Abzug ist die einzige Option
Bilanz von 5 Jahren Krieg und Besatzung
Joachim Guilliard
Zeitung gegen den Krieg, März 2008
Am 20. März jährt sich der US-geführte Überfall auf den Irak zum
fünften Mal. Die Bilanz dieser fünf Jahre Krieg und Besatzung ist
verheerend. Der Alltag ist nun bestimmt durch allgegenwärtige Gewalt
und eine katastrophale Versorgung: Gesundheits- und Bildungswesen sind
am Boden, Strom fließt nur stundenweise, 70 Prozent der Haushalte sind
von der Wasserversorgung abgeschnitten. 43 Prozent der 26,5 Millionen
Irakerinnen und Iraker leben, wie die britische Hilfsorganisation Oxfam
im Juli letzten Jahres berichtete, in absoluter Armut, über 60 Prozent
sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Am meisten betroffen davon
sind Kinder: waren bereits vor dem Einmarsch der USA, in Folge des
Embargos, 19 Prozent der Kinder wegen Unterernährung im Wachstum
zurückgeblieben, so waren es im Juni 2007 schon 28 Prozent.
Mehr als eine Million Irakerinnen und Iraker starben vermutlich bereits
an den Folgen von Krieg und Besatzung, über vier Millionen, fast ein
Sechstel der Bevölkerung, ist auf der Flucht. Die US-geführte
Aggression führte somit zur, nach den Kriegen im Kongo, weltweit
größten humanitären Katastrophe der letzten Jahrzehnte (näheres siehe www.iraktribunal.de).
Auch die US-Bevölkerung kommt der Krieg teuer: fast 4.000 US-Soldaten
bezahlten für Bushs Krieg bereits mit ihrem Leben, die direkten
Ausgaben für den Krieg belaufen sich auf 800 Milliarden US-Dollar, die
Gesamtkosten dürften bei über drei Billionen liegen.
Glaubt man der US-Regierung, so hat sich die Situation in den letzten
Monaten gravierend verbessert. Ihre neue Strategie wäre aufgegangen und
die gemeinheim als „Surge“ bezeichnete Erhöhung der Truppenstärke auf
über 160.000 Soldaten hätten zu einem Rückgang der Gewalt und damit der
Zahl der Opfer und der eigenen Verluste geführt.
Die meisten Iraker ziehen eine andere Bilanz: In Umfragen von BBC und
ABC News gaben 70 Prozent der Befragten an, dass sich im Laufe der
Truppenerhöhung sowohl die Sicherheit weiter verschlechtert habe als
auch die Bedingungen für den politischen Dialog, das Tempo des
Wiederaufbaus und der ökonomischen Entwicklung. Die überwiegende
Mehrheit der Bevölkerung macht demnach in erster Linie die
Besatzungstruppen für die Gewalt im Land verantwortlich und fordert
folgerichtig den sofortigen Abzug.
Die Zahl der Gewaltopfer, die im Herbst nach Einstellung der großen
Militäroperationen der Besatzer stark gesunken waren, stieg im Februar
nach dem Start von vier Großoffensiven der US-Truppen wieder massiv
an. Nach wie vor verlassen mehr Iraker ihr Land als zurückkehren.
Wenn im Westen auch das wahre Ausmaß heruntergespielt wird, so
bestreitet niemand, dass die Lage im Irak verheerend ist. Die
Diskussion konzentriert sich jedoch auf die Konflikte zwischen
irakischen Kräften, Terrorbomben, Milizunwesen usw. Die
Gewalteskalation wird auf traditionellen religiösen Hass, islamischen
Extremismus oder die Einmischung von Nachbarstaaten zurückgeführt – auf
alles nur nicht auf eines, die Besatzung selbst.
Dabei ist furchtbare Lage in der das Land sich nun befindet, die
vorsehbare Konsequenz einer an ehrgeizigen Zielen orientierten
Eroberungs- und Besatzungspolitik. Es ging schließlich nicht nur um die
bloße Ersetzung des Regimes Saddam Husseins durch US-hörige Marionetten
und den direkten Zugriff aufs irakische Öl. Ziel war vor allem die
dauerhafte Ausschaltung des Iraks als Regionalmacht und die permanente
Stationierung eigener Truppen – als Ausgangsbasis für die Umgestaltung
bzw. Unterwerfung der gesamten Region. Aus den Ruinen des alten Iraks
sollte zudem ein modellhafter, radikal neoliberal ausgerichteter Staat
entstehen.
Ohne Rücksicht auf die Folgen wurden die Armee und Polizei aufgelöst
und die staatlichen Strukturen weitgehend zerschlagen. Mit der
Einführung völkischer und konfessioneller Kriterien in Regierung und
Verwaltung betrieb man von Anfang an eine Spaltung der Gesellschaft.
Erst dies schuf die Verhältnisse, in denen sich die kriminelle und
religiös motivierte Gewalt entfalten konnten, die nun angeblich die
weitere Präsenz ausländischer Truppen erforderlich macht.
Auf dieser Basis schuf der von den USA eingeleitete „politische
Prozess“ ein abhängiges, koloniales Regime, getragen von
extremistischen Parteien, die im Windschatten der Besatzung ihre
separatistischen bzw. sektiererisch-islamistischen Ziele verfolgen. Die
Milizen dieser Parteien stellen das Gros der Sicherheitskräfte und
werden für einen großen Teil der Gewalt im Land verantwortlich gemacht.
Die überwiegende Mehrheit der Iraker lehnt die US-amerikanischen Pläne
strikt ab. Um den wachsenden Widerstand zu brechen, der die Umsetzung
vieler Maßnahmen erfolgreich verhinderte, griff die Besatzungsmacht zu
immer massiveren und brutaleren Methoden der Aufstandsbekämpfung.
Dutzende Städte wurden angegriffen und ganze Stadtviertel durch
Luftangriffe verwüstet. Immer größere Teile der Bevölkerung wurden so
erst Recht in den aktiven Widerstand getrieben. Befürwortete laut
Umfragen westlicher Institute anfänglich nur ein knappes Fünftel aller
Iraker bewaffnete Angriffe auf die Besatzer, so waren es 2006 bereits
zwei Drittel.
Obwohl auch führende US-Experten nicht mehr an einen Erfolg der USA ist
ein baldiger Abzug der US-Truppen nicht zu erwarten. Der Ausbau des
riesigen Botschaftskomplex und fünf riesiger permanenter Militärbasen
für jeweils 20.000 Soldaten sind die sichtbarsten Zeichen für die
Planung einer starken dauerhaften militärischen Präsenz. Auch von den
führenden Politikern der Demokratischen Partei ist keine prinzipielle
Kursänderung zu erwarten.
Um sich im Land halten zu können, setzen die Besatzer weiterhin auf
Spaltung. In den heiligen Städten Nadschaf und Kerbala beispielsweise
entstehen abgeschirmte Enklaven in denen die radikal-schiitischen
Regierungspartei SIIC (früher SCIRI) mit massiver amerikanischer und
iranischer Unterstützung ihre Machtposition ausbaut – gedacht als Kern
einer unabhängigen schiitischen Region. Im sunnitischen Teil wiederum
rüsten die USA Stammesmilizen aus, deren wesentliches Ziel die
Zurückdrängung der dominanten Stellung der pro-iranischen
Schiitenparteien ist. Der Irak droht so – in Abwesenheit einer
anerkannten staatlichen Zentralgewalt – in Einflussbereiche diverser
Kräfte und Warlords zu zerfallen. Mit jedem Tag der Besatzung
verschlechtern sich somit die Bedingungen für realistische Auswege aus
der Misere.