser klaffen
Einschußlöcher. Es gibt keinen Strom, kein Wasser. Auf den Straßen
voller Trümmer steht die Brühe, die aus geborstenen Leitungen
austrat. (…) Nach sechswöchigen Kämpfen kochen heute viele der
140000 Einwohner vor Zorn über die aus ihrer Sicht willkürliche
Verwüstung, die Regimegegner angerichtet hätten. (…) Unter
Ghaddafi habe es Sicherheit und Arbeit gegeben, sagt der
Lastwagenfahrer Muftah Mubarak im 2. Bezirk, an den Unruhen sei
ausländische Einmischung schuld. Die Ghaddafi-Gegner nennt er
Ratten. Libyen sei voller Waffen, bald könne es einen weiteren
Bürgerkrieg geben. Beim Losfahren steckt er den Kopf aus dem
Fenster seines Lkw und ruft den Schlachtruf des alten Regimes:
›Nur Allah, Muammar und Libyen!‹« (jW)
Ausführliche Analyse im Internetblog des Autoren: jghd.twoday.net/