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junge Welt, 11. November 2006 (Wochenendbeilage)
Dr. Henning Melber, 1950 in Westdeutschland geboren, 1967 mit
seinen
Eltern nach Namibia ausgewandert, trat bereits 1974 als einer der
ersten Weißen der antikolonialen Befreiungsbewegung SWAPO bei. 1990
wurde Namibia unabhängig. Nach einigen Jahren Forschungs- und
Lehrtätigkeit an der Universität Kassel leitete Melber von 1992 bis
2000 das namibische Forschungsinstitut NEPRU, danach wechselte er als
Forschungsdirektor an das Nordic Africa Institute in Uppsala (bis
2006).
Seit 1. November ist er Direktor der schwedischen
Dag-Hammarskjöld-Stiftung.
Der Völkermord an den Herero und Nama, begangen ab 1904 von
deutschen Kolonialtruppen im Südwesten Afrikas, spielt hierzulande kaum
eine Rolle – weder in der Geschichtsschreibung, noch auf politischer
Ebene oder im öffentlichen Bewußtsein. Wie ist der juristische Umgang
damit?
Der Völkermord an den Herero und Nama kann in Deutschland
geleugnet werden, ohne daß es strafrechtliche Folgen hätte – im
Gegensatz zu Auschwitz. Ich bin mir aber auch nicht sicher, ob es ein
probates Mittel wäre, dieses zu ändern. Das würde zwar den öffentlichen
Diskurs um den ersten Genozid des zwanzigsten Jahrhunderts und seine
Anerkennung befördern, doch sollte das auch auf anderem Weg als mit
strafrechtlichen Restriktionen möglich sein.
Wie soll das geschehen, zumal vor allem die elektronischen
Medien das Thema Namibia derzeit ungewohnt gehäuft präsentieren? Da
wird in TV-Soaps und Reisereportagen die deutsche Kolonialgeschichte
weichgespült und der Völkermord relativiert. Fleißige Deutsche
kultivieren das Land und lehren die zwar freundlichen, aber unwissenden
Schwarzen den Bau der Eisenbahn. Hat da eine Aufklärung überhaupt eine
Chance?
Kaum. Wir verfügen nicht über die Medien, und in den
Schulen hat sich wenig getan. Es wird also weiter eine Relativierung
der deutschen Kolonialgeschichte stattfinden. In diesem Zusammenhang
wäre es aber schon interessant zu erfahren, wie die Akzeptanz
derartiger Verfälschungen durch Teile der Bevölkerung zustande kommt.
Es müßten die tiefenpsychologischen Wurzeln offengelegt werden, die es
ermöglichen, daß es nach wie vor gelingt, Kolonialgeschichte
relativierend darzustellen – so wie das auch eine Zeitlang im Umgang
mit dem deutschen Faschismus geschah. Da war klar, daß in der Debatte
über kurz oder lang der Hinweis auf die Hitlerschen Autobahnen kam und
auf die Verringerung der Arbeitslosigkeit. So wurde letztlich das
Verbrecherische des Naziregimes verdeckt.
Ist der Völkermord von Berlin offiziell anerkannt?
Eine klare Antwort darauf ist auch über hundert Jahre
danach schwierig. Die vier Nachkriegsjahrzehnte hindurch wurde er in
der BRD nicht anerkannt. Im August 2004 dann hat Heidemarie
Wieczorek-Zeul als die für Entwicklungspolitik zuständige Ministerin
bei einer Gedenkfeier in Namibia davon gesprochen, daß unter
Zugrundelegung des heutigen Rechtsverständnisses die Ereignisse von
1904 und danach dem Tatbestand eines Völkermords gleichkommen. Und daß
ein General von Trotha, der Befehlshaber der Schutztruppen war, nach
heutigen Rechtsnormen für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen
werden müßte.
Das äußerte eine einzelne Ministerin– und dazu eines Ministeriums,
das nun nicht gerade die größte Bedeutung hat in Deutschland. Es fand
keinerlei Niederschlag in einer offiziellen parlamentarischen
Entschließung des Bundestags. Es fand keine Entsprechung in Form von
Verlautbarungen des Auswärtigen Amtes oder des Außenministers
geschweige denn des Kanzlers oder des Bundespräsidenten. Von daher ist
die Bedeutung dieser Entschuldigung ungeklärt: Ist sie nun
staatsoffiziell oder ministeriell?
So oder so blieb Wieczorek-Zeuls Rede vom August 2004
folgenlos. Seitdem herrscht seitens Berlins das große Schweigen in
dieser Sache. Welche Konsequenzen hätte es geben müssen?
Die Anerkennung der Notwendigkeit von
Kompensationsleistungen und Reparationszahlungen – in welcher Form auch
immer. Das kann ausgehandelt werden.
Welche Vorstellungen gibt es hierzu?
Es wurde unter anderem ein Fonds vorgeschlagen, der
Infrastrukturmaßnahmen in den Gebieten der damals am meisten
betroffenen Bevölkerungsgruppe finanziert. Die durch die damalige
Vernichtungsstrategie geschaffenen und seither gesellschaftlich
verankerten Benachteiligungen, die im nachkolonialen Namibia weiter
bestehen, sollten zugunsten der Nachkommen der damals Betroffenen
gemindert werden. Bis heute bleiben die strukturellen Folgen des
begangenen Unrechts erkennbar, indem auf dem früheren Herero- und
Nama-Land weiße kommerzielle Farmer leben und darüber als ihr
Privateigentum verfügen. Grundsätzlich geht es ausdrücklich um eine
Kompensationsleistung als Ergebnis des Eingeständnisses von Unrecht,
das in deutschem Namen begangen wurde.
Um welche Geldbeträge würde es sich handeln?
Natürlich wären es höhere Summen als die derzeit im
Gespräch befindlichen 160 Millionen Namibia-Dollar (20 Millionen Euro)
für eine von der BMZ-Ministerin angeregte »Versöhnungsinitiative«. Aber
auch diese stellen genau betrachtet für Deutschland nicht das
Haupthindernis dar für einen Schritt in Richtung Schuldanerkennung,
Wiedergutmachung und Versöhnung. Was immer der Betrag wäre, ließe sich
genau besehen für das bundesdeutsche Säckel verschmerzen.
Was hindert die reiche Bundesrepublik, den Völkermord
anzuerkennen, die Gelder lockerzumachen, zumindest den Anschein von
Reue zu erwecken und souverän damit umzugehen?
Einerseits ein Kräfteverhältnis, das es der
Bundesregierung erlaubt, diese praktische Schuldanerkennung einfach zu
verweigern. Es gibt keine politischen Kräfte, die das entsprechend
einfordern könnten, denn die Herero und Nama sind ja nicht die Sieger
gewesen. Sie waren die Verlierer, und sie hatten zudem bis vor kurzem
auch in Gestalt der namibischen Regierung keine Fürsprecherin, die sie
nachhaltig unterstützen würde. Zum anderen rüttelt es an ein
Grundverständnis, koloniales Unrecht nicht zu kompensieren. Dies geht
mit der Befürchtung einher, mit einem solchen Schritt würde die Büchse
der Pandora geöffnet.
Ist also mit weiteren Reparationsforderungen zu rechnen?
Eigentlich nicht. Tatsächlich entspricht lediglich das
Vorgehen gegen die Herero und Nama der Definition von Genozid durch die
Völkerrechtskonvention. Das unterscheidet ihn auch von den meisten
anderen Formen kolonialer Massenvernichtung. Trotzdem würde dessen
Kompensierung durch Reparationen die grundsätzliche Frage aufwerfen,
wie denn jetzt zum Beispiel Großbritannien angesichts der neuesten
Erkenntnisse an Massenvergewaltigung, Folter und Vernichtung der Kikuyu
während des Mau-Mau-Aufstandes in den fünfziger Jahren in Kenia damit
umgehen würde – zumal dort noch direkt Überlebende die Reparationen
einfordern könnten. Oder wie sich Paris angesichts der Massengewalt,
Vergewaltigungen, Exekutionen, Folter der Algerier im Widerstand gegen
die französische Besatzung verhalten würde.
Das ließe sich angesichts der grundsätzlich blutigen
Kolonialgeschichte der Europäer und US-Amerikaner dann beliebig
erweitern...?
Wenn es zeitlich nicht gebunden ist an Überlebende,
sondern einfach an »Wiedergutmachung« von begangenem Unrecht, dann
landen wir früher oder später bei der Frage, die seit Jahren im Raum
steht: Wie stellen es sich Europa und die USA eigentlich vor, die
strukturellen Ungleichheiten, die durch den Sklavenhandel geschaffen
wurden, unter denjenigen zu kompensieren, die seither ständig die
global Benachteiligten waren?
Die postkolonialen Täterstaaten wehren sich gegen
Rechtsansprüche. Wie kann man sich das vorstellen: Haben sie sich
diesbezüglich international koordiniert oder zumindest abgesprochen?
Ich glaube, einer solchen Absprache bedarf es nicht. Die
Bundesregierung würde sich schon rein intuitiv nicht auf dieses
Minenfeld begeben. Ich schließe aber auch nicht aus, daß es bei der
einen oder anderen Begegnung im EU-Rahmen zu der einen oder anderen
Bemerkung en passant gekommen ist, mit der der Außenminister aus
Großbritannien, Frankreich, Portugal, Spanien, Belgien oder einem
anderen früheren Kolonialland den deutschen Kollegen zur Vorsicht
gemahnt hat. Aber das ist spekulativ. Ich halte es aber nicht für
abwegig.
Welche Chancen bestehen angesichts auch dieser
internationalen Barrieren, das Thema auf die Agenda der deutschen
Politik zu bekommen?
Es ist nicht davon auszugehen, daß sich im öffentlichen
Bewußtsein etwas bewegt, und wenn doch, dann eher wenig. Interessanter
ist die Entwicklung in Namibia. Einerseits wurde gerade die wochenlang
geführte parlamentarische Debatte beendet, und das Parlament entschied
sich einstimmig dafür, Berlin mit dem Thema Reparationsforderungen zu
konfrontieren. Ein entsprechender Entschließungsantrag war vom Herero-
Häuptling Kuaima Riruako als Initiator der Klage vor den US-Gerichten
im Parlament eingebracht worden. Die Sache der Herero und Nama wurde zu
einer nationalen Sache erklärt und die Forderung nach Reparationen
unterstützt. Die Bundesregierung hat ihren Bündnispartner in Gestalt
der SWAPO-Regierung in dieser Frage verloren. Das ist eine wesentliche
Akzentverschiebung.
Warum hat sich die Position der SWAPO verändert?
Nicht unwesentlich wirkte der Auftritt des
Linkspartei-Abgeordneten Hüseyin Aydin im August in Namibia. Er sei
Internationalist und empfände es als Skandal, daß der Entschuldigung
der Ministerin im August 2004 bisher keine Anerkennung von Kompensation
oder Reparation gefolgt ist, erklärte er als Gastredner bei den
Gedenkfeiern der Herero, wo er auch mit Regierungsvertretern sprach.
Die Rede des Abgeordneten einer nicht regierenden und
weitgehend abgeblockten Partei löst einen derart folgenreichen Prozeß
aus – wie ist das vorstellbar?
Warum das Wirkung zeigte, geht auf zwei Gründe zurück:
Einerseits vertritt Aydin eine Partei, die die Regierungsvertreter in
Namibia an das Deutschland erinnert, das bis 1989 den Befreiungskampf
der SWAPO unterstützt hat. Der »gute deutsche Staat« war mit dem
Mauerfall abhanden gekommen, lebt aber im SWAPO-Bewußtsein heute in der
Linkspartei indirekt weiter. Zum zweiten repräsentiert Hüseyin Aydin
von seiner Erscheinung und Herkunft her nicht den deutschen Mainstream,
sondern eine Minderheitengruppe, die selbst persönliche Erfahrung mit
Ausgrenzung, Unterdrückung, Marginaliserung und Diskriminierung
besitzt. Auch dadurch wurden Tore dafür geöffnet, sich mit Forderungen
auseinanderzusetzen, die vorher abgeprallt waren.
SWAPO-Generalsekretär Ernest Ngarikutuke Tjiriange ist
selbst Herero und studierte in den Siebzigern mehrere Jahre in der
Sowjetunion – auch ein Grund für den innernamibischen Brückenschlag?
Er ist tatsächlich prädestiniert dafür, die Verbindung
zwischen Herero und Regierung herzustellen. Die war bisher schwer
möglich, da die Herero-Interessen von Gruppierungen vertreten wurden,
die für ihre Anti-SWAPO-Position bekannt sind. Noch vor zwei Monaten
hätte kein Mensch daran geglaubt, daß ein SWAPO-Generalsekretär im
Parlament die grundsätzliche Unterstützung der Herero-Forderung
erklären würde.
Wie sehen Sie das deutsche Verhältnis zu Namibia ohne DDR, zu der
die SWAPO ja herausragend gute Beziehungen hatte?
Es war von Pragmatik auf beiden Seiten geprägt. Eine
Bundestagsentschließung bediente sich bereits 1989 eines skandalösen
Euphemismus, als sie von der »besonderen historischen Verantwortung«
gegenüber Namibia redete und so den Völkermord verniedlichte. Aber die
SWAPO-Regierung hat keinen Anstoß genommen, daß unter Verweis darauf
die BRD die größte staatliche Geberin im Bereich von
Entwicklungshilfeleistungen wurde. Die bilateralen Beziehungen sind
kein Liebesverhältnis, sondern ein pragmatischer Pakt unter
Regierungseliten. Als Präsident Sam Nujoma 1996 und 2002 auf
Staatsbesuch in Deutschland war, wurde allerdings auch augenscheinlich,
daß er sich im Osten am wohlsten fühlte, während in der alten BRD schon
seine Körpersprache ein sehr distanziertes Verhältnis zum Ausdruck
brachte.
Die Erfahrungen mit dem solidarisch agierenden
Realsozialismus prägten die SWAPO sicherlich auch programmatisch mit.
Was ist heute gemessen am ursprünglichen Anspruch der SWAPO noch
sozialistisch?
Nichts. Die Loyalitäten der Vergangenheit existieren auf
einer Gefühlsebene. Es ist die Affinität zu einem System, mit dem man
vertraut war, in dem man sich sicher fühlte. Verwundete Kämpfer der
SWAPO wurden in DDR-Krankenhäusern gepflegt. Die DDR war ein Land, dem
die Befreiungsbewegung mehrere hundert der eigenen Kinder anvertraut
hat, um sie zu erziehen, zu sozialisieren. Das Gefühl gegenüber dem
Osten ist immer noch anders als dem feindlichen kapitalistischen Westen
gegenüber– selbst wenn dann die Regierungspolitik der SWAPO inzwischen
eher einem neoliberalen Programm verpflichtete ist.
Als in Namibia im November 1989 die Volksabstimmung über
die verfassungsgebende Versammlung durchgeführt wurde, fiel gerade die
Mauer in Berlin. Als Namibia im März 1990 unabhängig wurde, wählte die
DDR gerade eine antikommunistische Regierung. Es drängte sich
seinerzeit der Eindruck auf, als hätte die SWAPO schnell und
pragmatisch die Vergangenheit entsorgt, oder?
Vielleicht. Aber doch tut sich manch Überraschendes auf
der Ebene von emotionalen Affinitäten. So waren zu den
Unabhängigkeitsfeiern 2005, anläßlich derer auch der neue
Staatspräsident Hifipekunye Lucas Pohamba als Nachfolger von Sam Nujoma
vereidigt wurde, zwei deutsche Ehrengäste eingeladen: Der frühere
BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der sich aufgrund seiner
Integrität bei den Verhandlungen um die UNO-Resolution 435 zur
Unabhängigkeit 1989 hohes Ansehen erworben hatte bei der SWAPO, und
Margot Honecker. Genscher erschien aus Krankheitsgründen nicht, doch
Margot Honecker, die aus Chile angereist war, saß bei der
Fernseh-Live-Übertragung auf der Ehrentribüne drei Stunden lang voll im
Bild.
Das wird die Bundesregierung nicht gefreut haben.