Thema Irak
»Kreative Zerstörung ist unsere zweite Natur«
Washingtons Strategen, das Besatzungsregime und der Widerstand im Zweistromland 
 
Von Joachim Guilliard 
Neues Deutschland vom 06.12.03

Kein Tag vergeht, an dem die Medien nicht von neuen Gewalttaten, Toten und Verletzten in Irak berichten. Der Novembermonat war der verlustreichste für die US-Army, die jedes Attentat mit brachialer Militärgewalt beantwortet. Dennoch kommt das Land nicht zur Ruhe, wächst der Hass auf Ausländer.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten sind die Iraker wirklich frei« schrieb der USA-Statthalter in Irak, Paul Bremer, am 13. Juli in einem Gastbeitrag für die »New York Times«. Das Land sei zwar noch nicht vollständig demokratisch, aber die »Freiheit von Nord nach Süd auf dem Vormarsch«. Bedauerlicherweise würden diese Fortschritte von einer kleinen Widerstandsgruppe verunglimpft. Dahinter stünden aber nur Akteure des ehemaligen Regimes und ausländische Terroristen, die feige »im Verborgenen agieren«.
Die Bilanz der von Bremer gepriesenen »Freiheit« sieht für die Betroffenen bitter aus. Auch Monate nach Ende des Krieges herrscht nackte Gewalt: Überfälle, Morde, Vergewaltigungen und Mädchenraub sind allgegenwärtig. Die Zahl der bei Schießereien getöteten Menschen ist um das 25-fache gestiegen. Der britische Journalist Robert Fisk schätzt, dass wöchentlich mindestens 1000 Iraker und Irakerinnen bei Überfällen, Streitereien, Racheaktionen sowie durch die Besatzungstruppen getötet werden. Dies und der vollständige Zusammenbruch des irakischen Sozial-, Schul- und Gesundheitssystems hat eine katastrophale Situation geschaffen, die alles Bisherige in der leidvollen Geschichte des Landes in den Schatten stellt.


Rüdiger Göbel,
Joachim Guilliard,
Michael Schiffmann (Hg.)

Der Irak –
Krieg, Besetzung,
Widerstand

(Inhalt ...)

PapyRossa Verlag,
Köln, 2004,
ISBN 3-89438-270-8.

Preis 15,80 Euro

zu Bestellen beim:
PapyRossa Verlag

Schocktherapie

Dem Zusammenbruch des alten Regimes im Frühjahr d.J. waren bekanntlich Plünderungen und systematische Brandschatzungen gefolgt, die von den Invasoren nicht verhindert, sondern Berichten zufolge sogar gefördert wurden. Arabische Kommentatoren zogen die Parallele zur Erstürmung Bagdads durch die Mongolen. Offenkundig ist mittlerweile: Die systematischen Zerstörungen sollten den Weg frei machen für eine völlige Neuordnung des Iraks gemäß US-amerikanischen Vorstellungen und Interessen. Entsprechend lange vor dem Krieg ausgearbeiteter detaillierter Pläne sollen staatliche Betriebe, Einrichtungen und Dienstleistungen, wie die Wasserversorgung, privatisiert, d.h. an ausländische Konzerne übergeben werden. Die »Washington Post« sprach in diesem Zusammenhang von der größten »feindlichen Firmenübernahme« der Geschichte. Obwohl das geltende Völkerrecht Besatzungsmächten verbindlich vorschreibt, die vorhandenen Gesetze und gesellschaftlichen Strukturen im besetzten Land zu respektieren und die Wirtschaft treuhänderisch zu verwalten, bis eine neue souveräne Regierung im Amt ist, sind bereits Dutzende staatlicher Unternehmen und Branchen zum Verkauf ausgewählt. Die von Paul Bremer auf dem World Economic Forum im Juni 2003 angekündigte »Schocktherapie« für Irak – totale wirtschaftliche Öffnung des Landes und Streichung aller staatlichen Subventionen – droht die schon durch das Embargo stark angeschlagenen irakischen Firmen und landwirtschaftlichen Betriebe in den Ruin zu treiben.
Ende September erließ Paul Bremer mit der Verfügung Nr. 39 ein aggressives Wirtschaftsprogramm: Ausländer können irakische Unternehmen zu 100 Prozent übernehmen – mit Ausnahme der Öl- und Gaswirtschaft, die weiterhin einem von den USA geführten Fonds unterstellt bleibt. Einheimische Wirtschaftsexperten wie der Chef der Commercial Bank of Iraq, Mohammad Dragh, lehnen das Programm entschieden ab. Doch die Meinung der Iraker ist nicht gefragt. Dies sei kein Vorschlag, sondern Gesetz, stellte ein USA-Beamter gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters klar: »In einem Land wie Irak kann man Geld machen.« Kriegsbeute nennt dies Brian Whitaker vom britischen »Guardian«.
Neben den Rüstungskonzernen haben Krieg und Besatzung bereits einer Reihe großer USA-Konzerne – insbesondere jenen mit engen Verbindungen zu Washington, wie Halliburton, Bechtel und DynCorps – Einnahmen in Milliardenhöhe eingebracht, für Aufträge wie den Bau und Unterhalt von Militärbasen, den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur, für Reparaturen an den Ölproduktionsanlagen und Sicherungsaufgaben. Experten schätzen, dass bis zu einem Drittel der monatlichen 3,9 Milliarden Dollar Besatzungskosten an private Firmen gehen.

Des Volkes Unmut

Wen wundert es da, dass der Widerstand wächst. »Der Krieg ist nicht vorbei«, urteilt die in Beirut geborene US-Wissenschaftlerin Rania Masri. Neben Demonstrationen, Verweigerung der Mitarbeit und anderen Formen zivilen Widerstands sehen sich die Besatzungstruppen einem regelrechten Guerillakrieg gegenüber. Die bewaffneten Aktionen gegen die Besatzer werden nicht nur, wie diese es gern glauben machen möchten, von versprengten Resten der Sicherheitskräfte des alten Regimes oder zugereisten religiösen Fanatikern getragen, sondern von einer Vielzahl unterschiedlich zusammengesetzter Gruppen und Organisationen. Die Besatzer werden mit einer prinzipiell feindseligen Stimmung in der Bevölkerung konfrontiert. Bilder von Anwohnern, die voll Genugtuung die Zerstörung von Militärfahrzeugen feiern, gehen um die Welt.
Die Ablehnung der USA-geführten Besatzung ist unabhängig von der Gegnerschaft zur alten Führung. »Es ist wahr, es war ein schreckliches Regime unter Saddam Hussein, aber es gab einen funktionierenden Staat«, so der Tenor vieler irakischer Äußerungen. Noch unterstützt zwar nur eine Minderheit aktiv den militanten Widerstand. Müde und zermürbt von den Kriegen und den Sanktionen, streben die meisten Iraker hauptsächlich nach einer spürbaren Besserung der verheerenden Lebensumstände, vor allem nach Ruhe und Sicherheit. Doch wie auch UN-Mitarbeiter warnen, verlieren immer mehr Menschen die Geduld. Die australische Zeitung »Sydney Morning Herald« sieht »eine wachsende Basis für eine Palästina- oder Belfast-ähnliche Verbundenheit mit dem Widerstand«: eine zentral gesteuerte Bewegung, »die von Nationalismus ebenso getragen wird wie von der Moschee... eine Bewegung, die Saddam und seine Baath-Partei hinter sich gelassen« habe und bereits ausländische Gelder für ihr Bemühen erhalte, die USA-Armee zu vertreiben.
Die stärker und militanter werdende Opposition gegen die Besetzung kommt in den verschiedensten Schattierungen daher, stellt auch die International Crisis Group (ICG) fest. Neben den Gruppierungen, die sich aus den Resten des gestürzten Regimes rekrutieren oder anderen säkularen, patriotischen und linken Organisationen angehören gibt es auch auf Stammesstrukturen und Moscheen basierende Organisationen. Ehemalige Militärangehörige finden sich in allen Organisationen, ein Grund für den oft hohen Grad an Professionalität. Falls sich die Situation nicht rasch ändert, so die ICG, könnten die Unterschiede zwischen den Gruppierungen verblassen und auch radikale Schiiten den bewaffneten Kampf aufnehmen.
Der Widerstand ist auch nicht auf Bagdad und das so genannte »sunnitische Dreieck«, die Region westlich und nördlich der irakischen Hauptstadt, beschränkt. Aktionen werden auch aus dem schiitischen Süden gemeldet. Die Guerilla-Aktivitäten sind dort allerdings deutlich geringer. Hier hatten unmittelbar nach Zusammenbruch der alten Staatsmacht in vielen Städten schiitische Gruppen oder der Klerus die lokale Kontrolle übernommen. Mit den Moscheen verfügen sie über eine Organisationsstruktur, die sich sowohl bei der Verteilung von Hilfsgütern und anderen sozialen Aufgaben, als auch bei der Bildung von Selbstschutzgruppen zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung bewährte. So gab es in den von ihnen kontrollierten Städten Nadschaf und Kerbela keine Plünderungen.
Der Druck auf die Besatzer, Iraker real an der Macht zu beteiligen, steigt: Falls dem nicht nachgegeben wird, drohen nach Ansicht vieler Beobachter Volksaufstände, die schwer unter Kontrolle zu bringen wären. Mit Besorgnis registrieren die Besatzungsmächte auch Ansätze einer Koordination zwischen einflussreichen sunnitischen und schiitischen Kräften.
Der irakische »Prokonsul« Paul Bremer schlägt angesichts solch eklatanter »Undankbarkeit« schärfere Töne an. »Wir werden sie (die Widerstandskämpfer) bekämpfen und ihnen unseren Willen aufzwingen und wir werden sie fassen... oder töten, bis wir unser Gesetz und Ordnung im Land durchgesetzt haben. Wir dominieren das Geschehen und werden dem Land unseren Willen aufzwingen.« Diese Einstellung bekommen weite Teile der Bevölkerung unmittelbar zu spüren. Großangelegte Razzien, willkürliche Gefangennahmen, Erschießungen und regelrechte Menschenjagden sind an der Tagesordnung. Selbst vor Geiselnahme schrecken die Besatzungstruppen nicht zurück, um Gesuchte zu zwingen, sich zu stellen. Anschläge auf amerikanische Soldaten werden mit regelrechten Strafaktionen gegenüber der Bevölkerung am Ort des Geschehens beantwortet. Immer wieder fordert auch das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstrationen Tote und Verletzte. Amnesty International wirft den US-amerikanischen und britischen Truppen zudem vor, tausende irakische Gefangene ohne Anklage und unter entsetzlichen Bedingungen festzuhalten. All dies schürt Wut und Hass unter den Irakern.
»Irak könnte für Amerika das werden, was Afghanistan für das sowjetische Imperium war«, befürchtet der Historiker Michael Ignatief von der Harvard University. Zumindest müssen die Falken in Washington eine Reihe hoch fliegender Pläne vorerst zur Seite legen. So sollte der Irak nach der Eroberung Ausgangsbasis für Neuordnungspläne in der gesamten Region sein. Stattdessen wird nun die Besetzung des Zweistromlandes lange Zeit erhebliche militärische Ressourcen binden.
Ende August ließ Pentagonchef Donald Rumsfeld laut »Financial Times« seinen Mitarbeitern den Film »Die Schlacht von Algier« zeigen, der von der Niederlage der französischen Besatzungstruppen gegen einen entschlossenen Widerstand in Algerien handelt. Der Film zeige, so die britische Zeitung, dass »überlegene Stärke kein Ersatz für eine kohärente Strategie und internationale Legitimität« seien. Beides vermisst das Blatt in Irak. Die alliierten Truppen seien nicht einmal in der Lage, »die Verbündeten und die Institutionen zu schützen, die sie benötigen, um Irak wieder aufzubauen«: Am 19. August waren bei einem Bombenanschlag auf das UN-Hauptquartier in Bagdad der Sondergesandte der Vereinten Nationen, Sérgio Vieira de Mello, und zwanzig weitere UN-Mitarbeiter ums Leben gekommen. Zehn Tage später war der SCIRI-Führer Ayatollah Al Hakim unter den 82 Opfern eines ähnlichen Anschlags in Nadschaf.
Angesichts der wachsenden Probleme drängen Washington und London auf mehr internationale Unterstützung. Die meisten Verbündeten fordern aber für das gewünschte Engagement auch eine adäquate Mitsprache und mehr Autorität für die UNO. Die einflussreiche International Crisis Group (ICG) hat in dem Papier »Das Regieren des Irak« Vorschläge ausgearbeitet, wie der Charakter des Besatzungsregimes zu ändern und stärkere internationale Beteiligung zu erreichen wären. Sie dürften weit verbreitete Vorstellungen beiderseits des Atlantik widerspiegeln. Die ICG hält die »Coalition Provisional Authority« (CPA), wie die Besatzungsbehörde genannt wird, für unfähig, »angemessen für die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu sorgen und Irak erfolgreich zu regieren«. Unrealistisch sei zudem, dass der provisorische »Regierende Rat« unter den aktuellen Bedingungen von den Irakern oder anderen Staaten als »glaubwürdige, legitime und handlungsfähige Institution« angesehen werden könne. Ein Rückzug der Besatzungsmächte wird auch von der ICG nicht in Betracht gezogen. Eine UN-Mission mit ausreichender Autorität könnte aber eine Mittlerrolle spielen, und UN-Truppen aus Ländern, die sich nicht am Krieg beteiligten, könnten als Puffer fungieren. Diese Vorschläge zielen vor allem auf das Image des Unternehmens. Sie sollen, so die ICG, die verbreitete »Wahrnehmung« verringern, die USA wollten Irak beherrschen, und stattdessen das »Bild« eines breiten internationalen Engagements vermitteln und so den »Eindruck von Rechtmäßigkeit« in den Augen der Iraker stärken.
Da die führende Rolle der USA nicht in Frage gestellt wird, laufen die Vorschläge auf ein internationalisiertes Besatzungsregime hinaus, unter dem die Neuordnung Iraks weiterhin im Wesentlichen nach westlichen, vorwiegend US-amerikanischen Vorstellungen vorgenommen würde. Dass sich eine Mehrheit der Iraker damit anfreundet, ist wenig wahrscheinlich. Sie wäre aber geeignet, dem Widerstand Legitimation zu nehmen: Widerstandskämpfer würden sich – zumindest in der westlichen Wahrnehmung – nicht mehr völlig legitim einer offensichtlichen Fremdherrschaft widersetzen, sondern »Friedenssicherungsmaßnahmen« der »internationalen Staatengemeinschaft«.

Nützliches Chaos

Viele Iraker wie auch kritische internationale Beobachter vor Ort vermuten, dass die USA das herrschende Chaos fördern und Machtzentren lokaler Stammes- oder Religionsführer etablieren wollen. Deren »Ordnung« aber könnte »sich als nicht weniger tyrannisch herausstellen als das vorherige Regime«. Die irakische Gesellschaft hat sich traditionell nicht nach ethnischen oder konfessionellen Kriterien definiert. Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten und auch zwischen Kurden und Arabern spielten stets eine untergeordnete Rolle. Durch eine entsprechende Politik können allerdings, vor allem in einem Klima wachsender Gewalt, ethnische und religiöse Gruppenidentitäten massiv verstärkt werden, wie das ehemalige Jugoslawien deutlich vor Augen führt.
So droht die Besetzung aller provisorischen Gremien – von Stadträten bis hin zum »Regierenden Rat« – nach ethnisch-religiösem Proporz die Trennungslinien zwischen den Bevölkerungsgruppen zu verschärfen. Die Entscheidung, bei der Bildung des Übergangsrats »eine auf Konfession und Volkszugehörigkeit beruhende Aufteilung« vorzunehmen, hat den »Prozess der Bildung einer nationalen Regierung in Irak auf potenziell gefährliche Weise verändert«, urteilt die International Crisis Group. Der Think Tank befürchtet, dass Irak damit schon auf »den Weg einer Libanonisierung« gebracht wurde.
Dies käme den radikalen Protagonisten eines USA-Empires nicht ganz ungelegen, da ein einheitlicher Irak für sie stets die Gefahr einer Rückkehr national orientierter Kräfte birgt. In den Strategiepapieren der Neokonservativen wird der Begriff der »kreativen Zerstörung« verwandt, die einer ihrer Wortführer, Michael Ledeen, so erläuterte: »Stabilität ist ein Auftrag, der Amerikas nicht würdig ist... Wir möchten keine Stabilität in Iran, in Irak, in Syrien, im Libanon, und sogar in Saudi-Arabien möchten wir keine Stabilität; Wandel wollen wir... Kreative Zerstörung ist unsere zweite Natur, ob es unsere Gesellschaft betrifft oder das Ausland«.
Verhältnisse wie einst in Libanon oder aktuell in Afghanistan würden die erhofften wirtschaftlichen Möglichkeiten und Profite – so das Kalkül der Strategen in Washington – nicht auf Dauer blockieren. Auch in bürgerkriegsähnlichen Situationen sei, so Vertreter des Pentagons, ein Zugriff auf den Ölreichtum möglich. Dies zeige das Beispiel Kolumbien. »Wir müssen nicht auf den Mond zielen«, zitierte der private Nachrichtendienst »Stratfor« einen Sicherheitsexperten angesichts des Unvermögens, die Guerilla in Irak auszuschalten, »alles was wir tun müssen, ist nur etwas Öl zu pumpen.«
Anhaltendes Chaos, Bürgerkrieg und Zerfall – dieses bei weitem schlimmste Szenario für die Zukunft Iraks, ist eine reale Gefahr, aber sicherlich nicht zwangsläufig. Weder ein stärkeres internationales Engagement noch die auch von Deutschland und Frankreich unterstützten Bemühungen, über den »Regierenden Rat« eine stärkere irakische Beteiligung bei der Herrschaft über das Land zu erreichen, werden aber unter den aktuellen Bedingungen zur Wiederherstellung irakischer Souveränität und zu einer Besserung der Lage in Irak führen. Auch die geplante Ausarbeitung einer neuen Verfassung ändert daran wenig, solange dies unter den Fittichen der USA nach den bekannten Vorgaben geschehen soll. Selbst im Übergangsrat gab es Protest: »Der gesamte Prozess zäumt das Pferd von hinten auf«, so ein führendes Mitglied. »Eine Verfassung kann nicht unter Besatzung geschrieben werden.«

Der Ausweg

Lösungsansätze für eine baldige Wiederherstellung irakischer Souveränität enthalten die Anfang Oktober von UN-Generalsekretär Kofi Annan und seinem Berater, dem ehemaligen libanesischen Kultusminister Ghassan Salam, vorgelegten Pläne. Sie sehen eine Machtübergabe an eine provisorische Regierung innerhalb von drei bis fünf Monaten vor. Diese Übergangsregierung soll auf breiteste Basis gestellt werden und auch führende Geistliche sowie Mitglieder der früheren Regierungspartei einschließen. Dies scheint für all die, die unter der Diktatur litten oder einen starken islamischen Einfluss fürchten, kaum hinnehmbar. Doch auch in vielen anderen Ländern, wie beispielsweise Südafrika, wurde ein unblutiger Neuanfang nur durch schmerzliche Kompromisse möglich. Ein solcher Kompromiss ist zwar schwierig, aber durchaus möglich.
Nach den Vorstellungen Annans soll sich allerdings auch die angestrebte breite Übergangsregierung auf »USA-geführte multinationale Streitkräfte« stützen. Neben Rücksichtnahme auf die Supermacht steckt dahinter die weitverbreitete Einschätzung, dass die Besatzungstruppen im Moment unverzichtbar seien, da nur sie eine Ausweitung von Chaos und Gewalt bis hin zum Bürgerkrieg verhindern könnten. Wenn diese Gefahr auch nicht zu unterschätzen ist, so wird doch übersehen, dass die Besatzungstruppen bisher wenig dazu beitrugen, die allgemeine Sicherheitslage zu verbessern. Diese ist überall dort besser, wo lokale Kräfte die Kontrolle übernommen haben. Vor allem aber ist ihre Präsenz selbst Hauptursache für das hohe Maß an Gewalt, und es ist absehbar, dass sowohl der Widerstand wie – als Antwort darauf – die repressive Gewalt der Invasoren noch erheblich zunehmen werden.
Vorbedingung eines jeden realistischen Weges aus der aktuellen Misere ist der Rückzug der Invasionstruppen. Erst dann ist mit Unterstützung der Iraker zu rechnen und gibt es eine Chance, eine Übergangsregierung auf breiter Basis zu bilden und den Übergang bei Bedarf durch klassische UN-Blauhelme aus neutralen Staaten abzusichern. Jede internationale Unterstützung für das Besatzungsregime hingegen legitimiert den USA-Anspruch auf Irak und verlängert das Leid der Menschen – der Iraker und der ausländischen Soldaten.

Unser Autor ist Mitherausgeber eines demnächst im PapyRosa Verlag erscheinenden Buches »Der Irak – Krieg, Besetzung, Widerstand« (15,80)

© ND GmbH 2003 - Kontakt zur Redaktion redaktion@nd-online.de