Kritische Anmerkungen zu einem globalen Menschenrechtsprojekt
Rechtsanwalt H.-Eberhard Schultz
Ein faszinierender Gedanke, die großen und kleinen Diktatoren, Kriegsverbrecher und Folterknechte aller Länder hinter Gitter zu bekommen und durch einen weltweit anerkannten Gerichtshof abgeurteilt zu sehen. Endlich wären die jahrzehntelangen Bemühungen von internationalen Menschenrechtsorganisationen, allen voran amnesty international, von durchschlagendem Erfolg gekrönt – faszinierend, ja vielleicht. Aber realistisch? Oder nicht doch mehr Wunschtraum eines säkularisierten "Jüngsten Gerichts" im dritten Jahrtausend nach Christi und Instrument eines grassierenden "Menschenrechtsimperialismus"?
Das ambitionierte Projekt des internationalen Strafgerichtshofs, der nach jahrelangen Vorarbeiten vor allem von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) 1998 in Rom von einer größeren Zahl von Staaten beschlossen wurde, nimmt immer konkretere Formen an; der Entwurf eines Statuts mit 91 Artikeln (mehr als 50 Seiten), einer Art Strafgesetzbuch mit acht umfangreichen Artikeln (48 Seiten), einer Art Strafprozeß- und Beweisordnung mit 22 Regeln (100 Seiten) harrten der Umsetzung. Zwar gibt es inzwischen etwa 140 Unterzeichnerstaaten, der Gerichtshof kann aber erst eingerichtet werden, wenn 60 Staaten den Vertrag ratifiziert haben; dies ist allerdings erst in 28 Staaten geschehen (Stand März d. J.), darunter Deutschland. Die USA haben das Statut nach langem Zögern kürzlich unterzeichnet, gleichzeitig aber wichtige Änderungen vorgeschlagen – u.a. die Möglichkeit, daß ein einziges Mitglied des UN-Sicherheitsrats (über sein Veto) Untersuchungen und Strafverfolgung verhindern können. Skepsis scheint also angebracht, nicht erst seit der spanische Untersuchungsrichter verlauten ließ, nach Chiles Diktator Pinochet nun auch Kubas amtierendes Staatsoberhaupt Fidel Castro verfolgen zu wollen, und nachdem die Chefanklägerin des Haager Ad-hoc-Jugoslawien-Kriegsverbrechertribunals gerade erste Erfolge bei der Verfolgung des früheren jugoslawischen Ministerpräsidenten Milosewicz verzeichnen kann ...
Es könnte sich nämlich herausstellen, daß die Triumphgesänge, die die Verhaftung des blutigen Chile-Diktators Pinochet begleiteten, voreilig waren, wird er doch voraussichtlich nicht als Kriegsverbrecher den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen sondern als freier Mann seinen "verdienten Ruhestand" genießen; voreilig vielleicht auch, weil schon damals absehbar war, daß das eigentliche Ziel der selbsternannten "Internationalen Menschenrechtspolizisten" Fidel Castro - nicht etwa die Hauptschuldigen hinter Pinochet im CIA oder der amerikanischen Regierung - andere für die nationale und soziale Befreiung ihrer Völker kämpfenden Revolutionäre ist.
Internationale Strafjustiz ist nichts Neues. Historische Vorläufer gibt es gerade bei uns. Also müssen die historischen Erfahrungen berücksichtigt und die konkreten Bedingungen und Interessen des gegenwärtigen Projekts kritisch bewertet werden.
Die Lehren der Geschichte
Die schlimmsten Verbrechen des vorigen Jahrhunderts sollten in den internationalen Kriegsgerichten von Nürnberg und Tokio geahndet werden, die auf Betreiben der Alliierten, also der antifaschistischen Anti - Hitler Koalition zustande gekommen waren und gleich nach Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Arbeit aufnahmen. Tatsächlich haben sie eine Reihe der wichtigsten Kriegsverbrecher in gründlich vorbereiteten, aufsehenerregenden, im wesentlichen fairen Verfahren verurteilt und so ihren Beitrag zur Bewältigung der größten staatlich organisierten Massenmorde in der Geschichte der Menschheit geleistet. Mit Beginn des Kalten Krieges wurden die weiteren Verfahren jedoch verschleppt und kamen – wie die gegen die Deutsche Bank, Dresdner Bank usw. – nicht mehr zustande, zu lebenslanger Haft verurteilte Kriegsverbrecher wurden begnadigt und freigelassen, ja insbesondere die USA scheuten sich nicht, international gesuchte Kriegsverbrecher in den Dienst ihres Staates zu stellen.
Christopher Simpson hat in seiner umfassenden wissenschaftlichen Studie "Der amerikanische Bumerang: NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA" (New York und Wien 1988) anhand von offiziellen Quellen der US-Regierung, des Außenministeriums, des Verteidigungsministeriums, des FBI und der Geheimdienste, insbesondere des nationalen Sicherheitsrates, des CIA usw. nachgewiesen, in welchem Ausmaß ehemalige Nazis und Kollaborateure mitbestimmend für den Kalten Krieg waren. Er zeigt auf, wie es zunächst der Army überlassen blieb, für die tägliche Betreuung tausender "Emigranten-Guerillas" der CIA zu sorgen.
Simpson schreibt:
"Hier tauchten auch Exilagenten unter, die für die sogenannte "Organisation Gehlen" - hervorgegangen aus dem Geheimdienst der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg - , die CIA oder den militärischen Geheimdienst der USA arbeiteten (Seite 180). So war es der amerikanische Geheimdienst, der eine Truppe von ehemaligen Waffen-SS- und Wehrmachtssoldaten mit einem Kostenaufwand von etwa $ 500.000 jährlich finanzierte und bewaffnete.
Obwohl diese Geheimtaktik in Europa offensichtlich keine Erfolge brachte, vor allem wenn Nazikollaborateure daran beteiligt waren, haben die USA im laufe der letzten drei Jahrzehnte ähnliche subversive Emigrantenprogramme auf die ganze Welt ausgedehnt und intensiviert. Statt Emigrantenoperationen, bei denen Veteranen der Waffen-SS eingesetzt wurden, einzustellen, wurden sie zum Vorbild von tausender anderer Geheimoperationen der USA..."
Ebensowenig wie Kriegsverbrechen der alliierten Siegermächte im zweiten Weltkrieg – z. B. die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, um nur die wichtigsten zu nennen – waren die späteren der USA im Koreakrieg, in Vietnamkrieg, Frankreichs im Algerienkrieg u.v.a.m., jemals Gegenstand der internationalen Strafjustiz. Eine erste öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung mit dem Kriegsverbrechen der USA in Vietnam fand in den sechziger Jahren statt. Höhepunkt war das sogenannte internationale Vietnam – Russel - Tribunal unter Vorsitz Jean Paul Sartre. Die Tradition dieses Tribunals führte die Lelio - Basso - Stiftung mit einer Reihe weiterer Tribunale fort. Die symbolische Verurteilung der Kriegsverbrechen und Kriegsverbrecher entfaltete zeitweise eine große politische und moralische Wirkung, eine tatsächliche Strafverfolgung oder gar Bestrafung der Verantwortlichen resultierte hieraus natürlich nicht.
Demgegenüber wurden in den neunziger Jahren sogenannte Ad-hoc-Kriegsverbrechertribunale zu Jugoslawien und Ruanda eingerichtet, allerdings auf fragwürdiger Grundlage: Auf Drängen von Madeleine Albright durch den von den USA dominierten Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und nicht wie vom damaligen Generalsekretär gefordert, durch einen "internationalen Vertrag, ausgearbeitet und anerkannt von den Mitgliedsstaaten, denen volle Souveränität zugestanden wird". Der frühere US-Justizminister Ramsay Clark kritisiert, das Haager Tribunal im Rahmen der Anklageschrift gegen die NATO-Führer für das unabhängige internationale Tribunal zum Jugoslawienkrieg mit den Worten:
"Durch das gezielte Vorgehen mit Ad-hoc-Tribunalen und der Anklage wegen Völkermord gegen einzelne Gegner erreichen sie (die USA) deren internationale Isolierung, üben auf deren eigene Länder Druck aus, sie von der Macht zu entfernen, korrumpieren und politisieren die Justiz und benutzen den Anschein des neutralen internationalen Rechts, um Gegner als Kriegsverbrecher zu verurteilen und zu bestrafen und selbst als Vorkämpfer des Rechts dazustehen."
Im Nachkriegsdeutschland gibt es eine gewisse Tradition der internationalen Strafjustiz.
In Stichworten:
Der Generalbundsanwalt erhob 1988 (im Rahmen des ersten "Terrorismusverfahrens" gegen Anhänger einer nationalen ausländischen Befreiungsbewegung) Anklage gegen einen kurdischen PKK-Führer wegen eines angeblichen Tötungsdelikts an einem Kurden im Libanon im Rahmen der Anklage wegen "Rädelsführerschaft innerhalb einer terroristischen Vereinigung in der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK)" zum Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf, nachdem er kurz zuvor die PKK zum "Hauptfeind der inneren Sicherheit" der BRD erklärt hatte. Das Oberlandesgericht, das seine Zuständigkeit zunächst nicht für gegeben hielt, wurde vom Bundesgerichtshof eines Besseren belehrt und mußte über das Tötungsdelikt im Libanon Beweis erheben, weil ein Fall der sogenannten "stellvertretenden Strafrechtspflege" vorliege (auch wenn es insoweit später zu einem Freispruch kam). Seit einigen Jahren erhob der Generalbundesanwalt Anklage zunächst wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Völkermordverbrechen in Jugoslawien, insbesondere von Serben an Kroaten o. a. in Jugoslawien, später auch wegen anderer Kapitalverbrechen, die zum Teil zu hohen Strafen verurteilt wurden – inzwischen auch bestätigt vom Bundesgerichtshof. Demgegenüber hat der Generalbundesanwalt eine von mir in der ersten Hälfte der neunziger Jahre im Auftrage von ParlementarierInnen und Menschenrechtsorganisationen vorgelegte umfassende Strafanzeige gegen bundesdeutsche Betriebe und Behörden wegen Beihilfe zum Völkermord an den Kurden in der Türkei nicht zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens angenommen, weil der "erforderliche Anfangsverdacht" fehle – ähnlich wie später die Strafanzeigen gegen verantwortliche Regierungsmitglieder und Generäle wegen des unerklärten Angriffskriegs gegen Jugoslawien abgelehnt hat. Auch die Verfolgung von früheren DDR-Hoheitsträgern durch die bundesdeutsche Strafjustiz wegen Tötungsdelikten im Zusammenhang mit der früheren Grenze, ist (als Straftat im Ausland auch unter internationale Strafjustiz zu fassen), aber insofern ein Sonderfall als die Angeklagten nach Auflösung der DDR ja zu Bürgern des Staates geworden sind, der sich als "Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches" verstanden hatte und sie nunmehr verurteilt – wegen Delikten, die nach dem Recht der früheren DDR nicht strafbar gewesen wären, häufig kritisiert als willkürliche Siegerjustiz, auch wenn sie vom Bundesverfassungsgericht und kürzlich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte abgesegnet wurde.
Dieser kurze Streifzug durch die Geschichte der internationalen Strafjustiz zeigt ihre Fragwürdigkeit und ihre Instrumentalisierung zur Kriminalisierung des politischen Feindes im Sinne hegemonialer Interessen. Auf sie scheint also zu passen, was als wesentliche Merkmale der politischen Justiz von Otto Kirchheimer und anderen analysiert wurde von Ingo Müller in seiner Untersuchung der NS – Justiz so zusammengefaßt wurde:
"Recht reduziert sich für sie weitgehend auf einen Kanon von Rechtstechniken, einschließlich derer, die im ‚Dritten Reich’ – zum Teil auch schon früher – zur Vernichtung des ‚Feindes’ entwickelt worden waren."
Aber, könnte man einwenden, gerade das soll ja durch einen wirklich unabhängigen internationalen Gerichtshof auf umfassender und neutraler Grundlage vermieden werden. Sehen wir uns also die bisher vorliegenden Texte und konkreten Bedingungen genauer an.
Zu den Statuten und Rechtsregeln des künftigen internationalen Strafgerichtshofs und der voraussehbaren Praxis der internationalen Strafverfolgung
Nach dem Gesetzestext werden der Völkermord und eine Reihe wichtiger Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschheit (bei uns immer noch fälschlicherweise "gegen die Menschlichkeit" übersetzt) in detaillierten Regelungen unter Strafe gestellt. Vergeblich sucht man allerdings die ausdrückliche Bestrafung des Staatsterrorismus, auch werden Embargo und die Zivilbevölkerung betreffende oder besser vernichtende Sanktionen ebensowenig unter Strafe gestellt wie Bombenangriffe aus der Luft. In dem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß Ramsay Clark aufgrund den Erfahrungen mit der US – Blockade Kubas, dem Embargo gegen den Irak und dem gegen Jugoslawien nachdrücklich gefordert hat, diese als eine der schlimmsten Kriegsverbrechen ausdrücklich anzuerkennen und zu sanktionieren.
Die vorgesehenen Strafverfahrensregeln entsprechen sicherlich dem Standard westlicher Demokratien, ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu wollen. Dies besagt allerdings noch nicht viel über die zu erwartende Praxis der Strafverfolgung
Hierfür sind insbesondere die Ermittlungsbehörden, die Gefängnisverwaltungen, die Strafvollstreckungsbehörden, ihre Funktionsweise, Finanzierung, evtl. Abhängigkeiten usw. maßgeblich. Während im nationalen staatlichem Rahmen die zuständigen Staatsanwaltschaften sich des polizeilichen Ermittlungsapparates (u.a. für erforderliche Zwangsmaßnahmen) bedienen, sind derartige supranationale Polizeibehörden nicht vorgesehen und auch schwer vorstellbar, ähnlich wie bei den Ad-hoc-Tribunalen wird die Anklagebehörde des ICC also auf Untersuchungen und vor allem den Gewaltapparat einzelner Staaten die Ermittlungen, Festnahmen, die Untersuchungshaft sowie die Strafvollstreckung angewiesen sein. Deshalb lohnt sich ein Blick auf deren Praxis, die hier stichwortartig - ohne einen Anspruch auf vollständige Würdigung – kritisiert sei: so verlangte die Chefanklägerin Del Ponte in einem Apell an "an alle NATO – Mitgliedsstaaten, mit der Lieferung von Beweismaterial über im Kosovo begangene Verbrechen dem Strafgerichtshof zu helfen" (FAZ vom 04.10.1999). Und hier beginnen die Probleme: Will die Rechtssprechung des Haager – Tribunal mehr sein als die Fortsetzung bzw. Legitimierung des NATO - Krieges mit nicht – militärischen Mitteln. Die Kritik an dem Ad-hoc-Tribunal entzündet sich ja nicht nur an der offensichtlich einseitig politisch motiviertem Vorgehen der Chefanklägerin del Ponte, sondern auch an den sonstigen Bedingungen, um nur eine Stichwortartig zu nennen: eine Anklage kann "im Interesse der Gerechtigkeit" geheimgehalten werden, so daß der Beschuldigte nicht weiß, wogegen er sich verteidigen muß; das Gericht kann Verteidigungsanwälte ablehnen oder ihre Arbeit unterbrechen, wenn sie sich seiner Meinung nach "aggressiv" verhalten; die Anklage kann mit Zustimmung der Richter der Verteidigung den Zugang zu bestimmten Dokumenten, Fotos und anderen Beweisgegenständen verweigern, die Quelle von Beweismitteln können der Verteidigung gegenüber geheim gehalten werden usw. 1994 und 1995 erhielt das Kriegsverbrechertribunal von der US-Regierung 700.000 US Dollar in bar und Computer im Werte von 5 Millionen DM (während bekanntlich die auf internationalen Verpflichtungen beruhenden Beiträge der USA an die UN in Milliardenhöhe zurückgehalten werden), von der Rockefeller – Foundation 50.000 US Dollar, vom Börsenspekulanten George Soros 150.000 US Dollar (der zur selben Zeit die wichtigste albanische Separatistenzeitung im Kosovo finanzierte, und der die "coalition for International Justice" gegründet hat und finanziert, aus der viele Juristen des Tribunals kommen...)
Es wäre naiv zu glauben, derartige Abhängigkeiten und vergleichbare Rahmenbedingungen werde es bei dem ICC nicht geben. Dies führt zwangsläufig zur Frage nach der übergreifenden völkerrechtlichen Problematik des ICC – Projekts und den dahinterstehenden Interessen.
Die Instrumentalisierung der Menschenrechte zur Rekolonialisierung des Trikont und zur Destabilisierung sogenannter "Schurkenstaaten"
Es ist hier nicht der Ort, eine umfassende Kritik des vorherrschenden Menschenrechts - Diskurses zu leisten, der sich einseitig auf die bei uns vorherrschenden bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte stützt und die mindestens genauso wichtigen sogenannten sozialen Grund- und Menschenrechte vernachlässigt oder sogar diffamiert. Hierzu sei auf die verdienstvollen Untersuchungen von Noam Chomsky verwiesen (insbesondere in "politische Ökonomie der Menschenrechte" Berlin 2000) außerdem hat der Völkerrechtler Norman Paech in einer kritischen, historischen Studie aufgezeigt, daß die Berufung auf die Menschenrechte in der Tradition in der christlichen Missionierung als Grundlage der Kolonialisiation durch die imperialistischen Länder steht, und wie sie nach einer Phase der Dekolonialisation auf dem Trikont nach dem zweiten Weltkrieg unter Berufung in zahlreichen UN Dokumenten verankerten Selbstbestimmungsrecht der Völker wieder umgeschlagen ist zur Begründung der gegenwärtig sich vollziehenden "Rekolonisierung" weiter Teile Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ("Menschenrechte und Krieg im Zeichen des europäischen Wertekanons" in "Widerspruch" Heft Juli 2000). Paech schreibt zusammenfassend:
"Lieferte die ‚europäische Zivilisation’ im 19. Jahrhundert das ideologische Unterfutter für die Kolonisierung der Welt, so erfüllen heute die europäischen Menschenrechte den gleichen Zweck für die ‚humanitäre Globalisierung’ der neuen Weltordnung. Sie sind der Kern der ‚europäischen Wertegemeinschaft’. Werden sie lediglich zu einer europäischen Grundrechtscharta verarbeitet und für Europas Bürgerinnen und Bürger auch mit einem Klagerecht versehen, so könnte das kaum Wiederspruch provozieren. Wenn sie jedoch offensiv gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker gestellt und dessen Vertreter gleichzeitig als ‚Feinde der individuellen Menschenrechte’ denunziert werden (...), so ist die Botschaft klar. Bot das Selbstbestimmungsrecht die Legitimation für die Dekolonisation, müssen die Menschenrechte nunmehr für die Rekolonisierung herhalten. ... Das tiefe Mißtrauen und die tiefe Skepsis werden nicht durch Begriff und Inhalt der Menschenrechte hervorgerufen, sondern durch ihre Instrumentalisierung in der Rhetorik der neuen Werte – Ideologen und ihren militanten Einsatz zur Erweiterung der europäischen zu einer weltweiten Wertegemeinschaft (Senghaas ...). Denn worüber die Ideologen schweigen oder naiv desinformieren (Habermaas ...), haben die Definitoren der Wertegemeinschaft bereits ausreichende Klarheit geschaffen. Die Menschenrechte spielen darin zwar eine propagandistische aber ansonsten nur eine nebensächliche Rolle. Während ein Gremium von 62 eher unbekannten Parlamentariern noch über der Formulierung der Grundrechtscharta sitzen, haben bereits während des Jugoslawienkriegs die Staats- und Regierungschefs der 19 NATO – Staaten mit ihren Außen- und Verteidigungsministern in Washington am 24. April 1999 die harten materiellen Interessen der Wertegemeinschaft definiert. Wo im ‚Euro – atlantischen Raum’, dessen Grenzen prinzipiell Grenzenlos sind, ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von nationalen Staaten zu lokaler oder regionaler Instabilität führen, wo Terrorakte, Sabotage und organisierte, sowie die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen die Wertegemeinschaft bedrohen, ist in Zukunft mit dem militärischen Eingriff der NATO zu rechnen. (Neues Strategisches Konzept 1999 ...)Hier haben die Menschenrechte erst ihre politische Heimat, die Wertegemeinschaft ihre volle Dimension und die humanitäre Globalisierung ihren definitiven Sinn gefunden. Ein Narr, wer in der Wertegemeinschaft die Menschenrechte vom Erdöl trennt."
Diese nach dem Jugoslawienkrieg mit dem Begriff "Menschenrechtsimperialismus" vorherrschende Tendenz schlägt offenbar auch auf das ICC – Projekt durch, das in vielen Punkten mit dem bisher vorherrschenden Völkerrechtsverständnis bricht wie Peter Koch umfassend dargelegt hat ("Die humanitäre Intervention, der internationale Strafrichter und das Völkerrecht", unveröffentlichtes Manuskript, März 2001).
Koch weist die Nähe von humanitären Interventionen und der internationalen Strafgerichtsbarkeit nach, für die es im traditionalen Völkerrecht keine Ermächtigungsgrundlage gibt. Zur Klarstellung betont er, daß internationale Konventionen zum Schutz von Menschenrechten wie die Völkermordkonvention oder die Anti–Folterkonvention zwar wechselseitige Staatenverpflichtungen begründen, aber keine Interventionsermächtigungen. Denninger warnt daher ausdrücklich vor dem ebenso naiven wie gefährlichen Ruf nach dem Strafrichter und verweist in diesem Zusammenhang auf die Helsinki Schlußakte in der ausdrücklich "jede Form der bewaffneten Intervention oder die Androhung einer solchen Intervention gegen einen anderen Teilnehmerstaat ausgeschlossen wird (Korb 1 Kapitel VI der Akte).
Die Befürworter des internationalen Strafrichters und der internationalen Strafjustiz müssen daher auf einem vorgeblichen "Wandel des Völkerrechts" setzen und dabei mehr oder weniger offen das geltende Völkerrecht verletzen. Die Behauptung, derartige "Tribunale bringen Rechtsstaatlichkeit zurück nach Ruanda und auf den Balkan" (Wäspi, Festvortrag auf dem 51. Anwaltstag in Berlin am 02.06.2000, NJW 2000, S. 2454) ist schon deshalb widersinnig, weil der Begriff Rechtsstaatlichkeit zeigt, daß es sich um die innere Verfaßtheit eines Staates handeln muß; auch die bisherigen Erfahrungen belegen das Gegenteil: die gegenwärtige Entwicklung etwa im "NATO-Protektorat Kosovo" praktisch zeigt, daß von einer Herstellung demokratischer rechtsstaatlicher Zustände überhaupt keine Rede sein kann.
Die fundierte Kritik zahlreicher Autoren an dem (unerklärten) Bombenkrieg der NATO gegen Jugoslawien als eklatante Verletzung des geltenden Völkerrechts – insbesondere der UN – Charta, sowie im Falle Deutschlands dem Zwei - plus – Vier – Vertrag - ebenso wie unserer Verfassung soll hier nicht wiederholt werden. Bei Koch lesen wir, wie es in der FAZ treffend formuliert wurde:
"Das geltende Recht wird gebrochen unter Berufung auf einen künftigen, erst noch zu schaffenden Rechtszustands – im Falle der NATO eines von "westlichen Werten" geprägten Weltstaats unter Führung Amerikas, der zur Ahndung internationaler Delikte in der Lage ist." (FAZ v. 31.05.1999)
Der Bestand dieser geltenden Völkerrechtsordnung, der die naturrechtliche Idee des "gerechten Krieges" zunächst nur unter christlichen Staaten verbannt und die "humanitäre Intervention" verboten hatte und in der Einrichtung einer Schiedsbarkeit und der Haager Landkriegsordnung zur Kriegsvermeidung, wie später vertragliche Kriegsverbote (Briand-Kellogg-Packt von 1929) bis zur UN - Charta zum Ausdruck kommt, besteht nicht nur durch den Jugoslawienkrieg der NATO auf dem Spiel. Denn der Bestand ist nicht in erster Linie durch deren partielle Verletzung bedroht. Vielmehr ist mit Koch davon auszugehen, daß die Unterminierung des geltenden Völkerrechts noch stärker durch Menschenrechtsprojekte wie das ICC bedroht wird, das den "Menschenrechtsimperialismus zur vorherrschenden Völkerrechtslehre, Ideologie und Praxis machen soll."
Koch faßt zusammen:
"Der im Aufbau befindliche ständige internationale Strafgerichtshof unterscheidet sich vom Jugoslawien – Tribunal vor allem Dingen dadurch, daß er die Aufgaben des Ad-hoc-Tribunals ständig wahrnehmen wird. Die Vorstellung von einem unabhängigen internationalen Strafgerichtshof ist der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung fremd und unter machtpolitischen Gesichtspunkten abwegig. Keine Macht der Welt könnte die USA und andere führende NATO – Staaten dazu zwingen, ihre höchsten Vertreter und Amtsträger der Jurisdiktion eines landesfremden Gerichtes auszuliefern. Die Einrichtung eines ständigen internationalen Strafgerichts ist ein weiterer Schritt auf dem Weg, der mit dem ad – hoc – Tribunalen begonnen wurde. Er soll dem Eingriff in die Hoheitsgewohnheit souveräner Staaten den Schein von Legalität und der Verletzung der staatlichen Integredität der betroffenen Länder, bis hin zu klassischen Militäraktionen oder echten Kriegen, wie dem Jugoslawienkrieg, den Anschein von Polizeiaktionen geben.
Nicht das Provisorische des Jugoslawien – Tribunals ist daher das wesentliche, worauf die Kritik als Sondergericht aber abzielt, sondern die Abkehr vom Völkerrecht mit einer Judikatur im Sinne der humanitären Intervention. Die Ad - hoc - Tribunale stehen aber nicht im Gegensatz zum ständigen Strafgerichtshof, sondern in einem Verhältnis fortschreitender ‚institutioneller Verdichtung des Völkerrechtswandels’ (Kresz), als dessen primären Motor Keresz die Völkerstrafgerichtsbarkeit ausmacht. Der ständige Strafgerichtshof ist daher letztlich in Fortsetzung des jetzigen Jugoslawientribunals die institutionalisierte Form der humanitären Intervention und das Pendant zur (ständigen) Interventionsarmee." (Peter Koch u.a.o.)
Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht, daß Amnesty International, dessen Schwerpunkt wie man hört in den letzten Jahren die Bemühungen um die Errichtung des ICC waren, sich auf seine ursprünglichen Aufgaben – den Kampf gegen die Folter von politischen Gefangenen – konzentrieren und diese allenfalls um die den Kampf für die Einhaltung der sozialen Menschenrechte erweitern sollte. Denn selbst die bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte können durch einen Gerichtshof letzten Endes nicht gerettet, wenn dieser gleichzeitig die schlimmsten Kriegsverbrechen des NATO – Bombartements bzw. zukünftiger "humanitärer Interventionen" vollkommen ungesühnt läßt, ja letztlich zu deren nachträglicher Rechtfertigung dienen soll.
Das Menschenrechtsprojekt einer internationalen Strafjustiz mit der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs unter den gegenwärtig nur zu einer weiteren Unterminierung des geltenden Völkerrechts führen und dadurch der Politik der "humanitären Intervention" Vorschub leisten bzw. hier nachträglich den Schein der Legalität verleihen, in dem (fast) ausschließlich Vertreter der "Schurkenstaaten" kriminalisiert werden. Das ICC wird somit unter den gegenwärtigen Bedingungen zwangsläufig zum Instrument der Rekolonialisierung und Absicherung des "Menschenrechtsimperialismus" werden, ob ihre Förderer und Unterstützer aus dem Bereich der NGOS dies wollen oder nicht.
Solange ein solcher Gerichtshof nicht wirklich und vollständig unabhängig ist und über einen eigenen Untersuchungs- und Ermittlungs- und Vollzugsapparat verfügt, wird der ICC zwangsläufig von hegemonialen Interessen instrumentalisiert. Der scheinbare Fortschritt durch den formalen, bloß auf dem Papier bestehenden, von der internationalen Staatengemeinschaft akzeptierten Willen einer weltweiten Verfolgung von Kriegsverbrechern und Folterern wäre teuer erkauft, solange die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen nicht geschaffen und unter Achtung des (noch) geltenden Völkerrechts durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen eingesetzt und kontrolliert werden kann, solange kann vor einem solchem Projekt nur gewarnt werden.
Daß gerade in Deutschland die Unterstützung des internationalen Strafgerichtshof so selbstverständlich wie unkritisch ist, sollte uns gerade vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte zu bedenken geben: wollte doch der Deutsche immer besonders gerne "Richter spielen" – und zwar regelmäßig gnadenlos gegen den (politischen) Feind, während die bundesdeutsche Strafjustiz trotz aller Bemühungen um dem "demokratischen Rechtsstaat" es nicht geschafft hat, auch nur einen einzigen NS – Blutrichter jemals zur Verantwortung zu ziehen. In Zukunft wird es wohlfeil sein, zur Absicherung aktueller hegemonialer Interessen, sich als Gralshüter der internationalen Strafjustiz aufzuspielen, so lange man nicht offen als Propandagist der weltweiten Interventionsarmee auftritt.
Bremen / Berlin Mai 2001, H. - Eberhard Schultz, Rechtsanwalt
(Beitrag für die Zeitschrift "Ossietzky" – ACHTUNG Veröffentlichung nur mit Zustimmung des Autors!)