Das gestrafte Volk
"Bewaffneter Widerstand ist legitim"

Von Jürgen Todenhöfer
Frankfurter Rundschau, 20.03.2008
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/reportage/?em_cnt=1306493

Jürgen Todenhöfer
+Jürgen Todenhöfer (ddp)
Ich war mehrmals im Irak, zweimal vor und zweimal nach Kriegsbeginn. Zuletzt im vergangenen Sommer in Ramadi, 110 Kilometer westlich von Bagdad. Die Menschen erzählten mir, dass sie seit Jahren keinen Westler mehr ohne US-Militär-Begleitung gesehen hätten. Ich war auf eigene Faust dort, dank eines Visums, das ich über eine Kinderhilfsorganisation bekommen hatte. Ich habe vor dieser Reise mit vielen Experten gesprochen, Wissenschaftlern und Menschenrechtlern, irakischen, amerikanischen, europäischen.

Ich weiß deshalb nicht erst seit den Augusttagen in Ramadi: Die US-Amerikaner und Briten führen im Irak keinen Befreiungskrieg gegen den Terrorismus, sie führen einen um die Ölquellen des Landes.

Im Fernsehen sieht man den wahren Krieg nicht. Das Pentagon nutzt sein Informationsmonopol konsequent aus. Es gibt im ganzen Land pro Tag ungefähr 100 militärische Operationen der amerikanischen Streitkräfte: Schießereien, Razzien, Bombardierungen. Die zeigt das Pentagon nicht, weil es dann die zahllosen von den Besatzungsstreitkräften zerstörten Wohnhäuser, die vielen getöteten Zivilisten zeigen müsste.

Es gibt pro Tag außerdem etwa 100 Aktionen des bewaffneten Widerstandes, eines nach Völkerrecht legitimen Widerstandes, der - anders als Al Kaida - nicht gegen die Zivilbevölkerung kämpft, sondern gegen die Besatzer und ihre Einrichtungen. Über 100 000 Iraker befinden sich in diesem aktiven Widerstand, sie kämpfen für die Freiheit ihres Landes, unterstützt von der Mehrheit der Bevölkerung. Davon berichtet das Pentagon auch nicht.

Was wir sehen, sind die zwei bis drei Selbstmordanschläge, die die Terrororganisation Al Kaida jeden Tag verübt. Al Kaida nimmt den Tod von Zivilisten billigend in Kauf, strebt ihn sogar an. Ihre Untaten werden gezeigt, damit das Pentagon in den USA behaupten kann, es führe im Irak einen Krieg gegen Al Kaida. Aber das ist Unsinn.

Zur Person
Jürgen Todenhöfer, geboren 1940 in Offenburg, ist seit über 20 Jahren Manager des Medienunternehmens Burda. Zuvor war er 18 Jahre lang Bundestagsabgeordneter und u.a. rüstungspolitischer Sprecher von CDU/CSU.

Er bereist regelmäßig den Nahen und Mittleren Osten und hat zwei Bücher über Afghanistan und den Irak geschrieben. "Warum tötest du, Zaid?" (Bertelsmann Verlag) heißt sein aktuelles Irak-Buch, in dem er vom Widerstand gegen die Besatzungstruppen berichtet.
Nur noch 1000 zumeist ausländische Al-Kaida-Leute halten sich im Irak auf. Selbst General Bergner, der Sprecher der Streitkräfte, hat bestätigt, dass 80 bis 90 Prozent keine Iraker sind. Die meisten kommen aus Saudi-Arabien, Pakistan, aus dem arabischen Ausland, einige sogar aus Europa.

In ihrer Hochphase im Irak hat Al Kaida über ungefähr 3000 zumeist ausländische Kämpfer verfügt. Viele sind getötet worden, die meisten aber sind von der irakischen Bevölkerung vertrieben worden, weil die überwiegende Mehrheit Al Kaida verachtet. Dass sich die USA das als ihr Verdienst anrechnen, ist eher komisch.

Alle Iraker, die ich getroffen habe, lehnten Gewalt gegen Zivilisten gleich welcher Nation ab. "Wir wollen mit Al Kaida nichts zu tun haben", sagten mir die Menschen in Ramadi, das man als einstige Hauptstadt von Al Kaida bezeichnen könnte, weil das Terrornetzwerk dort sein Kalifat ausgerufen hatte.

Die Menschen sagten aber auch, dass sie die Nase voll haben von den amerikanischen Besatzern, die angeblich wegen dieser marginalisierten Terrorgruppe ein Volk unterjochen und genau wie diese auf Zivilisten keinerlei Rücksicht nehmen. Die Berichte von ehemaligen US-Soldaten, von verwundeten und traumatisierten GIs, die die Brutalität der Besatzung schildern, sind erschütternd.

1,2 Millionen Iraker sind seit Kriegsbeginn getötet, eine Million ist zum Teil schwer verwundet worden. In Bagdad hat fast jeder zweite Haushalt ein Mitglied verloren. Das sind Zahlen des unabhängigen britischen Forschungsinstituts ORB.

Ein Opfer von vielen war Karim, ein 19-jähriger Junge aus Ramadi. Er hatte nie mit dem Krieg etwas zu tun haben wollen, genauso wenig wie seine beiden älteren Brüder. Sie träumten von einer guten Ausbildung, einer eigenen Familie, einem Haus und einem Auto. Junge Iraker wie sie tragen westliche Kleidung, hören westliche Musik, sie sind wie die meisten ihrer Landsleute der westlichen Lebensart gegenüber sehr aufgeschlossen.

Kontrolle über das Öl
+Kontrolle über das Öl (FR-Infografik)
Karim wurde direkt vor dem Haus eines Verwandten von US-Soldaten erschossen. Seine Familie musste die ganze Nacht lang durch ein Fenster zusehen, wie die Blutlache um ihn immer größer und dunkler wurde.

Zaid, Karims ältester Bruder, wollte ihm zu Hilfe eilen. Aber seine Familie hielt ihn verzweifelt zurück, aus Angst, auch er könnte umgebracht werden. Wenige Monate zuvor war schon Zaids zweitjüngster Bruder von US-Soldaten erschossen worden. Ich habe mich mit Zaid lange darüber unterhalten, warum er nun zur Waffe gegriffen und sich nach Karims Tod einer der vielen Widerstandsgruppen angeschlossen hat. Er hat mich nur verzweifelt angeschaut und gefragt, was ich getan hätte, wenn zwei meiner Brüder erschossen worden wären.

Der irakische Widerstand ist so heterogen wie die Gesellschaft. Es gibt sunnitische und schiitische Gruppen, auch Christen, Marxisten und Sozialisten, Liberale und Baathisten, teilweise frühere Anhänger der Einheitspartei Saddam Husseins. Tagsüber sind sie Bäcker, Lehrer, Studenten, am Tag arbeiten sie gezwungenermaßen mit den Besatzern zusammen. In der Nacht aber kämpfen sie gegen die Besatzer, gegen ihre Waffen und gegen ihren Hochmut.

In jüngster Zeit betont die US-Administration, dass sich die Lage im Jahr 2007 verbessert habe, dass die Entwicklung sogar "besonders zufriedenstellend" sei. Es ist richtig, dass der Widerstand immer mal Feuerpausen einlegt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass dieser Angriffskrieg noch immer von unglaublicher Brutalität ist.

Vor zwei Jahren wurden pro Tag durchschnittlich 600 Iraker getötet, heute sind es nach Schätzungen von Experten immer noch 200 Iraker, die meisten von ihnen Zivilisten. Das sind 6000 pro Monat, zweimal mehr als am 11. September 2001 im World Trade Center starben. Wie kann man das "zufriedenstellend" finden? Diese Missachtung des Lebens der Iraker verschlägt mir die Sprache.

Im Jahr 2007 sind im Übrigen mehr US-Soldaten im Irak gefallen als in all den Jahren zuvor, offiziell haben über 4000 Besatzungssoldaten ihr Leben im Irak gelassen. Die tatsächliche Zahl liegt jedoch viel höher, weil die Gefallenen der Privatarmeen wie Blackwater statistisch nicht erfasst werden. Auch wie man das zufriedenstellend nennen kann, ist mir schleierhaft. Aber wahrscheinlich werden wir bis zu den Präsidentschaftswahlen im November nur noch "Erfolgsmeldungen" aus dem Irak hören.

Ich finde das unendlich traurig.

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