Besatzer und Besetzte – Militärrazzia in Bagdad
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* Der Chef des im schwedischen Lund ansässigen Friedensinstituts TFF
Jan Oberg und der langjährige UN-Diplomat Hans von Sponeck (Genf) haben
zusammen mit Annabel McGoldrick (Sydney), Vicky Rossi (Jerusalem) und
Annette Schiffmann (Heidelberg) einen Vorschlag zur Beendigung der
US-Besatzung im Irak ausgearbeitet. junge Welt dokumentiert das Papier
auszugsweise. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Jürgen Heiser.
1. Ende der Besatzung durch den Rückzug ausländischer Truppen und
Söldner und den Abbau der Militärstützpunkte
Die
heutige Existenz organisierter Widerstandgruppen im Irak ist eine
direkte Folge des Einmarsches von 2003 und der nachfolgenden Besatzung.
Das Gleiche gilt für terroristische Gruppen wie Al-Qaida und
Al-Qaida-in-Mesopotamien. Die Besatzungsmächte haben eine
bürgerkriegsähnliche Situation provoziert, indem sie einzelne
sektiererische und ethnische Gruppen gegeneinander ausgespielt haben.
Die gegenwärtigen Konflikte und die Gewalt unter Irakern –
beispielsweise zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen – wären
ohne die Besatzung und Einmischung von außen nicht entstanden. Iraker
aus allen Gesellschaftsschichten sind sich sicher, daß der Rückzug
ausländischer Truppen eher zu einem Rückgang als zu einem weiteren
Anwachsen der Gewalt führen würde.
Das Ende der Besatzung muß
zeitlich sowohl mit der Schließung von ausländischen
Militärstützpunkten, dem Abzug von ausländischem Militär und von
privaten Sicherheitsdiensten und Söldnern zusammenfallen als auch mit
der Verkleinerung der US-Botschaft. Sie alle sind Inbegriff einer
Besatzungsmacht und deren Interesse an den Energieressourcen des Irak.
2. Wiedererrichtung und Respektierung der irakischen Souveränität
und territorialen Integrität
Es
gibt zu viele vereinfachende Auffassungen über das Land Irak. Eine
besagt, daß es dort hauptsächlich drei deutlich voneinander zu
unterscheidende Gruppen gibt: die Kurden im Norden, die Sunniten im
Zentrum und die Schiiten im Süden. Bei dieser Betrachtungsweise wird
nicht nur die ethnische und religiöse Zugehörigkeit
durcheinandergebracht, sie ist auch faktisch falsch. Erstens sind die
Kurden in ihrer Mehrheit Sunniten, und zweitens haben sich Araber und
Kurden traditionell in den meisten Teilen des Landes vermischt. Vor der
Invasion lebten in Bagdad ungefähr eine Million Kurden – weltweit die
größte Konzentration in einem städtischen Gebiet.
Die
»Drei-Gruppen-Theorie« hat einige Außenstehende dazu gebracht, auf
unverantwortliche Weise die Teilung des Irak in drei autonome, wenn
nicht sogar völlig voneinander getrennte Gebiete zu erwägen. Der
internationale Beitrag zur Unterstützung des Landes muß vor allem
darauf abzielen, dem Irak als Einheit und nicht als dreigeteiltem Land
zu helfen. Was auch immer dort passiert, es ist Sache der Iraker, das
zu entscheiden und ein Einvernehmen herzustellen.
3. Eine von den Vereinten Nationen geleitete friedensbildende Mission
Will
die UNO als Partner überzeugen, muß sie eine eindeutige Bereitschaft zu
einer respektvollen Partnerschaft mit dem irakischen Volk zeigen.
Zusätzlich muß eine breit aufgestellte UN-Mission ihre Bemühungen mit
der Liga der Arabischen Staaten, der Organisation der Islamischen
Konferenz (OIC), dem Golf-Kooperationsrat (GCC) und unter Umständen mit
der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und
der Europäischen Union verknüpfen und abstimmen.
Es muß noch
einmal betont werden, daß die schätzungsweise 26 Millionen Bürger und
Bürgerinnen des Irak – die in Irakisch-Kurdistan in besseren
Verhältnissen und höherer Sicherheit Lebenden eingeschlossen – in einem
Maße leiden, wie es in der Neuzeit noch nicht vorgekommen ist. In
diesem Zusammenhang sei ausdrücklich auf die zirka zwei Millionen
Vertriebenen innerhalb des Landes und zirka 2,5 Millionen Flüchtlinge,
die das Land verlassen haben, verwiesen.
4. Schuldenerlaß
45
Staaten haben entschieden, daß die Schulden, die der Irak bei ihnen
hat, erlassen werden. Der Gesamtbetrag beläuft sich auf über 140
Milliarden US-Dollar. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Die Bestätigung, daß der Schuldenerlaß erfolgt ist, sollte alsbald
folgen.
5. Internationale Entschädigung für Sanktionen, Invasion und
Besatzung
Es
ist weithin bekannt, welche ungeheuren Kosten den USA durch Invasion
und Besatzung entstanden sind. Es gibt aber keine Schätzungen darüber,
welche Kosten der irakischen Gesellschaft durch die physische, mentale,
soziale und kulturelle Zerstörung entstanden sind. Es geht hierbei
nicht um humanitäre oder Entwicklungshilfe, sondern um Entschädigung
für die Folgen von Krieg, Besatzung und Sanktionen. 1991 hat der
UN-Sicherheitsrat den Irak für die Zerstörungen verantwortlich gemacht,
die durch den Einmarsch in Kuwait entstanden sind. Daraufhin wurde der
UN-Entschädigungsausschuß (UNCC) eingesetzt. Regierungen, Unternehmen
und Individuen stellten Schadenersatzansprüche in Höhe von 350
Milliarden US-Dollar. 30 Prozent der Gelder, die für humanitäre
Programme im Irak vorgesehen waren, wurden zur Befriedigung dieser
Ansprüche zweckentfremdet, während sich gleichzeitig die
Kindersterblichkeit im Irak einem Höhepunkt näherte.
6. Hoheitsgewalt über Ölvorkommen
Der
Irak ist im Besitz der größten Ölvorkommen der Welt. Es muß Teil des
Friedensprozesses sein, daß der Irak seine völlige Hoheitsgewalt über
seine Ölvorkommen und die künftigen Einnahmen daraus zurückerhält. Das
würde heißen, daß alle gegenteiligen »Abkommen«, wie sie von der
»Coalition Provisional Authority« (CPA – die frühere
US-Besatzungsbehörde, die Red.) verkündet wurden, für null und nichtig
erklärt werden.
7. Der Nahe Osten – Eine Zone frei von Massenvernichtungswaffen
Der
UN-Sicherheitsrat und die UN-Generalversammlung haben beide schon vor
längerer Zeit darauf bestanden, daß der Nahe Osten eine Zone sein soll,
die frei ist von Waffen und Massenvernichtungswaffen. Das betrifft alle
Länder im Nahen und Mittleren Osten einschließlich Israel, das seit
Jahrzehnten zu den Atommächten gehört, und weitere Länder wie den Iran,
der womöglich danach trachtet, eine solche Macht zu werden. Es kann
keinen Frieden in der Region geben, solange dort nicht ein Abbau
nuklearer und anderer Massenvernichtungswaffenanlagen stattfindet.
8. Prozeß der Wahrheitsfindung und Aussöhnung
Die
sozio-psychologische Gewalt, unter der Millionen Iraker leiden, wird in
der öffentlichen Debatte und in den Medien überschattet vom Ausmaß der
physischen Zerstörung. Nicht nur denen, die materiellen Schaden
erlitten haben, sondern auch jenen Millionen, die psychisch gelitten
haben, steht ein Menschenrecht auf Hilfe zu. Ähnlich wie andere
Konfliktländer in der Vergangenheit wird auch der Irak einen
gesellschaftlichen Prozeß und angemessene institutionelle Regelungen
brauchen, um sicherzustellen, daß die umfassende Wahrheit über seine
Gegenwartsgeschichte offengelegt und dokumentiert wird.
9. Zusammenarbeit von Mensch zu Mensch
Regierungen
allein sind nicht in der Lage, ihre Fehler wiedergutzumachen. Es ist
zwingend erforderlich, daß die Zusammenarbeit von Mensch zu Mensch Teil
des Friedensprozesses im Irak wird. Zu den auswärtigen Kräften, die
ermutigt werden sollten, nach Beginn des neuen Typs der von der UNO
geleiteten Mission im Irak zu arbeiten, sollten Ärzte,
Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Ingenieure, Lehrer und Ausbilder
gehören. Junge Iraker, die durch Sanktionen und Invasion viele Jahre
verloren haben, sollten im In- und Ausland Stipendien erhalten. Viele
dieser Initiativen können nur ergriffen werden, wenn die
Sicherheitsbedingungen es erlauben. Bis das soweit ist, können
elektronische Mittel genutzt werden, die Verständigung zu fördern.
10. Ein umfassender Ausgleich für die gesamte Region
Heute
stehen alle Krisen in den verschiedenen Teilen des Nahen und Mittleren
Ostens in Wechselwirkung miteinander; sie können nicht isoliert
voneinander gelöst werden. Deshalb wird es eine wichtige Initiative in
Richtung Frieden sein, eine ständige Regionalkonferenz einzuberufen –
unter Federführung der UNO und der Arabischen Liga –, in der alle
Parteien der verschiedenen Konflikte einschließlich Regierungen,
regionalen Organisationen und Zivilgesellschaft zusammenkommen, um über
Frieden, Sicherheit und Entwicklung im Nahen Osten zu diskutieren. Es
ist wichtig zu betonen, daß eine solche Regionalkonferenz wirklich alle
mit einbeziehen muß. Keine Partei darf außen vor bleiben.
* Vollständiger Wortlaut im Internet:
http://transnational.org/Area_MiddleEast/2007/TFF_IraqPeacePlan2008.pdf