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Abzug ist die einzige Option

Bilanzen 2007. Heute: Irak. Tödlichstes Jahr der Besatzung. Britischer Rückzug aus Basra bringt Sicherheit

Von Joachim Guilliard 
junge Welt, 27.12.2007 / Ausland / Seite 7 (hier inkl. Quellenangaben)

Die Finanzierung der Kriege im Irak und Afghanistan steht nun praktisch auch für 2008. Mit großer Mehrheit bewilligten Repräsentantenhaus und Senat kurz vor Weihnachten eine erste Rate von 70 Milliarden US-Dollar für die Feldzüge von US-Präsident George W. Bush. Auch ein guter Teil der Demokraten stimmte wieder für ihre Fortführung. Möglich wurde dies auch durch eine veränderte Wahrnehmung des Kriegs im besetzten Zweistromland. Meldungen über einen Rückgang der Gewalt im Irak haben das Thema in den vergangenen Monaten aus den Schlagzeilen verschwinden lassen. Der US-Regierung ist es offensichtlich hervorragend gelungen, die im Januar begonnene Verstärkung der Kampftruppen als Erfolg zu verkaufen. Die Zahl der Angriffe hat laut Pentagon im Vergleich zum März um 62 Prozent abgenommen. Ebenfalls massiv gesunken sind die US-Verluste.

Propaganda überall

Der Rückgang der Gewalt ist allerdings nur vor dem Hintergrund des ersten Halbjahres bedeutsam. Damals waren im Zuge der gemeinhin als »Surge« bezeichneten Erhöhung der Truppenstärke und Ausweitung der Militäroperationen sowohl die Zahl der Opfer unter den Irakern wie auch die der getöteten US-Soldaten auf Rekordhöhen geklettert. Das gleiche gilt für die Zahl der Gefangenen und die Zahl der Flüchtlinge. Insgesamt ist 2007 längst zum tödlichsten Jahr der Besatzung geworden. Die relative Beruhigung im Herbst ist im wesentlichen die Folge der Einstellung großer Offensiven der US-Armee. Seit Mitte Juli verzeichnet die Liste der Militäranalyse-Organisation GlobalSecurity keine einzige Großoperation mehr.[1]

Medienwirksam waren zwei Wochen vor den Abstimmungen im US-Kongreß auch Buskonvois mit rückkehrenden Flüchtlingen in Bagdad eingetroffen. Das UN-Flüchtlingswerk sah sich dadurch genötigt, der rosigen Sicht Washingtons zu widersprechen. Nach seiner Einschätzung ist die Sicherheit in Irak längst nicht ausreichend. Die Flüchtlinge kämen auch nicht wegen besseren Bedingungen zurück, sondern meist, wie die Befragung von Heimkehrern ergab, weil ihr Visum ausgelaufen oder die finanziellen Mittel ausgegangen waren. Manche ließen sich auch von den rund 800 Dollar Handgeld locken, die die irakische Regierung Rückkehrern versprochen hatte.

Auch aus Sicht der im Land gebliebenen Iraker hat sich nichts verbessert, im Gegenteil. In Umfragen von BBC und ABC News im September gaben 70 Prozent der Befragten an, daß sich im Laufe der Truppenerhöhung sowohl die Sicherheit weiter verschlechtert hat als auch die Bedingungen für den politischen Dialog, das Tempo des Wiederaufbaus und der ökonomischen Entwicklung. Neuere Studien vom November bestätigen diese Sicht. Die überwiegende Mehrheit der Iraker macht in erster Linie die Besatzungstruppen für die Gewalt im Land verantwortlich und fordert folgerichtig den sofortigen Abzug.[2]

Mitte Dezember übergab die britische Armee in einer feierlichen Zeremonie die Kontrolle über die südirakische Provinz Basra an die irakischen Behörden. Auch dies wurde als Erfolg der britisch-amerikanischen Besatzungspolitik verkauft. Tatsächlich hatten sich die Briten bereits im September vollständig aus Basra auf ihre Basis am Flughafen, weit außerhalb der Stadt, zurückgezogen, ihrem letzten Stützpunkt im Land. Ihre Basen in den anderen drei von ihr ursprünglich besetzten Provinzen hatten die Briten schon Monate zuvor geräumt.
Offiziell wurde der Rückzug damit begündet, daß die irakische Armee nun bereit sei, die Sicherheit vor Ort zu übernehmen. Zahlreiche Äußerungen britischer Offiziere zeigen jedoch deutlich, daß die Lage schlicht unhaltbar geworden war. »Neunzig Prozent der Gewalt richten sich allein auf uns«, zitierte die Los Angeles Times einen britischen Offizier. »Je mehr Leute man dort hinstellt, desto mehr Ziele schafft man.« [3]

Die Kontrolle ging auch nicht in die Hände der irakischen Armee über, wie in den westlichen Medien verbreitet wurde, sondern in die der lokal dominierenden Parteien. Die Kaserne bei Amarah etwa, in der zuletzt 1200 britische Soldaten unter Dauerbeschuß ausharren mußten, wurde nach deren Abzug sofort von der Mehdi-Armee des prominenten Klerikers Muqtada Al Sadr übernommen. Die Bewohner Amarahs feierten sich ausgiebig als die »erste irakische Stadt, die die Besatzer rausgeschmissen hat.« Es kam in der Folge zu Kämpfen zwischen der Polizei, die vorwiegend aus Angehörigen der Milizen der radikal-schiitischen Regierungspartei SIIC (ehemals SCIRI) besteht und den Gefolgsleuten Al Sadrs, dessen Bewegung die Provinzregierung stellt. Durch Vermittlung hochrangiger irakischer Persönlichkeiten wurde der Konflikt entschärft. »Am Ende war es eine irakische Lösung, so Oberstleutnant Richard Nixon-Eckersall, Kommandeur einer damals dort stationierten Einheit. Die Provinz ist seither relativ ruhig.

In Basra war die Lage nicht besser. Labor-Abgeordnete vom Verteidigungsausschuß, die im Juli 2007 im Irak waren, berichteten, die nächtlichen Patrouillen in der Erdölmetropole seien für die britische Soldaten zu »Selbstmordkommandos« geworden. Die Truppen würden von der Bevölkerung als Hauptproblem wahrgenommen und nicht – wie von der Regierung behauptet – als Beschützer. Neunzig Prozent aller Angriffe in Basra richteten sich gegen die britischen Einheiten, und die Angreifer kämen vielfach aus den Reihen der »patriotischen Jugend«. [4] Statt weiter zu kämpfen, schloß die Armeeführung mit den Parteien, die die zweitgrößte irakische Stadt kontrollieren, einen Deal: Gegen eine Garantie, nicht mehr angegriffen zu werden, versprachen sie außerhalb Basras zu bleiben. Die britischen Truppen haben seither tatsächlich keinen Fuß mehr in die Stadt gesetzt und wenn sie auf dem Weg zur iranischen Grenze am Stadtrand entlang müssen, bitten sie um Genehmigung.[5]

Friede ohne Besatzer

Durch die Medien geisterte in der Folge das Bild einer Stadt der Anarchie und willkürlicher Gewalt. Hervorgehoben wurden, wie stets, wenn Stimmung für eine Intervention gemacht werden soll, Übergriffe von radikalen Islamisten auf Frauen, deren Schicksal niemanden interessiert, solange sie von Besatzungstruppen getötet oder mißhandelt werden. Tatsächlich aber wurde die Lage in Basra nach dem Abzug der Briten sofort wesentlich ruhiger, wie Beamte und Bürger der Stadt gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters versicherten. Politische Morde würde es zwar noch geben, aber auf einem viel niedrigeren Niveau als zu irgendeinem Zeitpunkt seit der Invasion 2003. Mittlerweile gehen Familien wieder an den Ufern des Shatt Al Arab spazieren, auch am Abend, was in den vergangenen vier Jahren undenkbar war.[6]

Nicht nur im Süden, auch in den Landesteilen, aus denen sich die US-Truppen zurückzogen, beruhigte sich sofort die Lage. Anderseits entstehen durch diese Teilrückzüge weitgehend unabhängige Gebiete, die von unterschiedlichsten, lokal dominierenden Kräften kontrolliert werden - die Palette reicht von den Milizen diverser rivalisierenden Parteien, über Stammesbündnisse bis hin zu brutalen Vigilanten-Führern, die sich mit US-Hilfe zu Warlords aufgeschwungen haben.[7]
Die Gefahr des Zerfalls in einzelne Machtbereiche, wie in Afghanistan, wächst dadurch massiv. Auch wenn die Einigung des nationalen Widerstands im Laufe des Jahres enorme Fortschritte machte, können die Widerstandsbündnisse dem wenig unmittelbar entgegensetzen. Auch dort wo sich die US-Truppen aus der Fläche zurückgezogen haben, sind die Guerillagruppen auch weiterhin ständig mit der US-amerikanischen Streitmacht konfrontiert, die selbstverständlich ein ordnendes Eingreifen des Widerstands mit allen Mitteln zu verhindern sucht. Immer dringender wird daher der komplette, geordnete Rückzug aller Besatzungstruppen, begleitet von Verhandlungen mit dem Widerstand und aller anderen relevanten Kräfte des Irak.


[1]Iraq Pacification Operations”, GlobalSecurity.org (Stand 23.11.2007)
Bürger Bagdads berichten ebenfalls, sie hätten seit Anfang Oktober keine Amerikaner mehr gesehen, nachdem sie zuvor praktisch täglich mit Humvees und Panzern angerückt waren. (siehe Pepe Escobar, “Iraq: Call an air strike”, Asia Times, 9.11.2007

[3] “British hand over province to Iraqi control” Los Angeles Times, 19.4.2007 (Kopie hier, Originalartikel kostenpflichtig bei LA Times). Siehe z.B. auch “Serving British soldier exposes horror of war in 'crazy' Basra” , Independent, 27.4.2007 und “British hand over province to Iraqi control” Los Angeles Times , 19.4.2007

[4] Defence committee: British troops in Iraq face 'nightly suicide missions' - MPs told by soldiers that role in Basra is over, Guardian, July 25, 2007

[5]Message from Basra: 'get us out of here'”, Telegraph, 29.10.2007

[7] " Meet Abu Abed: the US's new ally against al-Qaida - With summary beatings and imprisonments, he has the methods of a mafia don", Guardian, 10.11.2007