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Drei Jahre...
Der irakische Alptraum
Riverbend, 19.03.2006
http://www.freace.de/artikel/200603/190306b.html
Original: http://riverbendblog.blogspot.com/2006_03_01_riverbendblog_archive.html#114264288537634165
Drei Jahre sind seit dem Beginn des Krieges, der das Ende der
Unabhängigkeit des Iraks markierte, vergangen. Drei Jahre der Besatzung
und des Blutvergießens.
Frühling sollte die Zeit der Erneuerung und der Wiedergeburt sein. Für
Iraker ist der Frühling die Zeit des Wiedererlebens schmerzhafter
Erinnerungen und der Vorbereitung auf zukünftige Katastrophen. Auf
viele Arten ist dieses Jahr wie 2003 vor dem Krieg, als wie Vorräte von
Treibstoff, Wasser, Lebensmitteln und Erste-Hilfe-Mitteln und
Medikamenten anlegten. Wir tun dies in diesem Jahr erneut, aber wir
reden nicht darüber, wofür wir uns bevorraten. Es ist um so vieles
leichter, mit Bomben und B-52 konfrontiert zu sein, als mit anderen
Möglichkeiten.
Ich glaube nicht, daß irgendjemand sich vor drei Jahren vorstellte, daß
es so wie heute sein könnte. Die letzten paar Wochen waren sehr
angespannt. Ich bin es so müde - wir alle sind müde.
Drei Jahre und die Stromversorgung ist schlechter als je zuvor. Die
Sicherheitslage hat sich von schlecht zu schlechter entwickelt. Das
Land fühlt sich einmal mehr an, als wäre es am Rande des Chaos - aber
ein vorgeplantes, vorgefertigtes Chaos, angeführt von religiösen
Milizen und Fanatikern.
Schulen, Universitäten und Arbeit fallen immer wieder aus. Es scheint,
daß es für jeweils zwei Tage von Arbeit/Schule fünf Tage des zuhause
Wartens auf eine Besserung der Lage gibt. In diesem Moment sind Schule
und Universität ausgesetzt, weil der "Arba3eeniya" oder "40. Tag" sich
nähert - mehr schwarze und grüne Fahnen und Klagerufe. Man hat uns
gesagt, die Kinder sollten am nächsten Mittwoch versuchen, wieder zur
Schule zu gehen. Ich sage "versuchen", weil vor dem heiß erwarteten
Parlamentstreffen vor einigen Tagen die Schule ausfiel. Nach dem
Bombenanschlag auf die Moschee in Samarra fiel die Schule aus. Die
Kinder sind dieses Jahr mehr zuhause als in der Schule gewesen.
Ich mache mir insbesondere in diesem Jahr wegen des Arba3eeniya Sorgen.
Ich befürchte, daß wir mehr wie daß, was der Askari-Moschee in Samarra
geschehen ist, erleben werden. Die meisten Iraker scheinen sich einig,
daß die ganze Sache von jenen arrangiert worden ist, die am meisten
dadurch zu gewinnen haben, daß die Iraker auseinandergetrieben werden.
Ich sitze hier und versuche zu überlegen, was dieses Jahr 2006 um so
vieles schlimmer als 2005 oder 2004 macht. Es sind nicht die
äußerlichen Unterschiede - Dinge wie Strom, Wasser, baufällige Gebäude,
kaputte Straßen und häßliche Beton-Sicherheitsmauern. Diese Dinge sind
beunruhigend, aber sie sind reparierbar. Die Iraker haben wieder und
wieder bewiesen, daß Länder wieder aufgebaut werden können. Nein, es
sind nicht Aüßerlichkeiten, die uns mit düsteren Vorahnungen erfüllen.
Die wirkliche Furcht ist die Geisteshaltung von so vielen Leuten in der
letzten Zeit - die Kluft, die durch das Herz des Landes aufgerissen zu
sein scheint und die Menschen trennt. Es ist entmutigend, mit Bekannten
- kultivierte, zivilisierte Menschen - zu sprechen und zu hören wie
Sunniten so seien und Shiiten so... Zu sehen, wie Leute ihre Sachen
zusammenpacken um in "sunnitische Gegenden" oder "shiitische Gegenden"
zu ziehen. Wie ist das passiert?
Ich lese häufig Analysen, überwiegend von Ausländern oder seit
Jahrzehnten im Ausland lebenden Irakern geschrieben, daß es es schon
immer eine Luft zwischen Sunniten und Shiiten im Irak gegeben habe (die
ironischerweise nur offensichtlich werde, wenn man nicht tatsächlich
inmitten von Irakern lebe, behaupten sie)... aber unter einem Diktator
habe es niemand gesehen oder sehen wollen. Das ist einfach nicht wahr -
wenn es eine Kluft gab, dann zwischen den Fanatikern auf beiden Seiten.
Den extremen Shiiten und den extremen Sunniten. Die meisten Menschen
liefen einfach nicht herum und suchten sich Freunde oder trafen sich
mit Nachbarn auf Grundlage ihrer Glaubensrichtung. Die Menschen
kümmerten sich nicht darum - man konnte diese Frage stellen, aber jeder
hätte einen angesehen, als wäre man verrückt und unhöflich.
Ich erinnere mich, daß ich während eines Besuchs draußen mit einem der
Nachbarskinder spielte. Amal war genau in meinem Alter - wir waren
sogar im gleichen Monat geboren, nur drei Tage auseinander. Wir lachten
über einen dummen Witz und plötzlich drehte sie sich um und fragte
schüchtern "Bist Du Sanafir oder Shanakil?" Ich stand verwirrt da.
"Sanafir" ist das arabische Wort für "Schlümpfe" und "Shanakil" ist das
arabiche Wort für "Schnorchel". Ich verstand nicht, warum sie mich
fragte, ob ich ein Schlumpf oder ein Schnorchel sei. Offenbar war es
eine indirekte Art zu fragen, ob ich sunnitisch (Sanafir) oder
shiitisch (Shanakil) bin.
"Was???" fragte ich, halb grinsend. Sie lachte und fragte, ob ich beim
Beten die Hände an der Seite oder auf dem Bauch gefaltet hätte. Ich
zuckte mit den Achseln, nicht sonderlich interessiert und ein klein
wenig beschämt, zuzugeben, daß ich im zarten Alter von 10 Jahren noch
nicht wirklich wußte, wie man richtig betet.
Später an dem Abend saß ich im Haus meiner Tante und erinnere mich, daß
ich meine Mutter fragte, ob wir Schlümpfe oder Schnorchel seien. Sie
sah mich ebenso ahnungslos an, wie ich Amal angesehen hatte. "Mama -
beten wir SO oder SO?!" Ich stand auf und machte beide Gebetshaltungen.
Die Augen meiner Mutter klärten sich und sie schüttelte den Kopf und
rollte zu meiner Tante mit den Augen. "Warum fragst Du? Wer will das
wissen?" Ich erklärte wie Amal, unsere Shanakil-Nachbarin mich zuvor
gefragt hatte. "Nun, sag Amal, daß wir nicht Shanakil und nicht Sanafir
sind - wir sind Muslime - es gibt keinen Unterschied."
Jahre später fand ich heraus, daß die halbe Familie Sanafir und die
andere Hälfte Shanakil war, aber es niemanden kümmerte. Wir saßen nicht
bei Familientreffen oder Familienessen herum und diskutierten über
sunnitischen Islam und shiitischen Islam. Die Familie kümmerte sich
nicht darum, daß dieser Cousin mit seinen Händen an der Seite betete
und diese Cousine mit auf dem Bauch gefalteten Händen betete. Viele
Iraker meiner Generation haben diese Einstellung. Wir wurden in dem
Glauben erzogen, daß Leute, die auf irgendeine Weise - positiv oder
negativ - aufgrund der Glaubensrichtung oder der Volkszugehörigkeit
diskriminieren, rückständig, ungebildet und unzivilisiert sind.
Das beunruhigendste an der Situation ist jetzt, daß auf der
Glaubenszugehörigkeit basierende Diskriminierung so alltäglich geworden
ist. Der durchscnittliche gebildete Iraker in Baghdad hat nach wie vor
Verachtung für die ganzen Sunniten/Shiiten-Gespräche. Das Traurige ist,
daß die Menschen dazu gedrängt werden, dieses oder jenes zu sein, weil
politische Parteien das in jeder Rede und jeder Zeitung fördern - das
ganze "wir" / "sie". Wir lesen die ganze Zeit wie "Wir Sunniten uns mit
unseren shiitischen Brüdern vereinigen sollten..." oder wie "Wir
Shiiten unseren sunnitischen Brüdern vergeben sollten..." (Man beachte,
wir wir sunnitischen und shiitischen Schwestern an diesem Punkt in
beide Gleichungen nicht wirklich hineinpassen). Politische und
religiöse Führer scheinen zu vergessen, daß wir letztendlich alle
einfach nur Iraker sind.
Und welche Rolle spielen die Besatzer bei all dem? Ich glaube, es paßt
ihnen sehr gut. Es ist sehr gut, wenn Iraker sich gegenseitig entführen
und töten - dann können sie die neutrale ausländische Partei sein, die
Frieden und Verständigung zwischen den Menschen fördert, die bis zur
Besatzung sehr friedlich und verständnisvoll waren.
Drei Jahre nach dem Krieg haben wir es geschafft, uns offensichtlich
und nicht so offensichtlich zurückzubewegen.
Allein in den vergangenen Wochen sind tausende bei sinnloser Gewalt
gestorben und die amerikanische und die irakische Armee bombardieren
Samarra, während ich dies schreibe. Das Traurige ist nicht der
Luftangriff, der nur einer von hunderten von Luftangriffen ist, die wir
in den drei Jahren erlebt haben - es ist die Resignation der Menschen.
Sie sitzen in ihren Häusern in Samarra weil sie nirgends hingehen
können. Vorher kamen Flüchtlinge nach Baghdad und in die benachbarten
Gebiete... Jetzt suchen Baghdader selbst nach Wegen aus der Stadt...
aus dem Land. Der typische Traum ist, einen sicheren Hafen im Ausland
zu finden.
Drei Jahre später und die Alpträume von Schock und Ehrfurcht haben sich
zu einem anderen Alptraum entwickelt. Der Unterschied zwischen damals
und heute ist, daß wir uns vor drei Jahren noch um materielle Dinge
sorgten - Besitztümer, Häuser, Autos, Strom, Wasser, Benzin... Es ist
schwierig zu beschreiben, worum wir uns nun am meisten soregen. Selbst
die zynischten Kriegskritiker konnten sich nicht vorstellen, daß das
Land drei Jahre nach dem Krieg so schlimm sein würde... Allah yistur
min il rab3a (Gott schütze uns vor dem vierten Jahr).