Irakerinnen sind keine Opferlämmer

Besonders die Frauen leiden in dem zerstörten Land am Persischen Golf - auch das hat sie qualifiziert, am Neubau des Staates mitzuwirken / Von Nadje Al-Ali

FR, 30.07.2003

Der Krieg hat die Lebensverhältnisse in Irak dramatisch verändert, unter denen vor allem die Irakerinnen leiden. In den 70er und frühen 80er Jahren ging es ihnen einmal besser. Doch schon während des Iran-Irak-Kriegs begann sich ihre Lage zum Schlechteren zu verändern. Nadje Al-Ali diskutiert den gegenwärtigen sozialen Wandel aus einer Geschlechterperspektive sowohl aus sozialanthropologischer Perspektive als auch als politische Aktivistin. Der Text basiert auf einem Vortrag, den sie unter dem Titel "Gender and Social Change in Iraq" im Rahmen der Marie-Jahoda-Gastprofessur am 3. Juli 2003 an der Ruhr-Universität Bochum gehalten hat. Wir dokumentieren ihren Text gekürzt. Eine ausführliche Version wird in Peripherie, Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt (Heft 92, Dezember 2003), erscheinen.

Wie es auf der ganzen Welt üblich ist, werden irakische Frauen in den Debatten über Demokratie und die politische Vertretung von Mehrheiten und Minderheiten der Bevölkerung in Irak übergangen. Dies geschieht trotz der Tatsache, dass 55 bis 60 Prozent der irakischen Bevölkerung Frauen sind. Diese demographische Diskrepanz geht auf drei Kriege (den Irak-Iran-Krieg 1980-1988, den Golf-Krieg 1991 und die US-Invasion 2003), auf Auswanderung und auf die politische Repression und Hinrichtungen durch das Regime zurück. Dennoch fehlen Frauen völlig in den meisten Medienberichten. Weder werden sie auf den Straßen der irakischen Städte wahrgenommen noch als Teil der politischen Gruppierungen, ob pro- oder antiamerikanisch.

Diese Lage kann westlichen Lesern, die sich an das Bild von unterdrückten und passiven muslimischen und arabischen Frauen gewöhnt haben, "natürlich" erscheinen (War es in Afghanistan nicht genauso?). Aber in Wirklichkeit gehörten irakische Frauen bis vor ein paar Jahren sehr klar in den "öffentlichen Bereich". Trotz der allgemeinen politischen Repression durch das Baath-Regime von Saddam Hussein hatten sie mit den höchsten Bildungsstand in der ganzen Region. Sie waren in die Erwerbstätigkeit integriert und auf fast allen Ebenen der staatlichen Institutionen und Verwaltung aktiv und sichtbar. Aber heute können Frauen das Haus aus Angst und auf Grund eines umfassenden Unsicherheitsgefühls kaum verlassen. Plünderungen, gewalttätiger Einbruch, mafiaähnliche Banden, die die Stadt nachts durchstreifen und die zunehmende sexuelle Gewalt, Vergewaltigungen eingeschlossen, haben Frauen in den Hintergrund gedrängt.

Schon vor dem Krieg 2003 war deutlich, dass die Verbesserungen für Frauen aus den 70er und frühen 80er Jahren zurückgenommen wurden. Neben den offensichtlichsten Auswirkungen der schrecklichen humanitären Situation zeigten sich Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen und -ideologien im Zusammenhang mit den umfassenden sozialen Veränderungen infolge des Kriegs, der Sanktionen und der veränderten staatlichen Politik.

Schon vor diesem letzten Krieg gab es auf Grund der Sanktionen eine massive Verschlechterung der Infrastruktur (Wasser, sanitäre Einrichtungen, Kanalisation, Elektrizität), die die Lebensqualität irakischer Familien gravierend beeinträchtigte, die oft ohne Wasser und Elektrizität durch den Tag kommen mussten. Hohe Kindersterblichkeit (ca. 4000-5000 pro Monat), weit verbreitete Mangelernährung, epidemische Krankheiten, eine zunehmende Leukämierate, andere Formen von Krebs und Missbildungen bei Neugeborenen gehörten zu den offensichtlichsten "Nebeneffekten" des Sanktionsregimes. Aber das Alltagsleben veränderte sich nicht nur in Bezug auf eine drastische Verschlechterung der ökonomischen Bedingungen und der Infrastruktur: Auch die soziale und kulturelle Textur der irakischen Gesellschaft wurde betroffen.

Eine Analyse der Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen und des Kriegs auf die Frauen in Irak erfordert zunächst einige kurze historische Hintergrundinformationen zur allgemeinen Lage der irakischen Frauen vor dem Einsetzen des Sanktionsregimes 1990.

Trotz der unbestreitbaren politischen Unterdrückung in den 70er und frühen 80er Jahren genoss die Mehrheit der irakischen Bevölkerung einen hohen Lebensstandard angesichts des Wirtschaftsbooms und der raschen Entwicklung, die sich aus den steigenden Ölpreisen und der Entwicklungspolitik der Regierung ergaben. Dies waren die Jahre einer prosperierenden Wirtschaft und der Entstehung und Expansion einer breiten Mittelschicht. Staatlich eingeleitete Politik wirkte darauf hin, den Analphabetismus auszurotten, die Frauen auszubilden und sie in die Erwerbstätigkeit einzubeziehen. Im Zusammenhang mit einer raschen Wirtschaftsexpansion nach der Ölkrise 1973 suchte die irakische Regierung aktiv die Frauen auf, um sie in die Erwerbstätigkeit zu integrieren.

Es ist zu betonen, dass die Politik, die Frauen zur Lohnarbeit zu ermutigen, sich nicht aus egalitären Prinzipien erklären lässt: Saddam Hussein war kein Feminist! Die anfängliche Ideologie der Baath-Partei, der herrschenden Partei in Irak, beruhte auf dem arabischen Nationalismus und Sozialismus. Im Rahmen dieses Artikels kann die spezifische Motivlage und Ideologie des Baath-Regimes in Bezug auf die Rollen und Position der Frau nicht im Detail untersucht werden. Man kann aber sagen, dass Arbeitskräfte knapp waren und dass -- während die Golfstaaten Arbeiter von außerhalb ihrer nationalen Grenzen anwarben - die irakische Regierung die eigenen Humanressourcen des Landes erschloss. In der Folge wurde Arbeiten außerhalb des Hauses für Frauen nicht nur akzeptabel, sondern wurde zur Norm und vermittelte Prestige. Weiterhin sollte der Faktor berücksichtigt werden, dass der Staat versuchte, seine BürgerInnen - ob männlich oder weiblich - zu indoktrinieren. Offensichtlich war es viel einfacher, sie zu erreichen und zu rekrutieren, wenn sie am so genannten öffentlichen Bereich teilhatten und außerhalb der Schranken ihres Heims sichtbar waren.


Obwohl sich während des Iran-IrakKriegs (1980-1988) deutliche Anzeichen für eine Verschlechterung der Lebensbedingungen und Veränderung der Geschlechterbeziehungen zeigten, herrschte anscheinend die Überzeugung vor, dass die Lage sich mit dem Ende des Kriegs wieder zum Besseren wenden würde. Und während viele Familien in dieser Zeit Söhne, Brüder, Väter, Freunde und Nachbarn verloren, erschien der Alltag in den Städten relativ "normal", und Frauen spielten eine sehr bedeutende Rolle im öffentlichen Leben.
Aber auf zwei kurze "friedliche" Jahre folgte die Invasion von Kuwait (August 1990) und der Golf-Krieg (Januar-März 1991), die Auferlegung des Systems umfassender Sanktionen, das fast dreizehn Jahre andauerte, und der neue Krieg 2003.

Der Verlust geliebter Menschen wurde eine gemeinsame Erfahrung vieler irakischer Frauen. Neben Trauer, Depression und manchmal Wut haben irakische Frauen und Männer in allen Altersstufen einen bemerkenswerten Fatalismus übernommen und einen unglaublichen Widerstand dagegen aufgebaut, sich mit Schmerz und Leiden zu beschäftigen.

Die Sanktionen und der Krieg haben neben den offensichtlichen Auswirkungen im Zusammenhang mit grundlegenden Überlebensstrategien und Schwierigkeiten auch Spuren in der sozialen und kulturellen Textur der irakischen Gesellschaft hinterlassen. Zweifellos haben irakische Frauen einiges von dem verloren, was sie in den vorigen Dekaden erreicht hatten. Sie können sich weder durch Bildung noch durch Lohnarbeit behaupten, da beide Bereiche rasch an Wert verloren haben. Die höhere Bildung ist faktisch zusammengebrochen. Die Monatslöhne im öffentlichen Sektor, der paradoxerweise immer mehr Frauen beschäftigte, sind dramatisch gesunken und entsprechen nicht der hohen Inflationsrate und den Lebenshaltungskosten.

Viele Eltern meinen, dass sie wegen der schlechten Schulbedingungen auf Grund des Mangels an Lehrern und Ressourcen selbst zur Ausbildung ihrer Kinder beitragen müssen, und deswegen verlassen viele Frauen ihren Beruf. Aber sie leiden auch unter dem Zusammenbruch ihrer Unterstützungssysteme für ihre Erwerbstätigkeit.

Ein Unterstützungssystem mit staatlicher Finanzierung bestand aus zahlreichen Kinderkrippen und Kindergärten in Kombination mit kostenlosem öffentlichen Nahverkehr zur Schule und zu den Arbeitsplätzen der Frauen. Das andere bedeutende Unterstützungssystem bestand in Hilfe bei der Kinderbetreuung innerhalb der Großfamilie und der Nachbarschaft. Wegen des allgemeinen Unsicherheitsgefühls haben Frauen seit den 90er Jahren ihre Kinder nur ungern bei Nachbarn oder Verwandten gelassen.

Die Verbrechensraten sind seit dem Golf-Krieg angestiegen. Viele Frauen berichteten, dass sie vor der Auferlegung der Sanktionen alle Türen offen ließen und sich völlig sicher fühlten. In der gegenwärtigen Lage sind Plünderungen, Einbruch, Tötungen und Vergewaltigungen weit verbreitet. Nur die Imame in den Moscheen organisieren systematisch öffentliche Sicherheit.

Obwohl irakische Familien herkömmlich sehr eng verbunden waren und sich gegenseitig unterstützten, sind die Familienbeziehungen durch Neid und Konkurrenz im Überlebenskampf belastet worden. Früher wuchsen Kinder inmitten ihrer Großfamilien auf und verbrachten oft Zeit oder übernachteten im Haus ihrer Großeltern, Onkel und Tanten. Heutzutage werden Kernfamilien in einem Kontext viel wichtiger, in dem man zuerst an sich selbst und die Nahestehenden denken muss.

Die demographischen Belastungen durch drei Kriege und die aufgezwungene wirtschaftliche Migration von Männern, die durch die Auferlegung und Fortsetzung der Sanktionen in Gang gesetzt wurde, liegen auf den Schultern einer hohen Zahl weiblicher Haushaltsvorstände. Nicht allein Kriegswitwen haben ihren Mann verloren, sondern auch Frauen, deren Männer ins Ausland gingen, um der trostlosen Lage zu entgehen und Wege zu finden, ihre Familien zu versorgen. Andere Männer verließen ihre Frauen und Kinder einfach, weil sie nicht damit zurechtkommen konnten, dass sie die sozialen Erwartungen an sie als Familienversorger und Brotverdiener nicht erfüllen konnten.

Die Lage wirkt sich sehr belastend auf die Beziehungen zwischen Ehepartnern aus. Es gibt keine genauen Zahlen, aber anscheinend ist die Scheidungsrate beträchtlich gestiegen. Einige Frauen sagten, dass ihre Männer in den letzten Jahren gewalttätiger und ausfälliger geworden sind.

Die Familienplanung ist zu einer Quelle von Spannungen und Konflikten zwischen Ehemännern und Ehefrauen geworden. Vor dem Iran-Irak-Krieg waren alle Formen der Verhütung zugänglich und legal. Während des Krieges wurde die Verhütung illegal und die Regierung versuchte, die Frauen mit Anreizen wie Ausweitung des Mutterschutzes und Import und Subvention von Babynahrung dazu zu bewegen, eine große Zahl neuer Bürger zu "produzieren".

Nach dem Golf-Krieg 1991 gab es immer noch keine Verhütungsmittel, aber die Einstellung der Frauen zu Kindern hatte sich wegen der materiellen Umstände und des moralischen Klimas verändert. Es besteht eine Furcht vor angeborenen Krankheiten und Geburtsfehlern, die seit dem Golf-Krieg 1991 unglaublich hoch sind. Anders als früher wollen irakische Frauen nicht mehr gerne viele Kinder haben. Abtreibung ist illegal, und so setzten viele Frauen Gesundheit und Leben bei illegalen Abtreibungen im Hinterzimmer aufs Spiel. Der Direktor eines Waisenhauses in Bagdad sprach 1997 von einer neuen Erscheinung in Irak: Frauen setzen neugeborene Kinder aus.

Trotz der allgemeinen Belastungen stellen einige Frauen fest, dass die ehelichen Beziehungen zu ihren Männern besser geworden sind. Aliya, eine Hausfrau Ende dreißig, sagt: "Mein Mann hat vor den Sanktionen nie etwas im Haus gemacht. Er arbeitete in einer Fabrik außerhalb von Bagdad. Seit er nicht mehr arbeitet, hilft er mir, Brot zu backen und die Kinder zu betreuen. Wir verstehen uns viel besser als vorher, weil ihm allmählich klar wird, dass ich zu Hause sehr hart arbeite."

Während Ehen und Familien in vielfältiger Weise betroffen sind, können viele irakische Frauen nur von einer Heirat und einer eigenen Familie träumen. Eine der zahlreichen Konsequenzen des gegenwärtigen demographischen Ungleichgewichts zwischen Männern und Frauen liegt darin, dass junge Frauen nur schwer heiraten können. Die Polygamie, die allmählich weitgehend auf den ländlichen Raum und Personen ohne Schulbildung eingeschränkt worden war, hat in den letzten Jahren wieder zugenommen. Es gibt unter jungen Frauen auch einen wachsenden Trend, Migranten im Ausland zu heiraten, die meist viel älter sind. Dem liegen vor allem wirtschaftliche Ursachen zu Grunde, da die meisten irakischen Männer keine Familie gründen und versorgen können.

Während Heiraten ein relativ schwieriges Vorhaben wird, fühlen sich vor allem junge Frauen unter Druck durch eine neue "kulturelle" Umgebung. Viele Frauen, die ich interviewte, stimmten mit einer meiner weiblichen Verwandten überein, wenn sie traurig über die umfassende Umkehrung des kulturellen Kodex und der moralischen Werte sprachen. Ich werde nie vergessen, wie mir eine meiner Tanten sagte: "Weißt Du, Brücken und Häuser können leicht wieder aufgebaut werden. Das dauert, aber das geht. Aber was sie wirklich zerstört haben, sind unsere Moral oder unsere Werte." Sie stellte wie viele andere irakische Frauen, mit denen ich sprach, fest, dass Ehrlichkeit sich nicht mehr lohne. Die Leute sind korrupt und gierig geworden. Vertrauen ist ein sehr seltenes Wort geworden, und Neid gibt es selbst in der engsten Verwandtschaft.

Junge irakische Frauen sprechen oft über Veränderungen im gesellschaftlichen Verkehr, in Beziehungen in den Familien, der Nachbarschaft und zwischen Freunden. Während die Eltern der jungen Frauen in der Mittelschicht in ihrer Jugend relativ frei miteinander verkehrten, finden es junge IrakerInnen zunehmend schwierig, sich zu treffen. Schulen sind häufig nach Geschlechtern getrennt, aber auch in koedukativen Schulen wurde die Interaktion zwischen Jungen und Mädchen stärker eingeschränkt. Mädchen sind sehr besorgt um ihren Ruf und vermeiden häufig eine Situation, in der sie mit einem Jungen allein sind. Diese Befürchtungen könnten durch die durchaus nicht ungewöhnlichen Fälle von so genannten "Ehrenmorden" (honour killings) in der letzten Dekade verschärft worden sein.

Viele junge irakische Frauen klagen über den zunehmenden Konservatismus und die Bedrohung durch Klatsch, der ihren Ruf schädigen kann. Mädchen leiden besonders unter einer Atmosphäre, in der patriarchale Werte bestärkt wurden und der Staat seine frühere Politik der sozialen Inklusion von Frauen aufgegeben hat.

Wirtschaftliche Not hat eine Reihe von Frauen in die Prostitution gezwungen; dieser Trend ist weit bekannt und ruft großes Leid in einer Gesellschaft hervor, in der die "Ehre einer Frau" die Ehre der Familie widerspiegelt.

Die zunehmenden sozialen Restriktionen für junge Frauen müssen im Zusammenhang mit den weiteren sozialen Veränderungen analysiert werden, insbesondere dem Anstieg der Prostitution, einer bedeutenden Zahl weiblicher Haushaltsvorstände, weit verbreiteter Arbeitslosigkeit und der Aneignung islamischer Symbole durch die irakische Regierung unter Saddam Hussein und dem Aufstieg islamistischer Kräfte in Irak nach Saddam Hussein. Inmitten der Umkehrung moralischer Werte und kulturellen Kodexe, wirtschaftlicher Not und politischer Repression haben sich immer mehr Frauen (und Männer) der Religion zugewandt, um etwas Trost zu finden.

Ich verbinde persönlich keinerlei Werturteil mit einer erhöhten Religiosität per se. Aber im Kontext des Irak ist die Wendung zur Religion ähnlich wie in Islamisierungsprozessen in anderen Ländern des Mittleren Ostens mit einem zunehmenden Konservatismus und sozialen Restriktionen verbunden, die besonders auf Frauen zielen. In anderen Worten gesagt, es gibt nicht nur einen wachsenden Trend zur Religiosität unter Frauen, sondern Frauen wurden auch zunehmend sozialem Druck unterworfen und der Ausdruck religiöser Gefolgschaft erwartet und eingefordert. Für Frauen läuft das oft auf die Frage hinaus, ob sie den "hijab" (Schleier) tragen wollen oder nicht, da der "hijab" das sichtbarste und deutlichste Zeichen für religiöse Gefolgschaft und einen angeblich guten moralischen Lebenswandel ist. Gegenwärtig gibt es zahlreiche Berichte darüber, dass unverschleierte Frauen auf der Straße von Islamisten belästigt werden, die fordern, dass alle Frauen ein Kopftuch oder eine "abbayah", einen traditionellen schwarzen Umhang tragen.

Diese recht düstere Skizze umreißt nur einige Aspekte, wie sich Krieg und Sanktionen auf Frauen und Geschlechterverhältnisse im gegenwärtigen Irak auswirken. Es ist noch zu früh, um die komplexen vielfältigen Wege vollständig zu begreifen, in denen der neue, weiter andauernde Krieg das Alltagsleben und die Geschlechterideologien insgesamt beeinflusst.

Man kann aber über die aktuelle Situation festhalten, dass Frauen bisher noch stärker in den Hintergrund und in ihr Heim gedrängt wurden. Sie leiden sowohl unter einer sich verschlimmernden humanitären Situation als auch durch die weiterhin fehlende Sicherheit auf den Straßen. Abgesehen davon, dass Grundbedürfnisse (Wasser, Elektrizität, medizinische Versorgung und Lebensmittel) und Sicherheit nicht angemessen befriedigt werden, ist die mangelnde Repräsentation der Frauen in den verschiedenen politischen Parteien und den sich herausbildenden politischen Gremien ein langfristiges Problem.

Es ist zu betonen, dass die Beteiligung von Frauen am Wiederaufbau Iraks nicht einfach nach dem Motto: "Frauen reinbringen und einmal umrühren" zu machen ist. Es fehlt eine Geschlechterperspektive im Einklang mit der Oktober 2000 verabschiedeten UN-Resolution 1325, die die Bedeutung der Einbeziehung von Frauen und des Wahrheits- und Versöhnungskomitees (truth and reconciliation committee) in allen Fragen der Nachkriegsordnung und der Friedensoperationen anerkennt.


Forschungen über und politische Erfahrungen mit anderen Konfliktregionen und Nachkriegssituationen wie Nordirland, Bosnien-Herzegowina, Zypern, und Israel/Palästina bezeugen die Tatsache, dass Frauen oft eher befähigt sind, ethnische, religiöse und politische Spaltungen zu überbrücken und bedeutende Rollen im "Peacemaking" spielen. Aus meiner Sicht kann ein zukünftiger Frieden nur durch eine Konfrontation mit und Aufarbeitung der Vergangenheit Iraks mit Hilfe eines Wahrheits- und Versöhnungskomitees geleistet werden, das sensibel auf alle Formen von Menschenrechtsverletzungen einschließlich sexueller Gewalt reagiert.

Gastprofessur
Die Marie-Jahoda-Gastprofessur für Internationale Frauenforschung wurde 1994 noch im Beisein der britischen Sozialpsychologin und Soziologin Marie Jahoda an der Ruhr-Universität Bochum und im Netzwerk Frauenforschung NRW eingerichtet. Herausragende internationale ForscherInnen, die die Theorieentwicklung und empirische Forschung in der Frauen- und Geschlechterforschung vorangetrieben haben, forschen und lehren hier ein Semester. Bisherige GastprofessorInnen waren u.a. Robert Connell, Patricia McFadden, Judith Lorber, Mari Osawa und Nira Yuval-Davis. Ihre Forschungen werden in der Zeitschrift Feministische Studien veröffentlicht. Ferner sind die Bände erschienen: Robert Connell: Der gemachte Mann. Opladen 1999; Judith Lorber: GenderParadoxien. Opladen 1999 (in der Reihe Geschlecht und Gesellschaft des Verlags Leske + Budrich).

Frauen müssen in die Interimsregierungen, alle Ministerien und Komitees und in die Überlegungen, die sich mit dem Regierungssystem der nationalen und kommunalen politischen Ordnung befassen, einbezogen werden. Frauen müssen auch im Gerichtswesen, der Polizei, dem Monitoring von Menschenrechten, der Vergabe von Finanzmitteln, einer freien Medienentwicklung und allen ökonomischen Prozessen einbezogen und aktiv sein. Die Gründung von unabhängigen Frauengruppen, NGOs und lokal verankerten Organisationen sollte ermutigt werden.

Leider lässt die gegenwärtige Lage in Irak Zweifel zu an den Absichten der USA in Bezug auf Good Governance, ihrem Engagement für Menschenrechte und den Aufbau der Demokratie. Angesichts von Bushs Vorgeschichte einer konservativen Frauenpolitik in den USA erwarte ich persönlich gerade in Bezug auf Frauen und Geschlechterverhältnisse nicht eben viel von den Besatzungsmächten. Der Fall Afghanistan bildet ein trauriges Beispiel dafür, wie die US-Regierung zwar ein Lippenbekenntnis zu Frauenrechten ablegte, sie aber nach dem Krieg nicht durchsetzte.

Lassen Sie mich diesen Artikel mit einem etwas optimistischeren Ausklang beenden. Es ist sehr wichtig zu betonen, dass irakische Frauen nicht einfach passive Opfer sind. Und hier spreche ich nicht über Frauen, die in das Regime verstrickt waren, sondern über Frauen aus verschiedenen Schichten. Im Gegensatz zu den üblichen Repräsentationen der unterdrückten arabischen Frauen in den Medien haben Frauen in Irak sich in verschiedener Weise in der neuen Situation als einfallsreicher und anpassungsfähiger erwiesen als Männer. Kleine informelle Programme wie Essenauslieferungen schießen aus dem Boden. Die Qualifikationen im Handwerk und das Recycling von Kleidung und anderen Materialien bezeugen eine unglaubliche Kreativität. Und während ich keinesfalls nahe legen will, dass Frauen von Natur aus bessere menschliche Wesen wären, kann die Hoffnung für die Zukunft Iraks sich nicht auf die zersplitterte und zerstrittene männliche Opposition begründen, sondern sie kommt von denen, die ihre Würde bewahrt haben und gewaltfrei und menschlich blieben.

[ document info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Erscheinungsdatum 30.07.2003