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Die Medien und der Krieg

Beim Angriff auf Jugoslawien 1999 marschierten Journalisten im Gleich­schritt mit den NATO-Aggressoren. Diese Parteinahme hält bis heute an

Eckart Spoo
junge Welt, 11.07.2006 / Thema / Seite 10

Als im Frühjahr 1999 die ersten ­NATO-Bomben auf Serbien fielen, geschah es in Hannover, daß ein junger Patient der Medizinischen Hochschule es ablehnte, von Frau Dr. Ljiljana Verner behandelt zu werden. Seine Begründung: Die Oberärztin habe selbst zugegeben, Serbin zu sein.

So erging es Serben am Ende eines Jahrhunderts, in dem Deutschland schon zweimal Serbien überfallen hatte und nun an einem dritten Angriffskrieg gegen dieses Land teilnahm.

Im Mai 2006 fanden im deutsch-niederländischen Grenzgebiet wie alljährlich gemeinsame Veranstaltungen zum Gedenken an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und zur Mahnung für den Frieden statt, inspiriert von dem Komitee »Nooit meer – Nie wieder«. Dessen Hauptgründer auf deutscher Seite war der evangelische Pfarrer Koch (Emlichheim) gewesen, der im Widerstand gegen das Naziregime gekämpft und im KZ gelitten hatte. Diesmal war als Rednerin Ljiljana Verner eingeladen, und es sollte eine Fotoausstellung gezeigt werden, die ein Kriegsverbrechen dokumentiert: die Zerstörung der Brücke von Varvarin (Zentralserbien) durch NATO-Bomber am Pfingstsonntag 1999. Die Ausstellung wurde vom Bürgermeister der niederländischen Gemeinde Dinkelland abgesagt, und die deutsche Nachbarstadt Nordhorn beeilte sich, dem Komitee »Nooit meer – Nie wieder« die Unterstützung zu entziehen. Von den Opfern des NATO-Kriegs zu sprechen, erschien den tonangebenden Kommunalpolitikern als unvereinbar mit dem Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs.

Und daß ausgerechnet Ljiljana Verner eingeladen worden war! Die Serbin! Haben wir es etwa nötig, auch einmal die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen! Darüber empörte sich die Nordhorner Stadtverwaltung und warf »Nooit meer – Nie wieder« allen Ernstes »Einseitigkeit« vor.

Eine Provinzposse? Nein, herrschende Meinung: Die Gegenseite, die Seite der Opfer, muß ausgeblendet werden. So war es in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, bis endlich in den 1990er Jahren die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht zeigte, was 50 Jahre zuvor in Serbien geschehen war. Und so ist es jetzt wieder seit dem NATO-Krieg gegen Serbien. Wenn wir die Gegenseite zu Wort kommen ließen, würde unsere schöne Selbstgerechtigkeit gestört. Über die Kriegsverbrechen der NATO – und der Angriffskrieg selbst war das Hauptverbrechen – muß eisern geschwiegen werden. Mit Serben zu reden, sind wir allenfalls bereit, wenn sie sich der Siegerjustiz demütig unterwerfen. Sie haben selbst im eigenen Land nicht mehr viel zu sagen. Die dortige Presse ist weitgehend von deutschen Konzernen übernommen worden. Realität ausgeblendet Man darf sich die Kommunalpolitiker in Dinkelland und Nordhorn nicht als ungewöhnlich beschränkt vorstellen. Ebensowenig die christlich-, frei-, sozialdemokratischen und grünen Stadträte in Düsseldorf, die Peter Handke als Heinrich-Heine-Preisträger ablehnten und rüde beschimpften. Sie fühlten sich offenbar geradezu moralisch verpflichtet, Düsseldorf und ganz Deutschland vor der Gefahr zu schützen, daß plötzlich nicht mehr gilt, was bisher gegolten hat. Darf denn ein Schriftsteller daherkommen und Zweifel daran säen, daß die Serben urböse und wir Deutschen im Recht sind? Dürfen verantwortungsbewußte Politiker staatstragender Parteien zulassen, daß am Ende womöglich wir selber als Mitschuldige am Verbrechen eines Angriffskriegs dastehen? Diese braven Grünen, Frei-, Sozial- und Christdemokraten haben vermutlich einfach geglaubt, was sie auf dem Bildschirm gesehen, im Radio gehört, in Zeitungen gelesen haben, sie haben es für wahr gehalten, haben sich darauf verlassen und wollen sich weiterhin darauf verlassen können. Dann liegt das Problem aber nicht bei diesen Kommunalpolitikern, sondern bei den tonangebenden Medien, die immer im Gleichschritt mit der Bundesregierung und der NATO marschiert sind.

Als Rolf Becker und ich mit der Gewerkschaftergruppe »Dialog von unten statt Bomben von oben« im Frühjahr 1999 während des Bombenkriegs der NATO gegen Jugoslawien durch das angegriffene Land reisten, selbst einige Bombardements erlebten und viele unvergeßliche Begegnungen hatten, trafen wir in Belgrad auch den damaligen Korrespondenten der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD), Klaus Below. Man hätte annehmen müssen, daß er in jenen Kriegswochen täglich auf dem Bildschirm erschienen wäre, um das deutsche Fernsehpublikum zu informieren; doch gerade damals verschwand er vom Bildschirm. Seine Berichte, so erfuhren wir von ihm, wurden unterdrückt – nicht von jugoslawischer Seite, sondern von den ARD-Verantwortlichen. Was er in Jugoslawien mit eigenen Augen sah, paßte nicht in das Bild, das die NATO-Propaganda vermittelte. Die öffentliche Meinung in den ­NATO-Ländern wurde damals fast ausschließlich von der NATO gemacht, von den Regierungen der NATO-Länder und vom damaligen Pressesprecher der NATO, Jamie Shea, der später recht offen und sehr zynisch in einem Buch geschildert hat, wie er damals für die rechte Kriegsstimmung sorgte – mit erfundenen Geschichten und flotten Sprüchen. Realistische Kriegsdarstellungen des ARD-Korrespondenten Below hätten da nur gestört. Unsere Gruppe versuchte selbst mit äußerst geringem Erfolg, durch tägliche Berichte, die wir deutschen Nachrichtenagenturen und Zeitungen schickten, die Wirklichkeit dieses Krieges bekanntzumachen. Ähnlich erging es Peter Handke, der damals und auch vorher und nachher zu den wenigen gehörte, die sich an Ort und Stelle umsahen und umhörten. Lügenpropaganda Die NATO bombardierte in Serbien neben Chemiefabriken, Kraftwerken, Schulen, Krankenhäusern, Wohngebieten, Eisenbahn- und Straßenbrücken auch Rundfunksender – völkerrechtswidrig. Weil das serbische Fernsehen, in dessen Zentrale bei einem nächtlichen Bombenangriff 16 Kollegen getötet wurden, weiterhin Fotos und Filme von den Kriegszerstörungen ausstrahl-te – Zer­störungen, die es laut NATO-Propaganda nicht gab, allenfalls sogenannte Kollateralschäden wurden zugegeben –, erwirkte der damalige deutsche Außenminister Fischer bei der Eutelsat-Zentrale in London die Abschaltung der Satellitenübertragung. Das Fernsehpublikum in Deutschland und aller Welt sollte nicht erfahren, was die NATO in Serbien anrichtete. Glatte Zensur! Verfassungswidrig!
Zensur und systematischer Mißbrauch der Medien zu Propagandazwecken sind mit demokratischen Prinzipien unvereinbar. Was damals geschehen ist – und dazu gehörte auch das Mikrofonverbot für einen südwestdeutschen Rundfunkkollegen, der zutreffend den Krieg der NATO gegen Jugoslawien einen Angriffskrieg genannt hatte –, muß endlich aufgearbeitet werden. Es gab Ansätze dazu. So strahlte der Westdeutsche Rundfunk (WDR) anderthalb Jahre nach dem Krieg eine wohlrecherchierte Sendung unter dem Titel »Es begann mit einer Lüge« aus. Der damalige Bundesverteidigungsminister Scharping wurde in dieser Sendung mit mehreren krassen Lügen konfrontiert, mit denen er versucht hatte, den Krieg zu rechtfertigen. Zum Beispiel hatte er behauptet, »die Serben« hätten aus dem Stadion von Pristina ein KZ gemacht. Daran war nichts Wahres. Peinlich für Scharping, peinlich für alle, die solche Behauptungen kritiklos übernommen und weiterverbreitet hatten. Politiker der damaligen Regierungskoalition gingen mit Verleumdungen gegen die Sendung vor, an der aber nicht das Geringste zu beanstanden war. Die Kunst des Fragens In der Berichterstattung über jedweden Konflikt müßten Journalistinnen und Journalisten auf nichts so sehr bedacht sein wie darauf, daß beide Seiten zu Wort kommen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber gerade in Kriegszeiten und schon in den Zeiten der Vorbereitung von Kriegen, also dann, wenn es am meisten darauf ankommt, vergessen die Journalisten das Gelernte, sammeln sich unter der Fahne und machen Propaganda; viele merken nicht einmal, wozu sie sich hergeben – so stark ist der Erwartungsdruck, unter dem sie arbeiten.
Die Justiz kennt seit vielen Jahrhunderten den Grundsatz, daß kein gerechtes Urteil gefällt werden kann, ehe nicht beiden Seiten Gehör gegeben wurde. Auch der Souverän in der Demokratie kann sich kein zutreffendes Urteil bilden, wenn er nur einseitig informiert ist. Aus den Erfahrungen in Jugoslawien habe ich den Schluß gezogen, daß Journalisten (ich meine solche, die überhaupt selbst recherchieren, das sind nicht viele) den offiziellen Angaben grundsätzlich nicht trauen dürfen, vor allem nicht den Angaben der eigenen beziehungsweise befreundeten Seite – im Zweifelsfall eher den Angaben der anderen Seite. Deren Darstellung hat zumindest den Wert, daß sie uns kritikfähig gegenüber der Darstellung der eigenen Seite machen kann. Die Gefahr, aus Leichtgläubigkeit mitschuldig zu werden, besteht in der Regel nur auf der eigenen Seite. Die wichtigste Wahrheit in einem militärischen Konflikt ist ohnehin immer die über den Gegner, zum Beispiel über seine Motive und seine Stärke. »Embedded journalists«, wie die US-Streitkräfte sie im jüngsten Irak-Krieg auf Panzern mitfahren ließen, erfahren von dieser wichtigsten Wahrheit nichts.

Während des Bombenkriegs gegen Jugoslawien und schon lange vorher kam Slobodan Milosevic, der demokratisch gewählte Staatspräsident Serbiens und Jugoslawiens, in den deutschen Medien niemals im Originalton zu Wort. Der Prozeß gegen ihn in Den Haag hätte Gelegenheit zur Wahrheitsfindung geben können, aber unsere Wahrnehmungsschwäche hielt an. Berichtet wurde immer wieder, die Chefanklägerin Carla del Ponte verfüge nunmehr über Beweise für die Schuld Milosevics. Wie sie dann im Verhandlungssaal mit ihren angeblichen Beweisen regelmäßig scheiterte, interessierte anscheinend nicht. Der Prozeß endete mit dem Tod des Angeklagten, nicht mit einem Schuldspruch, zu dem es nur unter Verdrehung der Fakten hätte kommen können.

Weil Milosevic nicht verurteilt wurde, muß er nach einem unaufgebbaren Rechtsprinzip als unschuldig gelten. Doch das Feindbild »die Serben« steckt fest im deutschen Schädel – seit Generationen. »Die Serben« sind Täter und müssen mit Sanktionen belegt werden. Sie müssen schuld gewesen sein an den Kriegen, die wir gegen sie geführt haben. Namentlich Milosevic. Frage ich nach, fällt allen dasselbe Stichwort ein: Srebrenica. Was dort geschah? Was vorausgegangen war? Was Milosevic damit zu tun hatte (nämlich gar nichts)? Das wollen sie nicht so genau wissen. Und Kragujevac? Das interessiert schon gar nicht. Bei diesem größten Massaker auf dem Balkan während des Zweiten Weltkriegs (7000 Tote) waren Deutsche die Täter gewesen. Das wissen wir nicht und wollen es nicht wissen. 1999 zerbombte die NATO fast alle 50000 industriellen Arbeitsplätze in Kragujevac und beschädigte auch die Gedenkstätte am Ort des Massakers von 1941. Nein, das müssen wir nicht wissen. Kragujevac kennen wir nicht. Uns genügt Srebrenica. Keine weiteren Fragen.

Peter Handke hat in den Auseinandersetzungen der letzten Wochen an uns alle appelliert: »Lernen wir die Kunst des Fragens.« In der Pariser Libération vom 10. Mai hat er davor gewarnt, über Jugoslawien mit »ausschließlich präfabrizierten Worten, unendlich oft wiederholt, gebraucht wie automatische Waffen« zu sprechen und zu schreiben. »Als Einzelner«, so kommentierte am 31. Mai Cornelia Niedermeier im Wiener Standard, »als Einzelner verteidigt er den Willen zum eigenen Blick gegen den entliehenen Massenblick der Medien«.

Verantwortungsbewußte Journalisten sollten das als eine Herausforderung begreifen. Peter Handke, auch und gerade mit seinen Büchern über Serbien, fordert die Medien in den ­NATO-Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, zum Nachdenken über ihre Rolle heraus – und nicht nur die Medien als Apparate, sondern jeden einzelnen Journalisten.

Die Kunst des Fragens wird täglich gebraucht. Nur der eigene Blick kann uns davor bewahren, in immer neue Katastrophen hineingezogen zu werden. Mit tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern müssen wir reden, wenn wir neue Kriege vermeiden wollen. Mundtot gemacht Wo Regierungen aufhören, den friedlichen Interessenausgleich zu suchen, wo sie aufhören zu verhandeln, wo sie alle Kommunikation abbrechen und wo die tonangebenden Medien die Gegenseite nur noch verteufeln (Milosevic, »der Diktator«, »der Schlächter«, »der neue Hitler«), da ist Krieg nicht fern. Wenn mit der Hamas, der demokratisch gewählten Regierungspartei der Palästinenser, nicht gesprochen werden darf, droht die physische Vernichtung der Palästinenser. Ähnlich beängstigend ist es, daß die westliche Welt sich darauf festgelegt hat, nicht mit dem gewählten Präsidenten von Belarus, Alexander Lukaschenko, und anderen Vertretern des Landes zu sprechen. Im Mai fand in Berlin ein Europäisches Friedensforum statt; der Vertreter der Friedensbewegung von Belarus mußte fernbleiben, weil ihm Deutschland das Visum versagte. Völker werden mundtot gemacht, bevor sie Opfer von Bomben werden. Und die Überlebenden müssen mundtot bleiben, damit die Täter nicht an ihre Verbrechen erinnert werden.
Mitte Juni führte die Neue Zürcher Zeitung ein ausführliches Interview mit Peter Handke, nachdem er in Deutschland schon fast zur Unperson geworden war. Zum Schäbigsten, was ich hierzulande gelegentlich über ihn las, gehörten Sätze von der Art, daß er zwar kein schlechter Schreiber sei, aber eben einen »Spleen« habe, den »Jugoslawien-Spleen« (Frankfurter Rundschau). Das sollte einfach heißen: Handke sei nicht ernst zu nehmen. Aber der Autor läßt sich nicht von seinem Thema trennen. So kommen wir nicht davon. So können wir uns der Herausforderung dieses Mannes nicht entziehen.
In einer Pressekonferenz im Berliner Theater am Schiffbauerdamm, in der über den Berliner Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke informiert wurde, sagte die Initiatorin Käthe Reichel drastisch-sarkastisch: »Keine Meinungsfreiheit, zumindest für Handke, wenn er von Deutschland – das immer noch mit Auschwitz am Hals belastete – erwartet, ›daß man Milosevic bitte nicht mit Hitler vergleichen‹ möge. Das ist aber zuviel verlangt. Das geht nicht. Wenn Deutschlands Volk nicht lernt, Milosevic mit Hitler zu vergleichen, dann versteht es die Bomben aus Deutschland auf Frauen und Kinder in Belgrad nicht … Die Wahrheit ist dem Krieg nicht zumutbar. An ihr muß er verrecken. Darum wünschte sich dieser Krieg, daß die Deutschen vergessen sollen, daß die Serben sich selbst von Hitler befreit haben. An den Krieg gegen Hitler soll man in Deutschland sich nicht mehr erinnern – jetzt, wo Auschwitz nicht mehr in Auschwitz liegt, sondern in Serbien und, was noch toller ist, das ganze Deutschland am Hindukusch liegt und künftig in der ganzen Welt.«
Ein 08/15-Journalist meinte prompt, den Berliner Heinrich-Heine-Preis, dessen Geldbetrag nach Handkes Wunsch dazu verwendet werden soll, auf die Situation der Serben in den letzen Enklaven im Kosovo aufmerksam zu machen, in »Milosevic-Preis« umbenennen zu sollen. Käthe Reichel antwortete schlagfertig: »Hitler-Preis. Eigentlich wollten Sie doch sagen: Hitler-Preis.«
Der Intendant des Theaters am Schiffbauerdamm, Claus Peymann, Mitunterzeichner des Aufrufs für den Preis, erhielt inzwischen »Sieg Heil«-Zuschriften. Anfang 2007 wird dort ein neues Stück von Peter Handke uraufgeführt werden.

Eckart Spoo ist verantwortlicher Redakteur von Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft. Den Artikel entnahmen dem aktuellen Heft (Nr. 14) der Zeitschrift (Einzelpreis 2,50 Euro, Bestellungen an ossietzky@interdruck.net)

Wir danken der Redaktion Ossietzky für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck


Dokumentiert: »Berliner Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke«

»…und es fehlt nicht an gelehrten Hunden, die das blutende Wort als gute Beute heranschleppen.« Heinrich Heine

Eigensinnig wie Heinrich Heine verfolgt Peter Handke in seinem Werk seinen Weg zu einer offenen Wahrheit. Den poetischen Blick auf die Welt setzt er rücksichtslos gegen die veröffentlichte Meinung und deren Rituale.« Mit dieser Begründung erkannte die Jury dem Schriftsteller Peter Handke den Düsseldorfer Heinrich-Heine-Preis zu. Doch sofort reagierten einflußreiche Medien und einzelne Politiker mit heftigen Attacken, die dazu geführt haben, daß die Düsseldorfer Stadtratsfraktionen von SPD, FDP und Grünen die Vergabe des Preises verweigern und verhindern.

Der Fall erinnert an die mehrjährigen Auseinandersetzungen, deren es bedurfte, um die Benennung der Düsseldorfer Universität nach Heinrich Heine durchzusetzen. Der in Düsseldorf geborene Dichter und Journalist, der für die Ideen der Französischen Revolution Partei nahm, wurde zeitlebens und über den Tod hinaus von deutschen Zensurbehörden verfolgt. (…)
Peter Handke mahnt seit Jahren immer wieder »Gerechtigkeit für Serbien« an. Er hat den ihm als Unverfrorenheit ausgelegten Mut, auch auf die serbischen Opfer des Krieges hinzuweisen, die in der deutschen Öffentlichkeit nach wie vor kaum wahrgenommen werden, da die Medien und die führenden Politiker fast unisono den Serben kollektiv die Täterrolle zuschreiben.

Am 18. März sagte Peter Handke in Po¸arevac bei der Beerdigung von Slobodan Milosevic: »Die Welt, die vermeintliche Welt, weiß alles über Slobodan Milosevic. Die vermeintliche Welt kennt die Wahrheit. Eben deshalb ist die vermeintliche Welt heute nicht anwesend, und nicht nur heute und hier. Ich kenne die Wahrheit auch nicht. Aber ich schaue. Ich begreife. Ich empfinde. Ich erinnere mich. Ich frage. Eben deshalb bin ich heute hier zugegen.« Diese Worte drücken ein anderes Verhältnis zur Wahrheit aus als Rudolf Scharpings frei erfundene Kriegsgründe, Joseph Fischers Auschwitzvergleiche und das bedauernde Lächeln des NATO-Pressesprechers Jamie Shea über »Kollateralschäden«. Keiner der Verantwortlichen wurde für die Manipulationen und die Kriegspropaganda zur Rechenschaft gezogen, noch gab es jemals eine öffentliche Debatte darüber (auch nicht nach der verdienstvollen WDR-Sendung »Es begann mit einer Lüge« anderthalb Jahre nach dem Beginn der NATO-Bombenangriffe auf Jugoslawien), aber über den Heinrich-Heine-Preis an Peter Handke ereifern sich Medien und Politiker, die verbergen wollen, was er aufzudecken bemüht ist: »Denn was weiß man, wo eine Beteiligung beinah immer nur eine (Fern-)Sehbeteiligung ist? Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und Online nur Wissensbesitz hat, ohne jenes tatsächliche Wissen, welches allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann? Was weiß der, der statt der Sache einzig deren Bild zu Gesicht bekommt, oder, wie in den Fernsehnachrichten, ein Kürzel von einem Bild, oder, wie in der Netzwelt, ein Kürzel von einem Kürzel?«

Völkerverständigung kann nicht auf Propaganda gedeihen, sondern nur auf Aufklärung. Ein trauriges Beispiel hierfür ist Kosovo – wo die angebliche »humanitäre Intervention« der NATO ein System geschaffen hat, in dem Serben, Roma und Juden, soweit sie trotz Massenvertreibung noch dort ausharren, sich nicht frei bewegen können. »Gerechtigkeit für Serbien« – 1996, drei Jahre vor dem NATO-Krieg, hat Peter Handke diese Zeile auf einer Jugoslawienreise notiert, ahnend, was drohte: Krieg, unter deutscher Beteiligung, als Folge der Zerschlagung der Bundesrepublik Jugoslawien, zu der die deutsche Außenpolitik maßgeblich beigetragen hat. 1999 war Peter Handke wieder in Serbien, während des Krieges, miterlebend und -erleidend, wovor er vergeblich gewarnt hatte.

Der Heinrich-Heine-Preis gehört Peter Handke! Nicht der Preis der Stadt Düsseldorf, der entwertet ist, sondern der Berliner Heinrich-Heine-Preis, verbunden mit einem Preisgeld in Höhe von 50000 Euro, verliehen von allen, die Peter Handke einer Auszeichnung im Namen Heinrich Heines für würdig halten.

Die Unterzeichner übernehmen gern die Kriterien des Düsseldorfer Heinrich-Heine-Preises, mit dem Persönlichkeiten geehrt werden sollen, »die durch ihr geistiges Schaffen im Sinne der Grundrechte des Menschen, für die sich Heinrich Heine eingesetzt hat, den sozialen und politischen Fortschritt fördern, der Völkerverständigung dienen oder die Erkenntnis von der Zusammengehörigkeit aller Menschen verbreiten«.

Am 10. Juni, nach Erscheinen des Aufrufs in Ossietzky, schreibt uns Peter Handke: »Wer verdient solch einen Aufruf in die Freund- und Freundschaftlichkeit? Ich bin berührt von Ihrer Geste, zugleich möchte ich aber beiseitestehen und sie, die Geste, vorbeilassen für etwas anderes, für ein Zeichengeben über mich hinaus. Warum also nicht ein Preisgeld, wenn es zustandekäme, an die serbischen Enklaven, die letzten, im Kosovo, übermitteln, an Dörfer, die, allseits umzingelt, im Elendstrichter von Europa vegetieren müssen, beschützt und bewacht von jenen Staaten, den westeuropäischen, die ihnen mit Bombengewalt den eigenen Staat = Jugoslawien geraubt, gebrandschatzt haben? So oder so: danke! Und, bitte, kein Alternativpreis für mich.«

Wir werden uns gemeinsam mit Peter Handke bemühen, den Vorschlag umzusetzen – wir teilen sein Anliegen, »ein nicht nur episodisches Aufmerksamwerden« für alle Opfer des Jugoslawienkrieges zu bewirken.

Friedrich-Martin Balzer, Hartmut Barth-Engelbart, Ben Becker, Jürgen Becker, Meret ­Becker, Rolf Becker, Hermann Beil, Esther ­Bejarano, ­Peter Betscher, Rule von Bismarck, ­Daniela Dahn, Gruppe »Dialog von unten«, Jutta ­Ditfurth, Evelyn Hartmann, Ralph ­Hartmann, Jutta Hercher, Diana Johnstone, Dietrich ­Kittner, Peter Kleinert, Arno Klönne, Monika Köhler, Otto Köhler, Kurt Köpruner, Joochen ­Laabs, ­Otto ­Meyer, Werner Mittenzwei, Claus ­Peymann, Käthe ­Reichel, Renate Richter, Karl Heinz Roth, Hans Georg Ruf, Cathrin Schütz, Hans See, ­Rachel Seifert, Eckart Spoo, Peter Urban, ­Hanne Vack, Klaus Vack, Michael Weber, ­Manfred ­Wekwerth, Jörg ­Wollenberg, Ingrid Zwerenz, Gerhard Zwerenz

Zuschriften an: rolf.becker@comlink.de, Fax 040 – 2803214

Treuhandkonto: Rolf Becker/Berliner Heine-Preis, Hamburger Sparkasse (BLZ 20050550), Konto-Nummer: 1001212180
bislang sind 20000 Euro auf dem Konto eingegangen; es fehlen also noch 30000 Euro, um Peter Handkes Wunsch entsprechen zu können. Spenden sind also weiterhin erbeten!