»Zuerst das Recht auf Leben«
Politische Menschenrechte werden hierzulande instrumentalisiert,
soziale Rechte verdrängt. Kuba versucht, beides zu wahren.
Ein Gespräch
mit Ignacio Ramonet
Aus: Kuba 2006, Beilage der jW vom 19.07.2006
http://www.jungewelt.de/beilage/art/1157
Ignacio Ramonet ist Direktor der in Paris
erscheinenden politischen
Monatszeitung Le Monde Diplomatique. Er lehrt »Theorie der
audiovisuellen Kommunikation« an der Universität Denis-Diderot in
Paris. Ramonet ist zudem Ehrenpräsident von ATTAC Internacional
Herr
Ramonet, in den vergangenen Monaten sah sich Kuba aus ganz
unterschiedlichen Richtungen Angriffen ausgesetzt. Die
Menschenrechtspolitik Havannas wurde nicht nur im deutschen Bundestag,
sondern auch in anderen europäischen Staaten und im EU-Parlament
kritisiert. Weshalb diese Häufung?
Leider herrscht in
der EU auf Regierungsebene eine grundsätzlich feindliche Stimmung gegen
Kuba. Natürlich trägt zu dieser Haltung bei, daß die USA ihren Druck
auf die EU-Mitgliedsstaaten aufrechterhalten und mitunter sogar
erhöhen. Zuletzt wurde in Washington ja sogar eine eigene Kommission
gegründet, um die Kontinuität dieser Politik zu gewährleisten: die
»Beratungskommission für ein freies Kuba«. Leider sind die Europäische
Union und die große Mehrheit ihrer Mitgliedsstaaten nur allzu bereit,
sich diesem Druck zu beugen.
Und sie stellen das Thema der
Menschenrechte ins Zentrum ihrer Kritik an der sozialistischen
Regierung. Weshalb, denken Sie, geht die Solidaritätsbewegung mit Kuba
nicht offensiver mit diesem Thema um?
Es gibt durchaus
Aktivisten, die mit dem Thema der Menschenrechte objektiv umgehen, und
die sich nicht zu einer politisch motivierten Sicht auf Kuba hinreißen
lassen. Und auch innerhalb der Linken gab es ja eine solche Debatte,
nachdem im Frühjahr 2003 eine Reihe von Regierungsgegnern in Kuba
festgenommen und später zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt
wurden, obwohl sie keine Gewaltakte verübt hatten. Es waren auch viele
Freunde Kubas unter den Kritikern dieser Maßnahmen. Auf der anderen
Seite – und das ist der feine Unterschied – haben sich viele dieser
Kritiker auch dagegen ausgesprochen, daß die Menschenrechtsfrage
politisch gegen Kuba verwendet wird. Und das war absolut notwendig,
denn das erste Menschenrechts ist das Recht auf Leben. Vorrangig ist
das Recht auf Nahrung, das Recht auf medizinische Behandlung, das Recht
auf Arbeit. All das ist in Kuba weitaus stärker gewährleistet als in
den meisten anderen Staaten der Erde. Wenn in ganz Lateinamerika die
Kindersterblichkeit so gering wäre wie in Kuba, würden in dieser Region
pro Jahr Hunderttausende Leben gerettet, und seit dem Sieg der
Revolution wären es Millionen Menschen gewesen. Im Umkehrschluß würden
Hunderte Kubanerinnen und Kubaner heute nicht leben, ohne die sozialen
Erfolge der Revolution. Es gibt also keinen Grund, Kuba zu verstecken.
Die politischen Menschenrechte wie das Recht auf Meinungsfreiheit
...
...
müssen natürlich auch in Kuba diskutiert werden! Das hat aber nichts
mit der Kritik zu tun, die von Gegnern der Revolution vorgebracht wird.
Sehen Sie, die prominenten Gegner der sozialistischen Regierung in
Kuba, Oswaldo Payá oder Marta Beatriz Roque, fordern offen einen
Systemwechsel in Kuba und sind in der internationalen Presse präsent.
Ihnen ist nichts geschehen. Andere, die Anfang 2003 inhaftiert wurden,
sind inzwischen wieder in Freiheit.
Trotzdem werden die
politischen Rechte – nicht nur gegen Kuba – politisch
instrumentalisiert. Wie kann dieser Mißbrauch verhindert werden?
Das
ist ein weitreichendes Thema. Ich finde es spannend, daß viele
Vertreter des kubanischen Staates durchaus anerkennen, daß es auf Kuba
keine Meinungs-, Gedanken-, und Gewissensfreiheit für die Gegner der
Revolution besteht. Es gibt diese Rechte nicht für diejenigen, deren
Ziel es ist, die Revolution zu zerstören.
Fidel Castro hat das
schon im Juni 1961 in seinen »Worten an die Intellektuellen« vor dem
Schriftstellerverband UNEAC formuliert: »Innerhalb der Revolution
alles, gegen die Revolution nichts.« Er hat diese von seinen Gegnern
selbst oft mißbrauchte These damit begründet, daß »die Revolution auch
Rechte hat, allen voran das Recht zu existieren«.
Dieses Prinzip
greift heute der Regierung zufolge umso stärker, da sich Kuba de facto
in einem Kriegszustand befindet und ständig neue Attacken fürchten muß.
Es gibt deswegen eine erzwungene Einschränkung bestimmter
Freiheitsrechte. Trotzdem sind in Kuba derzeit 126 ausländische
Korrespondenten akkreditiert. Sie können sich frei bewegen und
schreiben, was sie wollen. Und Kuba ist ein offenes Land, das jährlich
von Millionen Menschen besucht wird. Es gibt also viele Möglichkeiten,
sich von der kubanischen Realität ein Bild zu machen.
Sie
haben die sozialen Menschenrechte angesprochen. In der Diskussion um
die Europäische Verfassung haben diese bei Ihnen in Frankreich, aber
auch in Deutschland und anderen europäischen Staaten eine wichtige
Rolle gespielt. Wie läßt sich das Vorbild Kuba nutzen?
Kuba
ist ein Vorbild, um die Unteilbarkeit der Menschenrechte zu
verdeutlichen. Die Gegner der sozialistischen Regierung führen doch
ein, zwei politische Rechte exemplarisch an, um Havanna diffamieren zu
können. Vor allem das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf
Gedanken- und Gewissenfreiheit. Besonders, wenn wir uns die
internationale Lage anschauen, geht es aber um viel mehr, als diese
beiden Rechte. Es geht um soziale, wirtschaftliche Garantien, die Kuba
den Menschen gewährt und die außerhalb Kubas nach und nach
verschwinden. Kein ernsthafter Bericht konnte bisher zudem nachweisen,
daß in Kuba gefoltert wird, daß in Kuba Menschen aus der Haft
verschwinden, daß Todesschwadrone ihren Terror verbreiten. All das
haben die Menschen in den Nachbarstaaten Kubas seit 1959 immer und
immer wieder erlebt. Während davon aber kaum mehr die Rede ist,
kursieren immer aufs Neue düstere Legenden über Kuba. Dabei ist dieser
Karibikstaat in vielerlei Hinsicht ein Musterbeispiel für
Menschenrechtspolitik. Aber das ist schwer zu vermitteln, denn mit
dieser Meinung steht man im Widerspruch zum medialen und politischen
Konsens.
Gelingt es der Rechten deswegen, ihre Meinungsführerschaft in der
Debatte um Menschenrechte zu halten?
Deswegen,
und weil die Linke von den der Erfahrung der Sowjetunion vielleicht
noch immer traumatisiert ist. Vielleicht hat sie den Schock des
Chruschtschow-Berichtes auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 noch
nicht überwunden. Ein Teil der Linken fürchtet offenbar, daß, wenn
morgen ein Systemwechsel auf Kuba stattfinden würde, die Existenz eines
kubanischen Gulag enthüllt wird. Es muß eine solche Haltung sein, die
viele dazu bringt, eine präventive Kritik zu äußern. Ich möchte daher
eines wiederholen: Keine seriöse Menschenrechtsorganisation hat je
einen Bericht über Kuba veröffentlicht, in dem der Regierung in Havanna
eine systematische und gewaltsame Unterdrückung der Opposition
nachgewiesen werden konnte, wie sie in Lateinamerika und der Karibik
über Jahrzehnte hinweg gang und gäbe war. Es gibt in Kuba – das
US-Lager Guantánamo im Osten der Insel ausgenommen – keine Folter. Es
werden in Kuba keine Vertreter der Opposition von Todesschwadronen
verschleppt und hingerichtet. Es gab nichts dergleichen in den 46
Jahren der Revolution. All diesen Tatsachen ungeachtet gibt es aber
natürlich einen politischen und medialen Konsens gegen Kuba. Dieser
Konsens hat zur Folge, daß man es in der Europäischen Union heute sehr
schwer hat, eine dissidente Meinung zu Kuba einzunehmen, weil man in
diesem Fall sofort der Komplizenschaft mit dem »Castro-Regime«
beschuldigt wird. Es gibt also so etwas wie eine Diktatur des Konsens'.
Und manche Vertreter der Linken vergessen allzu schnell, daß man
mitunter viel Mut und eine gehörige Portion an Ausdauer braucht, um
gegen den Strom zu schwimmen.
Interview: Harald Neuber