In den Diskussionen über Ehrenmorde und Zwangsheiraten sollten
komplexe Sachverhalte weder reduziert, noch soziologisch verzerrt oder
unverhältnismäßig überbewertet werden, wie Sabine Schiffer am Beispiel
Necla Keleks und Seyran Ates erläutert.
Ehrenmorde
und Zwangsheiraten müssen gesetzlich streng geahndet werden, jedoch
sollte sich in der Integrationsdebatte der politische und mediale Blick
nicht allein auf diese Problematik verengen
Bassam Tibi ist out – eine Reihe junger Frauen hat seine
Rolle
übernommen. Als Ankläger gegen den Islam mit Insiderblick werden sie
gerne als Kronzeugen gegen die Verwerflichkeiten einer Religion
benutzt, die man nur von bestimmten Thematisierungen kennt.
Gemeinsam
kämpfen sie gegen einen für rückständig und reaktionär erklärten Islam,
den sie als Grund vielen Übels ausgemacht haben.
Innenperspektive als eine von vielen Blickwinkeln
Die
deutschsprachige Seyran Ates ist seit einiger Zeit Lieblingsgast bei
beim TV-Sender "arte". Sie zeichnet sich durch eigene Betroffenheit
aus, was ja zunächst niemanden disqualifiziert – eine
"Innenperspektive" ist eigentlich eine wertvolle Bereicherung, aber
eben auch nur eine von vielen verschiedenen solcher Blickwinkel.
Mit
17 Jahren floh Seyran Ates aus ihrem sehr repressiven Elternhaus. Bei
einem Attentat auf einen Kreuzberger Frauenladen, in dem sie arbeitete,
um ihr Jurastudium zu finanzieren, wurde sie lebensgefährlich verletzt
und benötigte 6 Jahre zur Rekonvaleszenz. Heute setzt sie sich als
Anwältin für Frauen ein, die eingesperrt, misshandelt oder
zwangsverheiratet werden.
Seyran Ates hat es erlebt, dass man
bestimmte kulturelle Vorgaben als islamisch gerechtfertigt dargestellt
hat. Und dies führt sie heute gegen eine vermeintliche Dominanz
islamischer Werte an. Diese Werte und nicht deren Instrumentalisierung
empfindet sie als Problem.
Ihre Beobachtungen sind auch
sicherlich relevant, um gesellschaftliche Missstände anzuprangern, nur
sollte dies im angemessenen Zusammenhang erfolgen.
Popularisierte Erlebniserzählungen
Dabei
müsste dies eigentlich ihrer Kollegin Necla Kelek gelingen, zumal diese
ihre Erkenntnisse in einer wissenschaftlichen Arbeit evaluieren konnte.
Die Soziologin hatte mit ihrer Doktorarbeit auch ein durchaus
differenziertes Ergebnis vorgelegt. Breite Resonanz fand das Buch
jedoch nicht in seiner Originalfassung, sondern als popularisierte
Erlebniserzählung mit wissenschaftlichem Impetus – und diametral
entgegen gesetzter Aussage.
Die wissenschaftliche
Herausforderung und Problematik der Soziologie besteht mitunter darin,
dass umfangreiche Faktensammlungen ausgewertet, mögliche Zusammenhänge
geprüft und schließlich mehrere Faktoren als Bedingungen für bestimmte
Verhaltensweisen analysiert werden müssen.
So weit so gut und
differenziert. Undifferenziert wird die Arbeit jedoch dann, wenn man
versucht, die gemachten Beobachtungen nur einem einzigen Faktor
zuzuordnen. Alles ist multikausal – und oft müssen Erklärungsmodelle
korrigiert werden, wenn man etwa die erste Faktensammlung um weitere
relevante Beobachtungen ergänzt.
Entsprechung anti-islamischer Lesererwartungen
Doch
so viel Komplexität ist für den "sensationslüsternen" Buch- und
Medienmarkt kaum dienlich. Wenn Necla Kelek sich mit ihrer reduzierten
und zugespitzten Publikation für diesen Wirkungskreis entschieden hat,
dann sollte sie auch als Meinungsmacherin und nicht als
wissenschaftliche Analytikerin und soziologische Beraterin behandelt
werden.
Dass sie überdies für die offensichtlich reißerische
Veröffentlichung von "Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des
türkischen Lebens in Deutschland" noch Preise, wie den
"Geschwister-Scholl-Preis" erhielt, zeugt nicht von einer vielfach
vermuteten Brillianz ihrer Arbeit, sondern vielmehr von einem Zeugnis
mangelnder Kritikfähigkeit des Publikums, vor allem bei Aussagen, die
der antiislamischen Lesererwartung entsprechen.
Alles was
unsere renommierten Kronzeuginnen, wie Ates oder Kelek, berichten ist
wahr. Es sind jedoch Einzelfälle, von denen auf das große Ganze
geschlossen wird. So existieren auch im Nahen Osten Zwangsheiraten,
genauso wie in Indien. Und in China werden viele Ehen arrangiert,
manchmal auch erzwungen – sogar auch in deren Communities in
europäischen Ländern.
Bezogen auf den Nahen und Mittleren
Osten muss jedoch festgestellt werden, dass diese Praxis in
christlichen, jüdischen und muslimischen Familien Anwendung findet –
nicht in jeder, aber vor allem in ländlichen Gegenden noch in
beklagenswerter Anzahl. Die Relation zwischen dieser Praxis und dem
Islam, die von Autoren wie Necla Kelek hergestellt wird, ist daher
schlichtweg falsch.
Oft handelt es sich einfach um eine
verantwortungslose Reduktion eines komplexen Sachverhalts auf eine
einzige Erklärung, die es uns nur vermeintlich einfach macht.
In
Wirklichkeit verhindert sie den Fortschritt in der Sache. Richtet man
die Anstrengungen gegen das zu Unrecht beschuldigte und hoch angesehene
Wertesystem der betroffenen Menschen, dann eröffnet man einen
"Nebenkriegsschauplatz", der von der eigentlichen Thematik nur ablenkt
und diese nicht mehr sachlich behandelbar macht.
Wir brauchen
also eine Verlagerung der Debatte hin zur Anprangerung grundsätzlich
aller Missstände ohne dabei nur einzelne Facetten aus zeitgemäßen,
politischen oder medialen Motiven übermäßig zu betonen. Nach wie vor
bleibt es eine feministische Aufgabe, die weltweiten patriarchalischen
Strukturen zu kritisieren, die sich jeweils regional äußern.