Jean-Luc Mélenchon
Mitglied des Senats (Oberhaus der französischen Nationalversammlung)
für die Sozialistische Partei
Ich bin gegen den Boykott der Olympischen Spiele in Peking
Aus: www.jean-luc-melenchon.fr
, leicht gekürzt
Ich bin kein chinesischer Kommunist und ich werde nie einer sein. Aber
ich bin nicht einverstanden mit den Aktionen für einen Boykott der
Olympischen Spiele. Ich habe etwas gegen das Agieren von Robert Ménard
gegen diese Spiele. Ich lehne es ab, wie bei dieser Operation die
Geschichte Chinas umgeschrieben wird. Ich teile nicht die scheinheilige
Begeisterung für den Dalai Lama und das Regime, das er verkörpert. Für
mich wäre der Boykott der Spiele ein ungerechter und verletzender
Affront gegen das chinesische Volk. Wenn man das Regime von Peking
generell in Frage stellen wollte, hätte man das in dem Moment tun
müssen, als Peking die Olympischen Spiele zugesprochen wurden. Man
hätte China als Kandidat ablehnen und dies China sagen müssen. Was
jetzt geschieht, ist eine billige, ungerechte Beleidigung der Millionen
Chinesen, die sich die Spiele gewünscht haben und sie jetzt aktiv
vorbereiten. Für mich hat das Ganze einen üblen Beigeschmack von
Rassismus.
Ein Vorwand
Wenn ein Boykott mit derart schwerwiegenden Folgen organisiert
werden soll, dann dürfte der Sport, der etwas mit Offenheit und
Verbrüderung zu tun hat, nicht der rechte Platz dafür sein. Warum kein
Boykott im Bereich von Handel und Finanzen? Selbstverständlich schlägt
keiner der prominenten Aktivisten dieser Kampagne etwas Derartiges vor.
Wenn man wirklich etwas gegen die chinesische Regierung vorzubringen
hat, warum wird dann das Mindeste, was zu normalen zwischenstaatlichen
Beziehungen gehört, in diesem Fall nicht unternommen? Hat man sich an
den Präsidenten der Volksrepublik China gewandt? Wie viele der
Protestierer wissen überhaupt, wie er heißt? Hat man ihm Fragen
gestellt? Was hat er geantwortet? Hat man sich an den chinesischen
Ministerpräsidenten gewandt? (Wie hieß der doch gleich?) Ist der
chinesische Botschafter in Frankreich einbestellt worden und hat man
ein Gespräch mit ihm geführt?
Mit einem Dünkel, der einen rassistischen Beigeschmack hat, protestiert
man gegen eine Regierung, deren führende Vertreter nicht beim
Namen genannt werden und die man behandelt, als existiere sie gar
nicht. Das arrogante Abendland bringt es nicht fertig, die Namen derer
korrekt zu nennen, die die Schicksale eines Volkes von 1,4 Milliarden
Menschen lenken. Letztere hält man für so schwach, dass sie sich nur
von der politischen Polizei beherrschen lassen! Wenn ich das alles
sehe, dann erinnert mich das irgendwie an die Verachtung, die die
Kolonisatoren demonstrierten, als sie seinerzeit die Chinesen mit der
Waffe in der Hand zum Opiumhandel zwangen. Wenn man sich gegen das
politische Regime von Peking wenden will, dann sind die dafür
angewandten politischen Mittel allein darauf gerichtet, die öffentliche
Meinung des Westens zu diesem Thema nun endgültig gleichzuschalten.
Die Vorfälle in Tibet sind ein Vorwand. Ein Vorwand, geschaffen für ein
Publikum, das gewohnt ist, die ständige Wiederholung von Bildern als
Beweis zu nehmen, statt selber nachzudenken. Dabei ergibt schon ein
genaueres Betrachten dieser Bilder, dass die „Vorfälle von Tibet“ mit
einem Pogrom von „Tibetern“ gegen chinesische Händler begonnen haben.
In welchem Land der Welt wird gegen solche Ausschreitungen nichts
unternommen? Ist das Leben eines chinesischen Händlers weniger wert als
das eines „tibetischen“ Demonstranten, der ihn mit dem Knüppel auf der
Straße erschlägt? Hier Freundschaft für die Tibeter zu bekunden, ist
nichts anderes, als eine widerliche Variante von Rassismus gegen
Chinesen zu demonstrieren. Dieser wird von Fiktionen gespeist, die aus
Unwissenheit herrühren. Dass die Gegenmaßnahmen hart waren, kann als
gesichert gelten. Wie hat man sie zu bewerten? Die einzigen Zahlen, die
gebetsmühlenartig wiederholt werden, sind die der „tibetischen
Exilregierung“. Dabei hat die chinesische Regierung, wenn ich richtig
informiert bin, selbst eine Zahl von Toten und Verwundeten genannt, die
zeigen, dass auch sie den Ernst der Lage eingesteht. Unter allen
Umständen sollte man diese Informationen vergleichen. Man sollte
versuchen, den Ablauf der Ereignisse zu verstehen. Auch in
französischen und amerikanischen Vorstädten werden Straßenkrawalle mit
harter Hand unterdrückt. Das entschuldigt nichts. Aber es erlaubt,
diese Vorgänge zu anderen ins Verhältnis zu setzen.
Eine suspekte Person
Ich bringe hier meine klaren Vorbehalte zu den politischen Aktionen
von Robert Ménard, dem Hauptorganisatoren der antichinesischen
Kundgebungen in Frankreich, zum Ausdruck. Angeblich spricht er im Namen
der „Reporter ohne Grenzen“. Aber diese Organisation scheint im Moment
allein aus Herrn Ménard zu bestehen. Viele ehemalige Mitglieder des
Verwaltungsrates könnten eine Menge über das Demokratieverständnis
dieses Herrn gegenüber seinem eigenen Verband erzählen. Maxim Vivas hat
eine sehr beunruhigende dokumentarische Analyse über Ménard und dessen
Finanzierungsquellen erarbeitet. Wie dem auch sei, er scheint heute im
Namen aller zu sprechen – des Journalistenverbandes, der
internationalen Menschenrechtsorganisationen und selbst Amnesty
International. Manchmal spricht er sogar für den Dalai Lama. Er fordert
den Boykott der Spiele, was der Dalai Lama nicht tut. Der hat, im
Gegenteil, erklärt, das chinesische Volk verdiene diese Spiele. Robert
Ménard ist ein Verteidiger der Menschenrechte mit sehr variabler
Geometrie. Hat er eine einzige Aktion gestartet, und sei sie auch nur
symbolischer Art, als die USA die Folter legalisiert haben? Hat er sich
ein einziges Mal dafür eingesetzt, dass die Häftlinge von Guantanamo
das Recht auf anwaltlichen Beistand erhalten? Robert Ménards Verhalten
wirft schwerwiegende Fragen danach auf, von welchen Motiven er sich
leiten läst.
Das theokratische Regime ist nicht zu verteidigen
Tibet gehört seit dem 14. Jahrhundert zu China. Lhasa stand schon
unter chinesischer Hoheit, lange bevor Besançon oder Dôle unter die des
französischen Königs kamen. Ein Ereignis der chinesischen Revolution
als „Einmarsch“ von 1959 zu beschreiben, ist irreführend. Spricht
jemand davon, dass Frankreich in die Vendée „einmarschiert“ sei, als
die Armeen der Republik dort den Aufstand der Royalisten niederwarfen?
Der Dalai Lama und andere tibetische Würdenträger haben alles
akzeptiert, was das kommunistische China ihnen nach 1951 angeboten hat.
So hat zum Beispiel „Seine Heiligkeit“ es nicht verschmäht, den Posten
des stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalen Volkskongresses
(Parlament) auszuüben. Das lief so bis 1956, als das kommunistische
Regime beschloss, in Tibet und den angrenzenden Gebieten die
Leibeigenschaft zu beseitigen. Mit dem Bruch einer Tradition, den ich
voll und ganz billige, haben die Kommunisten Vorschriften abgeschafft,
die die Bevölkerung in drei Kategorien und neun Klassen einteilten, wo
das Menschenleben von sehr verschiedenem Wert war. So hatten die
Besitzer der Leibeigenen und Sklaven das Recht der Entscheidung über
deren Leben und Tod, einschließlich der Folter. Heute spricht niemand
mehr davon, welchen Status die Frauen im alten Tibet hatten. Aber man
kann sich darüber informieren, wenn es einen interessiert. Der
kommunistische Staat hat den gewaltsamen Kämpfen zwischen Lokalfürsten
des angeblichen Paradieses der Gewaltlosigkeit ein Ende gesetzt, ebenso
den blutigen Strafen, die die Mönche an Verletzern der von ihnen
gehüteten religiösen Vorschriften vollzogen. Die tibetische Version der
Scharia hat erst mit den Kommunisten ein Ende gefunden.
Der Aufstand von 1959 wurde von den USA im Rahmen des kalten Krieges
vorbereitet, bewaffnet, unterstützt und finanziert. Der schreckliche
„Einmarsch“ setzte der gesegneten Tradition des Regimes des Dalai Lamas
ein Ende. Seitdem gehen 81 Prozent der Kinder in Tibet zur Schule,
während es in der Zeit der Tradition nur zwei Prozent waren. Die
durchschnittliche Lebenserwartung der ehemaligen Leibeigenen des Tals
der Tränen von 35,5 Jahren ist in der heutigen chinesischen Hölle auf
67 Jahre gestiegen. Ebenso wie sich die „Vernichtung“ der Tibeter darin
zeigt, dass ihre Zahl seit 1959 von einer Million auf 2,5 Millionen
angestiegen ist. Aus all diesen Gründen ist mehr Umsicht und mehr
Respekt für die Chinesen angesagt als die Verbreitung lächerlicher
Klischees durch Leute, die weder für sich selbst, noch für ihre Frauen
und Kinder ein so jammervolles Regime wünschen, wie das der
buddhistischen Mönche von Tibet eines war.
Ich kann der „tibetischen Exilregierung“, in der Seine Heiligkeit fast
in allen Fragen das Sagen hat, keine Sympathie abgewinnen. Auch nicht
der Tatsache, dass ihr Mitglieder seiner Familie angehören, was für
eine Regierung, auch im Exil, doch sehr ungewöhnlich ist, von
Schlüsselposten in Finanzen und Verwaltung ganz zu schweigen. Ich
respektiere das Recht Seiner Heiligkeit, an das zu glauben, was er
verkündet. Aber ich nehme mir das Recht, das Konzept seines
theokratischen Regimes grundsätzlich in Frage zu stellen. Ich bin auch
total dagegen, Menschen schon im Kindesalter in Klöster zu stecken. Ich
bin gegen die Leibeigenschaft. Ich bin durch und durch ein Verfechter
der Trennung von Kirche und Staat und damit auch gegen jede
politische Machtausübung durch Religionsführer. Ich missbillige
grundsätzlich die Stellungnahmen des „Gottkönigs“ gegen die Abtreibung
und gegen die Homosexuellen. Wenn diese auch so gewaltfrei klingen und
stets von einem Lächeln begleitet sind, so halte ich sie für ebenso
archaisch wie sein ganzes theokratisches Konzept. Ich bin zwar gegen
den Schah von Iran gewesen, habe aber auch niemals Ayatollah Chomeini
unterstützt. Daher kann ich auch den Dalai Lama nicht unterstützen oder
ermutigen, weder in seiner Religion, die mich nichts angeht, noch in
seinen politischen Ansprüchen, die ich missbillige, oder gar seinen
separatistischen Ambitionen, die ich verurteile. Für mich erhebt sich
zum Beispiel die Frage, wozu der Dalai Lama einen Staat braucht, wenn
er seine Religion ausüben und seine Gläubigen führen will? Einen Staat,
den zu errichten, bedeutete, von China ein Viertel des heutigen
Territoriums abzutrennen! Würde seine moralische und religiöse
Autorität leiden, wenn er kein Gottkönig wäre?
Kriegshetze
Was das Völkerrecht und die Geopolitik betrifft, so ist das
Tibetprojekt, wie es heute so vehement verfochten wird, ein Faktor von
Gewalt, Krieg und Destabilisierung, der mit den Vorgängen auf dem
Balkan vergleichbar ist. Was für ein Tibet wird hier eigentlich
gefordert? „Groß-Tibet“, einschließlich der Provinzen Yunnan und
Sichuan, wo im ehemaligen Herrschaftsbereich der Mönche gleichzeitig
mit Lhasa Unruhen organisiert wurden? Zweifellos will kaum einer von
denen, die sich heute so über Tibet erregen, wirklich wissen, was dies
in der Praxis bedeutet. Nichts charakterisiert besser den
neokolonialistischen Paternalismus der probtibetischen Kampagne als die
Gleichgültigkeit gegenüber solchen Fragen, die Millionen von Menschen
und Jahrhunderte chinesischer Geschichte und Kultur einfach so in Frage
stellen.
Ich habe gelesen, dass die französischen Sportler ein T-Shirt mit einer
sehr allgemeinen Aufschrift tragen werden, die als politischer Protest
gedacht ist. Ich weiß sehr gut, dass das Motto „Für eine bessere Welt“
dort nicht rebellischer klingt als hier. Aber es könnte von den
Chinesen als unfreundlicher Akt aufgefasst werden, wenn es als eine
pro-Dalai-Lama-Losung präsentiert wird. Ohnehin liegt es ziemlich neben
den Regeln und Gebräuchen des internationalen Sports. Erinnern wir uns,
dass der Europäische Schwimmverband den Serben Milorad Cavic von der
Europameisterschaft im Schwimmen ausgeschlossen hat, weil er bei der
Siegerehrung ein T-Shirt mit der Aufschrift „Das Kosovo ist serbisch!“
getragen hat. Wird das berücksichtigt werden? Werden französische
Medaillengewinner, die mit einer als politisch präsentierten Losung
auftreten, von den Spielen ausgeschlossen? Natürlich nicht! Dabei
bedeutet Tibet für die Chinesen mindestens so viel wie das Kosovo für
die Serben. Vielleicht hinkt ja dieser Vergleich, außer, man
berücksichtigt die Absicht, den Gegner zu zerstückeln und sich selbst
in Szene zu setzen. Dabei ist durchaus wahrscheinlich, dass am Ende die
Angreifer das Nachsehen haben. Das wünsche ich sehr. Ich weiß, dass die
Interessen meines Landes und seine Werte nicht die sind, die man uns
gegenwärtig gern einreden möchte.
(Übersetzung aus dem Französischen: Helmut Ettinger)