Johannes M. Becker
Aus: Kuba 2006, Beilage der jW vom 19.07.2006
http://www.jungewelt.de/beilage/art/1156
PD Dr. Johannes M. Becker ist Politologe und
Koordinator am Zentrum für Konfliktforschung (ZfK) der Marburger
Universität.
Kaum ein Staat hat eine solche Krise hinter sich und solche
Herausforderungen überwunden wie Kuba. Nach dem Kollaps der UdSSR und
ihrer sozialistischen Partnerstaaten brachen für Kubas Wirtschaft
Anfang der neunziger Jahre über 80 Prozent ihrer Auslandsmärkte weg.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank in nur 24 Monaten um 35 Prozent.
Nachdem die erste Hälfte der neunziger Jahre noch von der nationalen
Notwirtschaft bestimmt war, begann das BIP etwa ab 1995 langsam wieder
zu steigen. Und auch wenn die »Spezialperiode in Zeiten des Friedens«
noch nicht offiziell beendet wurde, scheint die Krise inzwischen
vollends überwunden. Im vergangenen Jahr erreichte der Zuwachs
erstaunliche 11,5 Prozent bei einer Inflation von vier Prozent.
Experten sahen Kuba Ende 2005 damit wirtschaftlich auf dem Stand vor
Ausbruch der Krise.
Neue Wirtschaftszweige
Bei einer Zwischenbilanz wird rasch
klar, daß die Maßnahmen, mit denen Havanna auf die Krise reagierte,
auch neue Wege für eine nachhaltige Entwicklung südlicher Staaten
generell aufzeigen. In der Landwirtschaft etwa wurde neben einer – wenn
auch erzwungenen – Hinwendung zu manueller Bewirtschaftung ein
radikaler Schwenk zur ökologischen Pflanzen- und Tierzucht vollzogen.
Durch das Konzept der »urbanen Agrarkultur« wurde mit Hilfe von 26000
Klein- und Kleinstbetrieben die Versorgung der städtischen Bevölkerung
mit Gemüse und Obst sichergestellt. Dezentralisierung und begrenzte
Privatisierung brachten rasche Erfolge.
Neben
der Einrichtung einiger hundert Mischunternehmen mit kubanischer
Mehrheitsbeteiligung wurde der Aufbau des Massentourismus
vorangetrieben. Kamen Ende der achtziger Jahre nur 200000 Touristen im
Jahr nach Kuba, so wird deren Zahl bis Ende 2006 wohl die
2,5-Millionen-Marke erreichen. Selbst wenn die sprunghafte Entwicklung
des Tourismus natürlich auch negative Konsequenzen mit sich brachte, so
haben die verantwortlichen Planungsstellen stets darauf geachtet, daß
die Einnahmen aus dem Geschäft der Bevölkerung zugute kommen. In den
letzten Jahren nun versucht man zudem, den Ausbau von Kultur-, Öko- und
Gesundheitstourismus zu fördern.
Kuba am Ende der Krise
Das Fazit nach 15 Jahren »Spezialperiode« ist eindeutig. Die drei
zentralen Prinzipien der kubanischen Politik – Aufrechterhaltung des
sozialistischen Systems, Wahrung der sozialen Errungenschaften und
Erhalt der nationalen Unabhängigkeit – blieben in den krisenhaften
neunziger Jahren trotz aller Widrigkeiten unberührt. Es wurde in dieser
Zeit keine Schule geschlossen, der Bildungsstandard des Volkes wurde im
Gegenteil weiter gehoben. Nach dem »Bildung-für-alle«-Index der UNESCO
(2004) gehört Kuba zu den höchstentwickelten Ländern der Welt im
Bildungsbereich. Es liegt damit gleichauf mit Kanada, Finnland und
Südkorea. Zudem wurde keine Klinik geschlossen; die
Säuglingssterblichkeit, ein belastbares Indiz für den Entwicklungsstand
eines Landes, wurde hingegen weiter gesenkt. Mit einer Rate von sechs
Promille liegt sie nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
damit inzwischen auf dem Niveau Deutschlands und der Schweiz. Die
Lebenserwartung wurde weiter gesteigert. Mit 75 Jahren bei Männern und
79 Jahren bei Frauen ist sie in der Inselrepublik so hoch wie in den
reichsten Staaten der Erde. Diese Ergebnisse wurden gerade erreicht,
weil Kuba von den neoliberalen Zwangsmaßnahmen der
Bretton-Woods-Institutionen Weltbank und Internationalem Währungsfonds
in den letzten zwei Dekaden verschont blieb.
Auswege aus der Isolation
International hat es Kuba zugleich
geschafft, die insbesondere von den USA betriebene Isolation zumindest
in bezug auf Südamerika zu durchbrechen. Anders als vor einem Jahrzehnt
ist der Karibikstaat weitgehend in lateinamerikanischen Bündnissen
integriert. Neben der bevorstehenden Reintegration in die Organisation
der Amerikanischen Staaten (OAS) ist hier Kubas führende Rolle bei der
»Bolivarischen Alternative für Amerika« (ALBA) zu nennen. ALBA ist als
Bündnis zwischen Venezuela, Kuba und Bolivien das konkrete Gegenmodell
zu der von den USA dominierten Freihandelszone ALCA; aus letzterer war
Kuba auf US-Druck als einziges Land der Region ausgeschlossen. 2005 hat
Kuba zudem für sechs Jahre den Vorsitz in der »Bewegung der Blockfreien
Staaten« übernommen, mit dem Ziel, dieses Bündnis neben der Gruppe der
77 wieder zu einem potenten Instrument für die Durchsetzung
außenpolitischer Interessen der Entwicklungsstaaten zu machen.
Die
neuen Beziehungen zur Volksrepublik China konnten stetig ausgebaut
werden. China bricht mit der Selbstverständlichkeit eines unabhängigen
Staates das von den USA ausgesprochene Verbot, Kuba Kredite zu
gewähren. Die Ergebnisse dieser Beziehungen sind offensichtlich, etwa
im öffentlichen Nahverkehr. Durch den Kauf von 1200 chinesischen Bussen
im vergangenen Jahr und weiteren 7000 bis Ende 2007 wird das
Transportproblem wohl endgültig überwunden sein. Solche Geschäfte sind
auch möglich, weil Kuba Kredite verläßlich zurückzahlt. Neben Devisen
werden die Importe mit Rohstoffen, vor allem Nickel, und
Dienstleistungen vergolten. Im Rahmen der »Misión Milagro« werden in
Kuba inzwischen Tausende Patienten pro Jahr aus den Ländern behandelt,
die den Inselstaat mit Rohstoffen beliefern oder ihm Kredite gewähren.
Rund 20000 kubanische Ärzte arbeiten dagegen derzeit in den
Armenvierteln Venezuelas.
Anstehende Aufgaben
Natürlich müssen viele Probleme noch
gelöst werden. Die negativen Auswirkungen vor allem des Tourismus und
der – wenn auch begrenzten – Privatisierungen sind ein Hauptthema auf
der Insel, zumal diese Entwicklung zur Existenz zweier Währungen, des
kubanischen Peso und des konvertiblen Peso (CUC), geführt haben. Der
unterschiedliche Zugang der Bevölkerung zum CUC, der 2005 den US-Dollar
als Devise abgelöst hat, ist die Hauptursache einer immer noch
wachsenden sozialen Kluft. Die Lösung für dieses drängende Problem
liegt allein in der Verbesserung der einheimischen Produktion und des
Dienstleistungssektors. Dadurch würde der kubanische Peso gestärkt, so
daß sich die Existenz einer Devisenwährung erübrigen würde. Einen
wichtigen Impuls dafür bietet zweifelsohne die wachsende Kooperation
mit Venezuela und Bolivien. Diese internationale Wirtschaftsvernetzung
hat dabei einen konkreten politischen Nebeneffekt. Je mehr Regional-
und Großmächte in Kuba präsent sind, und derzeit sind das neben der VR
China auch Rußland und Indien –, desto genauer wird man sich in
Washington überlegen, in Kuba militärisch zu intervenieren.