Jörg Kronauer, Redakteur beim Internetdienst
www.german-foreign-policy.com
Auszüge seines Beitrags auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz,
Beilage
der jW vom 29.01.2014
|
Jörg Kronauer (geb. 1968) studierte
Soziologie in Heidelberg und Marburg. Anschließend
nahm er seine Tätigkeit als Journalist mit den
Arbeitsschwerpunkten Neofaschismus und deutsche
Außenpolitik auf. Kronauer lebt und arbeitet in Köln.
Foto: Björn Kietzmann |
Mein Thema lautet: »1914–2014: Europapolitik des deutschen
Kapitals damals und heute«. Auf den ersten Blick mag diese
Themenstellung etwas eigentümlich klingen – aus zwei Gründen.
Zum einen sind 100 Jahre in der Entwicklung kapitalistischer
Gesellschaften eine lange Zeit; seit 1914 hat sich wirklich viel
verändert. Da stellt sich doch die Frage: Kann man die Politik von
1914 und diejenige von 2014 überhaupt sinnvoll vergleichen? Zum
zweiten steht das Datum 1914 für den Beginn des Ersten Weltkriegs,
während 2014 von einem Krieg zwischen den großen europäischen
Mächten keine Rede sein kann; im Gegenteil: Die EU, in der diese
Mächte sich zusammengeschlossen haben, hat – so lächerlich
das auch ist – 2012 den Friedensnobelpreis bekommen, weil es
seit ihrer Gründung keine Kriege mehr zwischen ihren
Mitgliedstaaten gab. Schließt nicht auch das einen vernünftigen
Vergleich zwischen 1914 und 2014 aus? Meine Ansicht wäre: nein.
(…)
Kriegsziele 1914
Es ist nicht nur legitim, sondern auch sinnvoll, genau
hinzuschauen und 2014 mit 1914 beziehungsweise die Europapolitik
des deutschen Kapitals damals und heute miteinander zu
vergleichen. Das ist natürlich ein ganz weites Feld, mit dem man
sich tage- und wochenlang beschäftigen könnte. Ich muß hier also
ein paar Themen herausgreifen. Dabei möchte ich zunächst auf
zentrale europapolitische Pläne des Jahres 1914 eingehen, und das
anhand denjeniger Vorhaben, die als so zentral galten, daß sie als
Kriegsziele formuliert worden sind. Man kann sie unter anderem in
diversen Kriegszieldenkschriften nachlesen.
Ich möchte zunächst die vielleicht wichtigste herausgreifen, das
sogenannte Septemberprogramm des damaligen Reichskanzlers Theobald
von Bethmann Hollweg vom 9. September 1914. Es gab andere
Kriegszieldenkschriften, etwa aus Kreisen der Schwerindustrie, die
teilweise sehr viel weiter reichende Forderungen aufstellten. Als
Reichskanzler hatte Bethmann Hollweg die Aufgabe, die damals
aktuellen, in Teilen durchaus divergierenden Forderungen zu einem
Programm zu bündeln, das als konsensfähig und realistisch gelten
konnte. Seine Kriegsziele unterscheiden sich daher zum Beispiel
von den krassesten Eroberungsfantasien der Alldeutschen. Sie sind
sozusagen ein Versuch, einen gemeinsamen Nenner der verschiedenen
deutschen Kapitalfraktionen zu finden, und sie nehmen dabei eine
Reihe schon länger diskutierter Vorschläge auf. (...)
Frankreich, Belgien und die Niederlande sollten als wirtschaftlich
vom Deutschen Reich abhängige Länder in einen übergeordneten
Verbund namens »Mitteleuropa« eingeordnet werden. Das
»Mitteleuropa«-Konzept war damals schon länger in der Debatte; im
Grundsatz ging es um den Aufbau einer multinationalen
Wirtschaftszone im Interesse der expandierenden deutschen
Industrie. Bethmann Hollweg sprach sich in seiner
Kriegszieldenkschrift für die »Gründung eines mitteleuropäischen
Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen« aus. Außer
Frankreich, Belgien und den Niederlanden sollten seiner Ansicht
nach Österreich-Ungarn dazugehören, im Osten Polen, im Norden
Dänemark, eventuell Schweden und Norwegen, im Süden möglicherweise
Italien. Über die Zielsetzung schrieb der Reichskanzler: »Dieser
Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter
äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich
unter deutscher Führung, muß die wirtschaftliche Vorherrschaft
Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.« Die Formulierung
wirkt im Kern wie eine Vorahnung auf die Europäische Union.
In seiner Kriegszieldenkschrift konzentrierte Bethmann Hollweg
sich auf den Westen, weil man Anfang September 1914 noch mit einem
schnellen Sieg über Frankreich rechnete. Über den Osten hieß es
lediglich: »Die Rußland gegenüber zu erreichenden Ziele werden
später geprüft.« Was man dort vorhatte, läßt allerdings eine
Denkschrift des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger vom 2.
September 1914 schon klar erkennen. Erzberger arbeitete damals in
der »Zentrale für Auslandsdienst«, einer Dienststelle des
Auswärtigen Amts. Anzustreben sei, schrieb er, die »Befreiung der
nichtrussischen Völkerschaften vom Joch des Moskowitertums und
Schaffung von Selbstverwaltung im Innern der einzelnen
Völkerschaften. Alles dies unter militärischer Oberhoheit
Deutschlands, vielleicht auch mit Zollunion«. Will sagen: Man
strebte an, Polen und die Ukraine, am besten auch Georgien sowie
die baltischen Staaten aus dem Zarenreich herauszubrechen, um es
zu schwächen und die eigene Hegemonialsphäre in Richtung Osten
auszudehnen. Im Kampf gegen die zaristische Reaktion stärkte das
Deutsche Reich übrigens sogar Vereinigungen wie den
sozialdemokratisch bis sozialrevolutionär orientierten »Bund zur
Befreiung der Ukraine«. Um seine Gegner zu schwächen, nahm Berlin
schon damals bei Bedarf auch fortschrittliche Kräfte in Anspruch.
(...)
Heutige Strategie
Die Rahmenbedingungen sind heute natürlich völlig andere als
damals. Konnte das deutsche Kapital 1914 noch lediglich einen
»mitteleuropäischen Wirtschaftsverband« inklusive Zollunion mit
maximal zehn Ländern fordern, so hat es heute komplette
Bewegungsfreiheit in der Europäischen Union mit ihren insgesamt 28
Mitgliedstaaten. (...) Im durchnormierten Wirtschaftsumfeld der EU
bewegt sich das deutsche Kapital wie der Fisch im Wasser. Und: Es
hat die letzten 15 Jahre genutzt, um sich die schon 1914
gewünschte wirtschaftliche Vormachtstellung zu erkämpfen.
Eine zentrale Rolle spielten dabei strategische Maßnahmen der Ära
Schröder/Fischer, vor allem die »Agenda 2010«. Ein Vergleich
zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik
und derjenigen etwa in Frankreich zeigt deutlich, was das deutsche
Kapital der rot-grünen Bundesregierung und der ihr folgenden
großen Koalition verdankt. Deutschland ist der einzige Staat in
der EU, in dem die Reallöhne zwischen 2000 und 2008 sanken –
um 0,8 Prozent. In allen anderen EU-Staaten stiegen sie, in
Frankreich etwa um 9,6 Prozent. (…) Mit seiner krassen
Austeritätsstrategie im Inland war es Berlin gelungen, dem
deutschen Kapital einen entscheidenden Vorteil gegenüber seinen
europäischen Konkurrenten zu verschaffen. Und das deutsche Kapital
verstand es, diesen Vorteil nachdrücklich zu nutzen. (…) Konnte
etwa Frankreich noch 1999 ein Außenhandelsplus von rund 39
Milliarden Euro verzeichnen, so geriet es in den folgenden Jahren
stark ins Minus – und zwar nicht zuletzt aufgrund der deutschen
Ausfuhr: Von Frankreichs Außenhandelsdefizit des Jahres 2010, das
mehr als 51 Milliarden Euro erreichte, gingen gut 30 Milliarden
auf das Konto deutscher Lieferanten. 2012 verdienten deutsche
Firmen sogar 40 Milliarden Euro mehr durch ihre Verkäufe nach
Frankreich, als sie für Einfuhren aus dem Nachbarland ausgeben
mußten. Die deutsche Industrie brummt, die französische fällt
zurück: Das deutsche Kapital dominiert strukturell.
Klar: Saugt man anderen Ländern mit dauerhaft exzessiven
Exportüberschüssen das Geld aus der Tasche, dann treibt man sie in
die Verschuldung. Darin liegt eine wichtige Ursache für die
aktuelle Euro-Krise. Berlin hat es tatsächlich geschafft, selbst
aus ihr noch Vorteile für das deutsche Kapital zu schlagen. Dazu
hat es erbittert und erfolgreich gegen das wirtschaftlich
angeschlagene Frankreich gekämpft. Letztlich ist es ihm gelungen,
der gesamten EU in der Krise die deutsche Austeritätspolitik zu
oktroyieren. Die Folgen sind brutal; man kann sie am stärksten in
Südeuropa sehen, wo die um sich greifende Verelendung seit einiger
Zeit sogar die Zahl der Suizide in die Höhe treibt. Die Grundidee
der deutschen Spardiktate ist dabei recht simpel: Weil das
deutsche Kapital weiterhin exzessiv exportieren will, sollen die
EU-Staaten, die durch den Kauf deutscher Waren ins Minus geraten,
halt so lange ihre eigenen Löhne und Nebenkosten drücken, bis sie
außerhalb der EU Abnehmer für ihre Produkte finden. Auf diese
Weise kann die EU womöglich sogar erfolgreich gegen China
konkurrieren. Die französische Wirtschaftszeitung Les Echos hat
das schon im Frühjahr 2010 erkannt. Sie schrieb damals: »›Europa
verarmt? Na und?‹ hört man jenseits des Rheins.« Der
Bundesrepublik gehe es eben darum, fuhr das Blatt fort, gegen
Staaten wie Indien oder China konkurrieren zu können. Soziale
Katastrophen in europäischen Nachbarländern seien ihr offenbar
egal. (…)
EU-Instrumente
Inzwischen ist das Instrumentarium der EU-Außen- und
Militärpolitik deutlich gewachsen. Da gibt es etwa den
Europäischen Auswärtigen Dienst, der in einigen Bereichen immer
stärkere Aktivitäten entfaltet – und dabei ungebrochen
nationaler Einflußnahme ausgesetzt ist. Den Berliner Interessen
kommt es zugute, daß einer der wichtigsten Posten mit einer
Deutschen besetzt ist: Helga Schmid, einst politische Beraterin
von Außenminister Klaus Kinkel und später Büroleiterin von
Außenminister Joseph Fischer, ist stellvertretende
Generalsekretärin für politische Fragen im Europäischen
Auswärtigen Dienst. In dieser Funktion war sie maßgeblich an den
Atomgesprächen mit Iran beteiligt, traf sich während der Proteste
in der Ukraine mit Anführern der dortigen Opposition oder
verhandelte mit hochrangigen Regierungsvertretern in China; das
alles ist kein Pappenstiel. Auf militärischer Ebene hat die EU
inzwischen unter anderem die sogenannten Battlegroups aufgebaut,
unterhält ein gemeinsames Europäisches Lufttransportkommando und
hat längst auch ihre ersten Militärinterventionen gestartet,
besitzt also ein gewaltiges Machtpotential. Allerdings ergeben
sich hier aus Sicht des deutschen Kapitals noch erhebliche
Schwierigkeiten; sie haben mit der immer noch schwärenden
Konkurrenz gegenüber dem französischen Kapital zu tun.
Der Grund ist denkbar einfach. Das französische Kapital hat seit
je eher erhebliche Interessen in seinen früheren afrikanischen
Kolonien; die französischsprachigen Staaten Afrikas, die
Frankophonie, gelten bis heute als traditionelles »Pré carré«, als
»Hinterhof« Frankreichs. Dabei handelt es sich nicht nur um
Mittelmeerländer wie Algerien und Tunesien, sondern auch um
Staaten südlich der Sahara. Viele von ihnen verfügen über wichtige
Rohstoffe für die Industrie. Anders das deutsche Kapital: Es hat
sich aus historischen Gründen stets stärker nach Osten gewandt,
hat aus Rußland Rohstoffe bezogen und Absatzmärkte in Ost- und
Südosteuropa gesucht. Die Interessen des deutschen und des
französischen Kapitals sind daher in vielen Fällen nicht wirklich
vereinbar.
Die Folgen zeigen sich seit den 1990er Jahren ganz deutlich in der
entstehenden gemeinsamen EU-Militärpolitik. Als es zu den ersten
Einsätzen europäischer Soldaten in Jugoslawien kam – zwar
noch nicht im EU-Rahmen, aber im traditionell deutschen
Expansionsgebiet –, da kam in Paris der Gedanke auf,
EU-Einsätze müßten nicht immer nur im deutschen Interesse
stattfinden, sondern könnten auch in französischsprachigen Staaten
Afrikas durchgeführt werden. Bonn verwahrte sich sofort dagegen.
Der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe dekretierte in
einem Interview: »Das Eurokorps ist kein Afrikakorps.« Tatsächlich
wurden Frankreichs Versuche, Interventionen in seinen ehemaligen
Kolonien und damit in seinem Interesse durchzusetzen, von
Deutschland systematisch gestört. Die beiden Einsätze in der
Demokratischen Republik Kongo 2003 und 2006 konnten nicht gänzlich
verhindert werden, wurden jedoch zeitlich strikt begrenzt. Der
EU-Einsatz im Tschad 2008/2009 wurde von der Bundesrepublik
erfolgreich sabotiert. Die EU-Intervention in Bosnien-Herzegowina
hingegen, die 2004 begann, dauert bis heute, ebenso der 2008
gestartete EU-Marineeinsatz am Horn von Afrika. Er schützt die
Seewege für den Handel europäischer Staaten mit China. Deutschland
ist der bedeutendste europäische Handelspartner der Volksrepublik
und hat daher an dem Einsatz das stärkste Interesse.
Rivalität mit Frankreich
Das Berliner Bestreben, die EU-Militärpolitik weitestgehend auf
das traditionelle Expansionsgebiet des deutschen Kapitals zu
lenken, bekommt seit einigen Jahren Gegenwind. Der frühere
französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat nach dem
Scheitern der Tschad-Intervention 2009 die militärische
Kooperation Frankreichs mit Großbritannien stark ausgebaut. Im
November 2010 schlossen die beiden Staaten die »Traités de
Londres«, die »Londoner Verträge«, wie sie in Paris genannt
werden: Vereinbarungen über eine weitreichende militärische und
rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit. Sie sehen unter anderem
eine Kooperation bei Flugzeugträgern und Nuklearwaffen und den
Aufbau einer schlagkräftigen gemeinsamen Eingreiftruppe von 6000
Soldaten vor. Das Wichtigste: Die militärische Kooperation läuft
halbwegs rund – das hat der Libyen-Krieg gezeigt. Wie alle
von Frankreich geforderten Kriege in Afrika wollte die
Bundesregierung ihn eigentlich ebenfalls sabotieren, scheiterte
damit jedoch. Inzwischen wird das französisch-britische
Militärbündnis in Berlin sehr ernst genommen; Regierungsberater
sprechen sogar von einer neuen Entente cordiale. Das zeigt einmal
mehr, wie nahe der Vergleich der Jahre 2014 und 1914 liegt: Die
Entente cordiale wurde 1904 von London und Paris
geschlossen – als Gegengewicht gegen das immer offenere
deutsche Machtstreben, das schließlich in den Ersten Weltkrieg
mündete.
Mit Blick auf die französisch-britische Militärkooperation hat die
Bundesregierung ihren Kurs bei EU-Interventionen inzwischen
modifiziert: Den Einsatz in Mali trägt sie in gewissem Maße mit,
um nicht Paris und London das Feld vollständig zu überlassen.
Zugleich verbindet sie ihre Teilnahme an der Intervention mit dem
Bemühen, in Mali und in einigen anderen Ländern der
westafrikanischen Frankophonie selbst stärker Fuß zu fassen. Als
der malische Präsident Ibrahim Boubacar Keïta im Dezember Berlin
besuchte, da sagte er zu, in diesem Frühjahr Mitarbeiter diverser
Ministerien aus Mali nach Deutschland zu schicken; man wolle hier
über die Verwendung deutscher Hilfsgelder in Höhe von 100
Millionen Euro entscheiden. So könnten etwa Ausrüstungsgegenstände
für Malis Militär von deutschen Unternehmen geliefert werden.
Präsident Keïta teilte mit, Deutschland genieße »in Mali den
diplomatischen Code 001«; das bedeute »in unserer
Diplomatensprache, daß Deutschland auf internationaler Ebene das
wichtigste Partnerland ist«. Bislang war dies Frankreich. Die
Rivalität zwischen Berlin und Paris wird also auch auf
afrikanischem Boden ausgetragen.
1914 hieß es in Bethmann Hollwegs »Septemberprogramm«, Frankreich
müsse »so geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu
erstehen kann«. Militärisch fehlt dazu noch ein erhebliches Stück;
ökonomisch aber ist Berlin auf dem besten Weg, dieses Ziel zu
erreichen. (…)
Der Machtkampf gegen Frankreich ist natürlich nicht der einzige in
Europa, den das deutsche Kapital gegenwärtig führt. Wichtige
Kämpfe gibt es auch im Osten, vor allem gegen Rußland, das mit dem
Zusammenbruch der Sowjetunion übrigens nicht nur als Systemgegner
ausgefallen ist, sondern auch all diejenigen Gebiete verloren hat,
die der Zentrumspolitiker Erzberger ihm schon 1914 nehmen wollte.
Ganz verschwunden ist der russische Einfluss in den 1991 neu
entstandenen Staaten vom Baltikum bis Zentralasien allerdings
nicht, wenngleich er unterschiedlich ausgeprägt ist – in den
baltischen Staaten schwach, in Belarus stark. Umkämpft ist
gegenwärtig vor allem die Ukraine. Als in Kiew 2005 nach der
sogenannten Orangen Revolution eine prowestliche Regierung ans
Ruder kam, da konnte das deutsche Kapital seine Investitionen
zunächst deutlich steigern; mit dem Wechsel zur gegenwärtigen,
eher prorussischen Regierung erhielten russische Unternehmen
wieder stärkeren Einfluß. Seit letztem Jahr spitzt sich der
Hegemonialkampf dramatisch zu, weil beide Seiten eine endgültige
Entscheidung zu erzwingen suchen: Berlin und Brüssel wollen Kiew
mit einem Assoziierungsabkommen an die EU binden, Moskau will es
hingegen in seine Eurasische Union integrieren. Beide Vorhaben
sind auf Dauer angelegt und schließen sich gegenseitig aus. (…)
Wozu das alles? Letztlich mit demselben Ziel, das schon der
Zentrumspolitiker Erzberger 1914 verfolgte: um die
Hegemonialsphäre Berlins nach Osten auszudehnen. Es liegt eben in
der Grundstruktur imperialistischer Mächte, daß sie expandieren,
um ihrem Kapital den Weg freizumachen; dabei stößt Deutschland
immer wieder auf andere Mächte, sei es Rußland im Osten oder
Frankreich im Westen. Diese Mächte wirtschaftlich zu schwächen
oder ihnen Einflußzonen zu nehmen, das sind Politiken, die unter
den verschiedensten historischen Bedingungen angewandt werden.
Insofern kann man tatsächlich aus einem Vergleich der
Europapolitik von 1914 mit derjenigen von 2014 Erkenntnisse
ziehen, die eine Einschätzung letzterer erleichtern.