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Tödliche Woge

Die neue US-Strategie bedeutete eine militärische Eskalation. US-Truppen greifen nun hauptsächlich aus der Luft an und manipulieren Berichte für eine blendende Presse. Der Irak bleibt eines der für Leib und Leben gefährlichsten Länder der Welt.

 

Von Joachim Guilliard

erschien leicht gekürzt in junge Welt, 01.12.2008 / Thema / Seite 10 
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„Diese Räuber der Welt durchwühlen, nachdem sich ihren Verwüstungen kein Land mehr bietet, selbst das Meer; ist der Feind reich, treibt sie die Gier; ist er arm, die Ehrsucht. [...] Plündern, Morden, Rauben preisen sie fälschlich als Imperium, und wo sie eine Wüste schaffen, nennen sie es Frieden“ 

(Tacitus, Agricola)

 

Wenige Wochen vor den Präsidentenwahlen ist der Krieg im Irak fast aus den Nachrichten verschwunden. Während die Pläne der US-Regierung, den Finanzjongleuren der Wall Street mit 700 Milliarden Dollar aus der Patsche zu helfen, für erheblichen Wirbel sorgte, ging gleichzeitig die Verabschiedung eines neuen Rekordetats des Pentagons in fast derselben Höhe beinahe unbemerkt über die Bühne. Obwohl die extreme Steigerung der Militärausgaben, nicht zuletzt durch die immensen Kosten für den Krieg im Irak, eine der wesentlichen Ursachen der ökonomischen Krise in den USA ist[1], regte sich kaum Widerstand.

 

Mit überwältigenden Mehrheiten billigten Senat und Repräsentantenhaus für das kommende Jahr Militärausgaben in Höhe von 612,5 Milliarden Dollar, inklusive einer ersten Rate von 70 Milliarden für die operativen Kosten der Besatzung im Irak und in Afghanistan. Damit werden die direkten Kosten beider Kriege 850 Milliarden übersteigen und mit den 2009 wieder zu erwartenden Nachschlägen in der Größenordnung von 100 Milliarden Dollar sich rasant einer Billion nähern. Vier Fünftel dieser Summen verschlingt der Irakkrieg, dessen Kosten ab 2009 die des Vietnamkrieges (1965–1975) in Höhe von 686 Milliarden in heutigen (konstanten) Preisen übersteigen werden.[2] Rechnet man die indirekten Kosten ein, so liegen die Gesamtkosten nach Schätzungen unabhängiger Experten bei mindestens drei Billionen Dollar.

Medienkrieg des Pentagon

300 Millionen des neuen Etats gehen an vier PR-Firmen, die beauftragt sind, die irakischen Medien zu beeinflussen. Indem geeignete Nachrichten, Kommentare, Erklärungen etc. produziert und in die diversen Medien eingespeist werden, soll ein günstiges Bild der US-amerikanischen Aktivitäten im Land gezeichnet und Hoffnung auf eine bessere Zukunft geweckt werden. Begonnen wurde damit schon 2003; mit der Einführung neuer Einsatzrichtlinien kam dieser Form der psychologischen Kriegführung ab 2007 eine Schlüsselrolle zu. Konfrontiert mit einer Bevölkerung, die gegenüber den US-Zielen feindlich eingestellt ist, sei die Kontrolle der veröffentlichten Informationen und der öffentlichen Wahrnehmung der Ereignisse vor Ort eine für den Erfolg entscheidende Maßnahme, so das neue Feldhandbuch der US-Army für die »Aufstandsbekämpfung« (www.fas.org/irp/doddir/army/fm3-24.pdf).[3] Ko-Autor des Handbuchs ist General David Petraeus, der 2007 Oberkommandierender der US-Army im Irak wurde und eine drastische Verstärkung sowohl der Kampftruppen als auch des Informations- und Kommunikationskrieges (information warfare) einleitete.

 

Im eigenen Land ist der Regierung die Verbreitung solch verschleierter Propaganda verboten. Selbst wenn es gewollt wäre, ist es jedoch, nicht zu verhindern, daß vieles von dem, was in rund 300 Nachrichtenartikeln Monat für Monat im Irak und im arabischen Raum verbreitet wird, auch in die Medien des Herkunftslandes zurückfließt. Das Wesentliche an den Medienmanipulationen ist schließlich die Verschleierung ihrer Herkunft, z.B. durch einheimische Mittelsmänner. Würde ihre amerikanische Herkunft bekannt, wären sie sofort wertlos.

 

Die Wirkung im Irak dürfte eher gering sein, da, wie auch US-Offiziere vor Ort einräumen, »sich Iraker ihre Meinung, wie die meisten Menschen, mehr aufgrund ihrer Erfahrung bilden und nicht nach dem, was sie in der Zeitung lesen«. In den Aufträgen an die PR-Firmen werden jedoch als »strategische Zielgruppen« für eine »effektive Kommunikation« auch die US-amerikanische und die internationale Öffentlichkeit genannt – offensichtlich ist auf diese die Propaganda auch ausgerichtet. Deren Wirkung wird noch dadurch verstärkt, daß die Zahl ausländischer Journalisten immer mehr abnimmt. Die meisten verließen bereits 2004 aufgrund der massiv verschlechterten Sicherheitsbedingungen das Land. Der Rest wurde nun in dem Maße abgezogen, indem parallel zum Rückgang der spektakulären Anschläge und Kämpfe in Bagdad auch das Medieninteresse nachließ. [Die Zahl der Nachrichtenartikel sank im Vergleich zum Frühjahr 2007 auf ein Fünftel.[4]]

 

Hatten sich im September 2007 noch 219 Journalisten in Einheiten der US-Armee »einbetten« lassen, so waren es im September dieses Jahres gerade noch 39. Doch auch diese bekommen von den Kämpfen außerhalb Bagdads kaum noch etwas mit. Die US-Armee zeigt kein Interesse mehr, Journalisten zu Kampfeinsätzen mitzunehmen, würden sie doch das Bild eines weitgehend beruhigten Landes nachhaltig demontieren. »Es ist offensichtlich, daß sie versuchen, uns aus den aktiven Kampfzonen herauszuhalten und uns in Gebiete zu drängen, in denen Wiederaufbau und Ausbildung im Gange ist«, so Robert H. Reid, Bürochef von Associated Press in Bagdad. [5]Auch wenn der »eingebettete Journalismus« wenig objektiv ist, gelangten so immerhin noch ein paar unabhängige Beobachter an einige der Brennpunkte. Die Offensiven dieses Jahres, in Basra, Sadr City, Mosul und der Diyala-Provinz liefen praktisch unter Ausschluß der internationalen Öffentlichkeit.

»Surge« – Eskalation des Krieges

Die Ursache des nachlassenden Interesses am Geschehen im Irak, ist das positive Bild der Entwicklung, das von US-Regierung und Medien seit Monaten gezeichnet wird. Die neue, Anfang 2007 eingeführte Strategie »Ein neuer Weg vorwärts« hätte Früchte getragen, die als »Surge« (deutsch: »Woge«, »Flut«, »Zunahme«) bezeichnete zeitweilige Erhöhung der Truppenstärke und die Ausweitung der Militäroperationen, so der Tenor, habe gewirkt. Die Lage sei nun unter Kontrolle und die Gewalt zurückgegangen.

 

Ein Rückgang der Gewalt ist jedoch nur verglichen mit dem extrem hohen Niveau zuvor spürbar. Darüber hinaus sind, wie auch das General Accounting Office (GAO), der oberste Rechnungshof der USA, feststellte, keine grundlegenden Verbesserungen der allgemeinen Bedingungen zu erkennen.[6] Der Irak liegt immer noch in Trümmern und bleibt eines der für Leib und Leben gefährlichsten Länder der Welt. Die knapp fünf Millionen Flüchtlinge sehen jedenfalls noch keine akzeptablen Bedingungen für ihre Rückkehr.

 

[Auch kaum eines der politischen Ziele, die die Bush-Regierung selbst im Zusammenhang mit ihrer militärischen Eskalationsstrategie formulierte, wurde erreicht. Der zeitweilige Rückgang der Gewalt, so z.B. auch General William Odom in einer Anhörung vor dem Senat, ging einher mit einer weiteren Fragmentierung der politischen Verhältnisse, die den Irak – durchaus absehbar – weiter destabilisiert.[7]]

Auch die Bush-Administration traut dem Erfolg keineswegs – nur ein Teil der zusätzlichen Truppen wurde wieder abgezogen, und wenn Präsident George W. Bush abtritt, werden immer noch weit mehr Truppen im Irak stehen als zwei Jahre zuvor.

 

Als meßbarer Erfolg der US-Truppen bleibt nur der Rückgang ihrer Verluste auf den niedrigsten Stand seit Beginn des Krieges. Doch läßt sich daraus auch auf verbesserte Sicherheitsbedingungen für die irakische Bevölkerung schließen? Nein, meint Azzaman, eine der renommiertesten irakischen Zeitungen, und verweist nicht zuletzt auf die zahlreichen Militäroperationen US-amerikanischer und irakischer Truppen, die nach wie vor in verschiedenen Provinzen »eine Spur der Zerstörung und zahlreiche Opfer zurücklassen« würden. »Der drastische Rückgang der US-Verluste geht einher mit einem drastischen Anstieg von irakischen Toten und Verletzten«, so das Blatt. Doch »die USA führen keine Liste der Iraker, die sie töten, ebensowenig die irakische Regierung«.[8]

 

In der Tat liegen über die aktuelle Zahl irakischer Opfer keine verläßlichen Angaben vor. Gemäß Statistiken, die auf Basis von westlichen Medienberichten zusammengestellt wurden, ging die monatliche Zahl getöteter Iraker, nach Rekordhöhen in der Hochphase der »Surge«, wieder auf das Niveau von 2005 zurück, d.h. auf den Stand vor der Explosion der Gewalt nach dem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samara.[9] Doch auch damals schon wurden gemäß der Lancet-Studie von 2006 fast 4000 Iraker pro Woche getötet.

 

Mit der Truppenerhöhung hat dieser Rückgang der Gewalt zudem wenig zu tun. Dort, wo er am deutlichsten ist, in der sunnitischen Widerstandshochburg Anbar und in der Ölmetropole Basra, waren sogar Truppen abgezogen worden. Entscheidend waren vielmehr andere Faktoren, vor allem das Bündnis mit sunnitischen Stammesmilizen und die Waffenruhe, die der prominente Kleriker Muqtada Al-Sadr seiner Miliz, der Mehdi-Armee, verordnete. Hinzu kam das natürliche Abebben des Terrors schiitischer Milizen und sunnitischer Extremisten, nachdem sie ihre Vertreibungsaktionen erfolgreich abgeschlossen hatten.

 

Eskalation aus der Luft

Der Rückgang der US-Verluste ist vor allem auf die drastische Reduzierung des Einsatzes von Bodentruppen zurückzuführen. Die US-Streitkräfte setzen statt dessen zunehmend auf die Luftwaffe und überlassen die Kämpfe am Boden den irakischen Hilfstruppen. Waren bereits 2006 insgesamt 10.500mal Kampflugzeuge und Hubschrauber zur »Luftunterstützung« angefordert worden – fast 30 Einsätze pro Tag –, so hat die US Air Force nach eigenen Angaben die Zahl der Luftwaffeneinsätze 2007 vervierfacht und die Zahl der Bombenabwürfe verzehnfacht.[10]

 

Bei allen größeren Militäroperationen dieses Jahres, ob in Mosul, Bakuba, Basra oder Bagdad, setzten die Besatzungstruppen überwiegend auf Luftangriffe und die Feuerkraft ihrer Panzer und überließen die Straßenkämpfe den irakischen Fußtruppen. Während sie auf diese Weise im Frühjahr, während der fast sechswöchigen Offensive gegen Sadr City, kaum Tote zu beklagen hatten, ging die Zahl der getöteten und schwer verwundeten Anwohner in die Tausende.

 

[Verstärkt kommen dabei auch ferngesteuerte Fluggeräte, wie die Kampfdrohnen Predator and Reaper, zum Einsatz. Ein Reporter der New York Times, der kürzlich die Leitzentrale dieser Drohnen besichtigen durfte, musste sich verpflichten, deren Standort geheimzuhalten – aus Rücksicht auf das Gastland, in dem sie sich befindet. Ein Ort der dafür sehr gut in Frage käme, wäre das Warfighting Headquarters der US-Luftwaffe im pfälzischen Ramstein.[11]]

 

Schließlich geben die USA auch mehr Geld als je zuvor für private Söldner aus.[12] Die Zahl der »Private Contractors«, die für das US-Militär im Irak arbeiten, hat sich seit September letzten Jahres um 12.000 auf 149.00 erhöht. Das entspricht fast der Zahl, um die die Stärke der regulären US-Truppen wieder reduziert wurde.[13]

Krieg und Repression am Boden

Zunächst bedeutete die Aufstockung der Truppen um 38.000 auf insgesamt 165.000 Soldaten für weite Teile der Bevölkerung in Bagdad und Umgebung allerdings eine massive Eskalation des Krieges und der Repression am Boden. Kritische Bilder und Berichte von vorrückenden Panzern und Kampfhubschraubern [die im Falle von Truppenverbänden einer nicht befreundeten Macht mit Sicherheit die Nachrichten dominiert hätten] blieben jedoch aus. In den Medien erschienen die US-Truppen vielmehr als Retter, die antraten, der »mörderischen Gewalt« Einhalt zu gebieten – ihr Morden gilt offenbar nicht als Gewalt.

 

"Du kennst Abu Ghraib"

Ein weiterer Soldat drückte einen Verdächtigen an die Mauer. "Du kennst Abu Ghraib?" höhnt er. Die Iraker wehren sich nicht - sie sind eine solche Behandlung gewöhnt. Razzien durch US-Truppen sind Teil der täglichen Routine im Irak geworden, eine systematische Form von Gewalt, die einer ganzen Nation aufgezwungen wurde. Eine militärische Besatzung ist von ihrer ganzen Natur her eine schreckenerregende und brutale Sache, und selbst die un-schuldigste amerikanische Patrouille terrorisiert unvermeidlich unschuldige irakische Zivilisten. Jeder Mann auf einem Markt wird zusammengetrieben und mit vorgehaltener Waffe durchsucht. Soldaten - die Gesichter kaum sichtbar hinter Helmen und Schutzbrillen - brechen spät in der Nacht in Häuser ein, reißen die Wohnung auseinander auf der Suche nach Waffen, fesseln die Männer und verbinden ihnen die Augen während die Kinder zusehen, wimmernd und traumatisiert. US-Soldaten sind das einzige Gesetz im Irak und Du bist ihren Launen ausgesetzt. Nir Rosen, The Myth of the Surge, Rolling Stone, 6.3.2008

Der renommierte US-Journalist Nir Rosen jedoch, der im Dezember 2007 in Bagdad war, konnte mit eigenen Augen sehen, wie der Erfolg der Besatzer in den betroffenen, einst so geschäftigen Vierteln Bagdads aussieht. Er fand nur noch halbverlassene Geisterstädte vor, zerstört durch über fünf Jahre Krieg. Ein Haus neben dem anderen ist verwüstet, die sandfarbenen Mauern durch Kugellöcher zernarbt. Viele Türen stehen offen, die Wohnungen sind unbewacht und oft weitgehend leergeräumt.[14] Der irakische Fotojournalist Ghaith Abdul-Ahad hat dies für den britischen Guardian in einer eindrucksvollen Filmserie zum fünften Jahrestag des Kriegsbeginns festgehalten (siehe http://www.guardian.co.uk/fiveyearsiniraq ).

 

Obwohl er in Bagdad geboren ist und hier als Deserteur unter Saddam Hussein sechs Jahre im Untergrund lebte, benötigte er sechs Wochen, um für seine Aufnahmen eine sichere Passage durch die Stadt zu organisieren. Er kam, um die Behauptungen des US-Militärs zu untersuchen, die »Surge« hätte Bagdad Stabilität gebracht und das Leben in der Stadt verbessert. »Was ich fand«, so sein Fazit, »steht in völligem Widerspruch zu allen offiziellen Berichten.« Die Menschen in Bagdad »sind hoffnungsloser, als ich sie je zuvor sah«.[15]

 

Über 40.000 US-amerikanischer Kampftruppen und mehrere Divisionen der irakischen Armee waren im ersten Halbjahr 2007 in und um Bagdad zusammengezogen worden, die sukzessive und unter heftigen Kämpfen in überwiegend sunnitische Stadtteile eindrangen. Systematisch wurde Straßenzug um Straßenzug abgeriegelt und die Häuser gestürmt. Alle männlichen Bewohner zwischen fünfzehn und sechzig Jahren wurden erkennungsdienstlich erfaßt, inklusive Fingerabdrücken und Iris-Scan. Tausende Anwohner, die als Oppositionelle bekannt waren oder der Zusammenarbeit mit dem Widerstand verdächtig schienen, wurden festgenommen. Die Zahl der politischen Gefangenen hat sich in der Folge fast verdoppelt. Die US-Truppen allein hielten Ende 2007 nach eigenen Angaben 25.000 Iraker gefangen, die irakischen Sicherheitskräfte weitere 50.000 bis 75.000.[16]

 

In nun schutzlos gewordene Viertel drangen schiitische, meist den Regierungsparteien nahestehende Milizen ein und begannen auch hier mit nächtlichem Terror, Sunniten und sonstige Gegner zu vertreiben. Hunderttausende wurden so im Lauf der »Surge« aus der Hauptstadt gejagt oder flohen vor den Angriffen der Besatzer. Der Anteil der nichtschiitischen Bevölkerung Bagdads sank, Statistiken der US-Armee zufolge, seit April 2006 von 35 auf 25 Prozent.[17] [Auf Satellitenaufnahmen Bagdads sind die betroffenen sunnitischen Stadtteile nachts nun deutlich dunkler als der Rest der Stadt.[18] ]. Der Prozentsatz schiitisch dominierter Viertel stieg von 30 auf 75.[19]

 

"Anstieg der Zahl der Binnenflüchtlinge im Zuge der "Surge""

Textfeld: Anstieg der Zahl der Binnen¬flüchtlinge im Zuge der „Surge“

Die Internationale UN-Organisation für Migration, IOM, schätzt, daß sich die Zahl der Flüchtlinge aus Bagdad im Zuge der »Surge« verzwanzigfachte. Die Gesamtzahl der Binnenflüchtlinge hat sich zwischen Februar und August 2007 von 0,5 auf 1,1 Millionen verdoppelt. [20]Für Dana Graber Ladek, Spezialistin für Vertreibung im irakischen Büro der IOM, eine vorhersehbare Folge der militärischen Eskalation. »Wenn eine Surge bedeutet, daß Soldaten auf den Straßen patrouillieren, um Gewalt zu verhindern, ist das eine Sache. Wenn eine Surge Militäroperationen bedeutet, bei denen Angriffe und Bombardierungen stattfinden, dann wird sie selbstverständlich zu Vertreibungen führen.«[21]

 

Prekär blieb auch die Lage für die kleineren ethnischen und religiösen Minderheiten, die besonders hart unter den durch die Besatzung geschaffenen Bedingungen leiden. Unter dem säkularen Regime Saddam Husseins waren sie respektiert und geschützt gewesen, der Staat baute für sie zahlreiche Kirchen und Gebetsstätten.[22] Vom aktuellen sektiererischen Regime hingegen haben sie keinen Schutz zu erwarten, sie werden im Gegenteil als natürliche Gegner der Islamisierung und des kurdischen Separatismus nicht zuletzt von den Milizen der Regierungsparteien terrorisiert. Viele christliche Priester und Organisationen sehen z.B. nicht Al-Qaida, sondern die beiden Kurdenparteien hinter der jüngsten Gewaltwelle gegen Christen in Mosul, die durch die Vertreibung von über 2.000 christlichen Familien ihrem Ziel einer kurdischen Mehrheit in der Provinz wieder ein Stück näherkamen.[23]

Teile und Herrsche

Trotz wütender Proteste der Anwohner wurden die meisten der »befriedeten« Stadtteile Bagdads durch fast vier Meter hohe, stacheldrahtbewehrte Betonmauern hermetisch eingeschlossen, alle nur durch einige wenige enge und stark bewachte Checkpoints durchbrochen. Nur Bewohner mit neuer ID-Karte können sie – nach Überprüfung ihrer biometrischen Merkmale – ohne weiteres passieren. Mauern in einer Gesamtlänge von über 30 Kilometer zerteilen nun Bagdad, endlose Schlangen vor den Durchlässen sind die Folge. Handel und Wirtschaft kamen dadurch nahezu zum Erliegen. Offiziell als Schutz der Bevölkerung vor Übergriffen durch sektiererische Milizen gedacht, dienen sie vor allem dazu, die Bewegungsfreiheit des Widerstands einzuschränken und die Bewohner der Viertel einer lückenlosen Kontrolle unterwerfen zu können.

 

Die Errichtung dieser sogenannten „Gated Communities“ (eigentlich die Bezeichnung für bewachte Wohnanlagen der Reichen) erinnert an ähnliche Maßnahmen der französischen Besatzungstruppen in Algerien und an die »strategischen Dörfer« der USA im Vietnamkrieg. Mehr noch orientieren sich die US-Truppen jedoch an israelische Erfahrungen, wie durch Ausnutzung modernster Technik und durch Teilung der besetzten Gebiete in Enklaven Widerstand in einem städtischen Umfeld eingedämmt werden kann. Iraker vergleichen ihre ummauerten Stadtteile daher oft auch mit dem Gazastreifen in Palästina.

 

Professor Steve Niva, Nahostexperte am Evergreen State College in Olympia/Washington, faßte das Ergebnis der Surge treffend zusammen: »Während das allgemeine Ausmaß an Gewalt zweifellos vorübergehend sank, wurde der Irak faktisch in einen Panzer aus Betonmauern und Stacheldraht eingesperrt, verstärkt durch eine Besatzung aus der Luft.«[24]

 

Eine zentrale Komponente in der US-Strategie zur Unterwerfung des Iraks ist die Spaltung der irakischen Gesellschaft nach ethnisch-konfessionellen Kriterien. Auch die Grenzen der eingezäunten Enklaven in Bagdad, wurden nach diesen Kriterien gezogen. Die vom Oberkommandieren General David Petraeus ausgearbeitete neue Strategie setzte dadurch den von Beginn der Besatzung an eingeschlagenen Weg fort, der von Bernard Lewis, einem der führenden Neokonservativen, bereits in den frühen 90er Jahren skizziert worden war: Der starke arabische Nationalismus in Ländern wie Irak könne, so Lewis, nur dann neutralisiert werden, wenn die Zentralgewalt ausreichend geschwächt würde. Dann »gibt es keine wirkliche Zivilgesellschaft mehr, (…) der Staat löst sich – wie im Libanon – in ein Chaos sich zankender und bekämpfender Sekten, Stämme, Religionen und Parteien auf.«[25]

 

Die konkrete, aktuelle Umsetzung dieser Politik formulierte Stephen Biddle, Berater von General Petraeus in Bagdad, in einem Beitrag für Foreign Affairs wie folgt: Durch ein Programm zur Bewaffnung ihrer sunnitischen Gegner soll die schiitisch-kurdische Maliki-Regierung unter Druck gesetzt werden, die Vorgaben aus Washington williger, rascher und vollständiger umzusetzen. Militante sunnitische und säkulare Nationalisten hingegen sollen durch die Drohung, den Regierungsparteien durch Aufrüstung der Armee mit Panzern und leichter Luftwaffe zu mehr militärischer Macht zu verhelfen, zum Einlenken gezwungen werden. Da dies die Fähigkeit der Regierungstruppen, »Massengewalt gegen Sunniten zu verüben, dramatisch erhöhen« würde, wäre dies ein »mächtiger Anreiz«, ihre Forderung nach einem raschen Abzug der Besatzungstruppen »zu relativieren«.[26]

 

Tatsächlich gelang es den USA, Bündnisse mit sunnitischen Kräften unter Ausnutzung ihrer Sorge vor der Dominanz der pro-iranischen schiitischen Parteien zu schließen und Stammesmilizen aufzustellen, die ein Gegengewicht zu den von den schiitischen Parteien kontrollierten Sicherheitskräften darstellen.

 

* Joachim Guilliard ist Verfasser zahlreicher Fachartikel zum Thema Irak und Mitherausgeber bzw. Koautor mehrerer Bücher



[1] siehe u.a. Joseph Stiglitz, „Ein Schaden für Jahrzehnte“, Financial Times Deutschland, 26.04.2008

[2] The Cost of Iraq, Afghanistan, and Other Global War on Terror Operations Since 9/11”, Congressional Research Service CSR, 14.7.2008, “Costs of Major U.S. Wars”, CSR 24.7.2008

[3] U.S. to Fund Pro-American Publicity in Iraqi Media”, Washington Post, 3.10.2008
US-Army Counterinsurgency Field Manual 3-24”, Headquarters Department of the Army, December 2006
siehe auch “The Pentagon's new 'Media War Plan' for Iraq”, MENASSAT ,10.10.2008

[4] Peter Hart , “Spinning the Surge -- Iraq & the election”, Fairness & Accuracy in Reporting (FAIR), September/October 2008

[5] Western Journalists in Iraq Stage Pullback of Their Own”, Washington Post , 11.10.2008

[6] Securing, Stabilizing, and Rebuilding Iraq: Progress Report: Some Gains Made, Updated Strategy Needed

GAO, 23.6.2008

[7] William E. Odom, Testimony before the Senate Foreign Relations Committee on Iraq, 2.4.2008

[8]Lowest U.S. casualties not indication of better security conditions in Iraq”, Azzaman, 5.8.2008

[9] Siehe Iraq Coalition Casualty Count, http://icasualties.org Da auch die Zahl der Berichte aus dem Irak stark zurückgingen, können die aktuellen Opferzahlen auch höher sein. Peter Hart, “Spinning the Surge” Fairness & Accuracy In Reporting (FAIR), Sept. 2008

[10] At Odds With Air Force, Army Adds Its Own Aviation Unit, NYT, 22.6.2008, s.a. Tom Engelhardt, “U.S. Continues to Brutalize Iraqis in the Cause of the 'Surge'”, Tomdispatch.com, 30.6.2008,

[11] Air Force Plans Altered Role in Iraq, New York Times, July 29, 2008

[12] U.S. increases spending on contractors in Iraq”, USA TODAY, 27.8.2007

[13] siehe "Contractors’ Support of U.S. Operations in Iraq", Congressional Budget Office, August 2008 und “In Iraq, private contractors outnumber U.S. troops”, AP, 20.9.2007

[14] Nir Rosen, The Myth of the Surge, Rolling Stone, 6.3.2008

[15] Ghaith Abdul-Ahad, “Baghdad: City of Walls”, 18.3.2008 u. weitere Filme beim Guardian: Five years in Iraq (mehr über den“unembedded” Journalisten bei Wikipedia und auf unembedded.net)

[16] Nir Rosen, a.a.O. “The business end”, Financial Times, 27.6.2008, “U.S. military says it keeps 21,000 detainees in Iraq”, Xinhua 2.8.2008

[17] Juan Cole, “A Social History of the Surge”, Informed Comments, 24.7.2008, “Changing Baghdad -- Ethnic violence has changed the city”, Washington Post, 15.12.2007 und “Balkanized Homecoming”, Washington Post, 16.12.2007 sowie Susanne Fischer, „Bagdad - Stadt in Angst“, Die Zeit, 10.04.2008

[18] Study Of Satellite Imagery Casts Doubt On Surge's Success In Baghdad, ScienceDaily, 19.9.2008

[19] Christoph Reuter, „Im ersten, zweiten, dritten Kreis der Hölle“, Internationale Politik, Januar 2008

[20] More Iraqis Said to Flee Since Troop Increase”, New York Times, 24.8.2007

[21] ebd.

[22] At Least Saddam Protected the Rights of Religious Minorities”, Azzaman, 6.10.2008

[23] IRAQ: Uncertainty over who is behind attacks on Christians, IRIN, UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, 20.10.2008, Kurds Behind Violence Against Assyrians in Mosul: Iraqi MP

Assyrian International News Agency AINA, 25.10.2008

[24] Steve Niva, “The New Walls of Baghdad -- How the U.S. is Reproducing Israel's Flawed Occupation Strategies in Iraq”, Foreign Policy In Focus, 21.4.2008

[25] zitiert nach Tom Hayden, “The New Counterinsurgency”, The Nation, 6.9.2007

[26] What to Do in Iraq: A Roundtable” By Larry Diamond, James Dobbins, Chaim Kaufmann, Leslie H. Gelb, and Stephen Biddle, Foreign Affairs , Juli/August 2006