Die Bomben von Karbala

von Robert Fisk

Independent / ZNet 29.12.2003

Gestern in Karbala - ein abgetrennter Arm samt Hand liegt wenige Meter neben dem zerborstenen Tor zum Karbalaer Bürgermeisterbüro. Ein menschliches Drama, nicht weniger blutig wie jene Story über Hussein, den schiitischen Märtyrer des 7. Jahrhunderts. Die goldene Kuppel des Hussein-Schreins ist hier gen Osten durch den Smog zu erkennen. Einige sagen, der Arm gehöre zu einem Polizeimajor - einer von 11 Polizisten, die den 4 grausamen Anschlägen vom Samstag in dieser allerheiligsten Stadt zum Opfer fielen -, andere behaupten, der Arm gehöre dem Mann, der die Lastwagenbombe bis zu den Toren fuhr. Auf dem Parkplatz im Freien geschockte polnische und bulgarische Soldaten. Viele von ihnen sitzen in ausrangierten russischen Fahrzeugen, die Saddams Armee fuhr, bevor sie vor 8 Monaten aufgelöst wurde. Sie sehen sich die Szenerie mit einer seltsamen Mischung aus Scheu und Verachtung an. Eine Meile entfernt waren 4 Bulgaren getötet worden, als ein anderer Mann einen Öltanklaster auf ihr getarntes Hauptquartier zusteuerte. Ich ging auf einen bulgarischen Offizier zu - er stand wenige Meter neben dem 6-Meter-Loch, das die Bombe in die Straße gerissen hatte -, aber er wandte sich ab und weinte. Insgesamt starben 19 Männer beim Massaker von Karbala. 11 Polizisten, 5 bulgarische Soldaten*, 2 Thai-Soldaten und ein Zivilist - eine der höchsten Opferbilanzen der Selbstmordanschläge im Irak seit “Befreiung” des Landes im April. Damals, während der Invasion, war die Regierung Bulgariens - als Teil von US-Verteidigungsminister Rumsfelds “Neuem Europa” - mit die enthusiastischste Unterstützerin Präsident George Bushs gewesen. Neben der Universität von Karbala, wo die Bulgaren ein Bataillons-Hauptquartier eingerichtet haben: das gleiche Ausmaß an Zerstörung. Der Tanklaster war zunächst über ein Spielfeld gesteuert worden, um dann auf das dreistöckige Gebäude zuzuhalten. Die Wachsoldaten hatten das Feuer eröffnet, bevor er den inneren Einfassungszaun erreichen konnte.

Bushra Jaafar, 19, befand sich auf dem Campus - in ihrer Biologie-Klasse - als sie gegen 12 Uhr 30 die ersten Schüsse hörte, die auf den Tanklaster abgefeuert wurden. “Professor Hussein sagte, wir sollten alle weg von den Fenstern, er hat wohl erraten, was gleich passieren wird”, erzählte sie mir gestern in ihrem Haus in den Slums. “Dann gab es eine Riesenexplosion, und das ganze Glas kam herein”. Teile des Tanklasters waren eine halbe Meile vom Ort des Anschlags weggesprengt worden. Sie wirbelten hoch durch die Luft und landeten in Bushras Hinterhof. Ihr Vater Nuri, ein 54jähriger Veteran des Iran-Irak-Kriegs, sagt, die anderen (drei) Explosionen seien nur Minuten später erfolgt. Ein exzellentes Timing - 4 separate Selbstmordanschläge binnen weniger Minuten. Und die Angegriffenen waren jämmerlich unvorbereitet.

Die Bulgaren hatten ihr Hauptquartier unter einem Camouflage-Netz verborgen - wie ihnen einst von der Sowjetarmee beigebracht. Aber sie hatten versäumt, den Fußballplatz zu sichern. Der Bomber erreichte den Stacheldrahtzaun am Haupttor und jagte seinen Truck in die Luft. Teile der Außenwand (des Gebäudes) kollabierten in den Vorhof. Die bulgarischen Soldaten stehen unter polnischem Oberbefehl - in diesem für die Irak-Besatzungsarmee zentralen Sektor. Jetzt sah man die Soldaten, wie sie auf dem beschädigten Dach herumschlenderten bzw. draußen durch die Schuttberge. Sie traten gegen den Zaun, der sich als so nutzlos erwiesen hatte und kletterten über den kollabierten neuen Mobilfunkturm, dessen Eisenstreben durch die Explosion herausgerissen wurden. In der Universität waren die Studenten von tausenden Glassplittern getroffen worden. Insgesamt gab es 126 Verletzte, ein Zivilist wurde getötet. Am meisten betroffen waren wie üblich die Angehörigen der von den USA bezahlten neuen irakischen Polizeitruppe. Imad Naghim, ein 30jähriger Polizeirekrut, befand sich mit 4 Kollegen in einem Auto gegenüber dem Bürgermeisterbüro, als der Bomber ankam. Naghim musste fast 24 Stunden operiert werden. Gestern befand er sich im Aufwachraum der Notaufnahme des Hussein-Hospitals. Gerade, als wir dort waren, öffnete er die Augen, winkte uns mit blutverschmierter Hand zu. Seine Lippen formten die Worte: ‘Salaam Aleikum’ - Friede mit euch. Stirn, Kiefer, Leib und Oberschenkel waren eingegipst, sein Gesicht gesprenkelt mit dutzenden winzigkleiner, roter Einschlaglöcher. “Noch ein Kollege in dem Auto hat überlebt”, sagt uns sein Onkel Adnan mit leiser Stimme. “Die andern beiden Männer im Wagen waren sofort tot. Er hat sehr viel Glück gehabt”. Imad wusste noch nicht, wieviel Glück er hatte. Zwei seiner Freunde waren bereits beerdigt. Aber wie konnte das passieren, dass der Truck bis vor das Tor des Bürgermeisterbüros kam? Schließlich gibt es dort Beton-Schikanen und vor dem Tor eine Straßensperre, bemannt mit amerikanischen Soldaten der 101sten Airborne Division sowie zusätzlichen irakischen Polizisten. Ein höherer Polizeioffizier - hoch genug, um eine schwarze Lederjacke und Jeans zu tragen anstatt Uniform -, trat ein. Er erklärt uns Folgendes. Der Bomber war einem Konvoi bis in die Straße (vor dem Gebäude) gefolgt, er hatte sich einfach an das hinterste Fahrzeug “gehängt”; so war er am amerikanisch-irakischen Checkpoint vorbeigekommen. Er kam bis vor das Tor. Dort hatte er sich in mit lautem Knall selbst geopfert. Der braune Rauch wirbelte Polizeiautos und zivile Fahrzeuge wie Spielzeug über den Parkplatz. Ein irakischer Polizeioberst hatte sich in dem Konvoi befunden. Wie aber war es dem Bomber gelungen, von der Ankunft des Konvois zu erfahren? Gestern in Karbala sprach niemand aus, was etliche westliche Sicherheitsleute in Bagdad schon lang vermuten: Die Aufrührer, die Rebellen, die gegen die Besatzungstruppen und deren irakische Sicherheitsleute kämpfen, müssen Spione in der neuen Polizeitruppe haben. Wie sonst hätte der Bomber wissen können, dass er auf diesen Konvoi zu warten hat? Der Oberst sollte eine Ansprache halten. Er ist der Chef der Verkehrspolizei hier in Karbala. Jeder Cop wusste sicher Bescheid über das Treffen. Die übrigen 3 Selbstmordattentäter hatte man vermutlich instruiert, ihre Attacken genau im selben Moment zu starten. Eine Planung, wie wir sie im Irak bisher nicht für möglich hielten.

Bushra Jaafar und ihre College-Freunde hatten Angst - seit die Soldaten ihre Basis neben dem Universitäts-Campus errichtet hatten. “Wir wussten, dass sie ein Ziel sind - alle Lehrer wussten es, darum hat Professor Hussein ja auch gleich begriffen, was die Schießerei zu bedeuten hat”. Dennoch war Bushra wütend, als man ihr sagte, der Unterricht müsse für eine Woche ausfallen. Sie symbolisiert das Beste an diesem “Neuen Irak”. “Ich bin jetzt bereit, an meine Universität zurückzukehren”, sagt sie. Überall in Karbala haben die Bulgaren gestern halbherzig Checkpoints eingerichtet - als würden diejenigen, die diese Bomber losschickten, 24 Stunden später durch die Straßen kreuzen. Im großen Schrein von Hussein - dem Märtyrer, den sie im Jahr 686 nach Christus zerstückelten -, strömten derweil tausende Pilger, überwiegend Iraner, durch die goldenen Pforten, so, als gehöre der Aufstand im Irak einem anderen Zeitalter an. Fast jede größere irakische Großstadt wurde inzwischen von Selbstmordbombern attackiert. Einzig Basra blieb - bislang - verschont. In Basra sind die Briten.

Übersetzt von: Andrea Noll | Orginalartikel: "Karbala Bombings"


Anmerkung d. Übersetzerin

Nach den Anschlägen von Karbala verweigern 30 bulgarische Soldaten, die im Januar in den Irak kommen sollten, ihren Einsatz.