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Eckart Spoo
junge Welt, 11.07.2006 / Thema / Seite 10
So
erging es Serben am Ende eines Jahrhunderts, in dem Deutschland schon
zweimal Serbien überfallen hatte und nun an einem dritten Angriffskrieg
gegen dieses Land teilnahm.
Im Mai 2006 fanden im
deutsch-niederländischen Grenzgebiet wie alljährlich gemeinsame
Veranstaltungen zum Gedenken an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges
und zur Mahnung für den Frieden statt, inspiriert von dem Komitee
»Nooit meer – Nie wieder«. Dessen Hauptgründer auf deutscher Seite war
der evangelische Pfarrer Koch (Emlichheim) gewesen, der im Widerstand
gegen das Naziregime gekämpft und im KZ gelitten hatte. Diesmal war als
Rednerin Ljiljana Verner eingeladen, und es sollte eine Fotoausstellung
gezeigt werden, die ein Kriegsverbrechen dokumentiert: die Zerstörung
der Brücke von Varvarin (Zentralserbien) durch NATO-Bomber am
Pfingstsonntag 1999. Die Ausstellung wurde vom Bürgermeister der
niederländischen Gemeinde Dinkelland abgesagt, und die deutsche
Nachbarstadt Nordhorn beeilte sich, dem Komitee »Nooit meer – Nie
wieder« die Unterstützung zu entziehen. Von den Opfern des NATO-Kriegs
zu sprechen, erschien den tonangebenden Kommunalpolitikern als
unvereinbar mit dem Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs.
Und
daß ausgerechnet Ljiljana Verner eingeladen worden war! Die Serbin!
Haben wir es etwa nötig, auch einmal die Gegenseite zu Wort kommen zu
lassen! Darüber empörte sich die Nordhorner Stadtverwaltung und warf
»Nooit meer – Nie wieder« allen Ernstes »Einseitigkeit« vor.
Eine
Provinzposse? Nein, herrschende Meinung: Die Gegenseite, die Seite der
Opfer, muß ausgeblendet werden. So war es in den ersten Jahrzehnten
nach dem Zweiten Weltkrieg, bis endlich in den 1990er Jahren die
Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht zeigte, was 50 Jahre
zuvor in Serbien geschehen war. Und so ist es jetzt wieder seit dem
NATO-Krieg gegen Serbien. Wenn wir die Gegenseite zu Wort kommen
ließen, würde unsere schöne Selbstgerechtigkeit gestört. Über die
Kriegsverbrechen der NATO – und der Angriffskrieg selbst war das
Hauptverbrechen – muß eisern geschwiegen werden. Mit Serben zu reden,
sind wir allenfalls bereit, wenn sie sich der Siegerjustiz demütig
unterwerfen. Sie haben selbst im eigenen Land nicht mehr viel zu sagen.
Die dortige Presse ist weitgehend von deutschen Konzernen übernommen
worden. Realität ausgeblendet Man darf sich die Kommunalpolitiker in
Dinkelland und Nordhorn nicht als ungewöhnlich beschränkt vorstellen.
Ebensowenig die christlich-, frei-, sozialdemokratischen und grünen
Stadträte in Düsseldorf, die Peter Handke als
Heinrich-Heine-Preisträger ablehnten und rüde beschimpften. Sie fühlten
sich offenbar geradezu moralisch verpflichtet, Düsseldorf und ganz
Deutschland vor der Gefahr zu schützen, daß plötzlich nicht mehr gilt,
was bisher gegolten hat. Darf denn ein Schriftsteller daherkommen und
Zweifel daran säen, daß die Serben urböse und wir Deutschen im Recht
sind? Dürfen verantwortungsbewußte Politiker staatstragender Parteien
zulassen, daß am Ende womöglich wir selber als Mitschuldige am
Verbrechen eines Angriffskriegs dastehen? Diese braven Grünen, Frei-,
Sozial- und Christdemokraten haben vermutlich einfach geglaubt, was sie
auf dem Bildschirm gesehen, im Radio gehört, in Zeitungen gelesen
haben, sie haben es für wahr gehalten, haben sich darauf verlassen und
wollen sich weiterhin darauf verlassen können. Dann liegt das Problem
aber nicht bei diesen Kommunalpolitikern, sondern bei den tonangebenden
Medien, die immer im Gleichschritt mit der Bundesregierung und der NATO
marschiert sind.
Als
Rolf Becker und ich mit der Gewerkschaftergruppe »Dialog von unten
statt Bomben von oben« im Frühjahr 1999 während des Bombenkriegs der
NATO gegen Jugoslawien durch das angegriffene Land reisten, selbst
einige Bombardements erlebten und viele unvergeßliche Begegnungen
hatten, trafen wir in Belgrad auch den damaligen Korrespondenten der
Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD), Klaus
Below. Man hätte annehmen müssen, daß er in jenen Kriegswochen täglich
auf dem Bildschirm erschienen wäre, um das deutsche Fernsehpublikum zu
informieren; doch gerade damals verschwand er vom Bildschirm. Seine
Berichte, so erfuhren wir von ihm, wurden unterdrückt – nicht von
jugoslawischer Seite, sondern von den ARD-Verantwortlichen. Was er in
Jugoslawien mit eigenen Augen sah, paßte nicht in das Bild, das die
NATO-Propaganda vermittelte. Die öffentliche Meinung in den
NATO-Ländern wurde damals fast ausschließlich von der NATO gemacht,
von den Regierungen der NATO-Länder und vom damaligen Pressesprecher
der NATO, Jamie Shea, der später recht offen und sehr zynisch in einem
Buch geschildert hat, wie er damals für die rechte Kriegsstimmung
sorgte – mit erfundenen Geschichten und flotten Sprüchen. Realistische
Kriegsdarstellungen des ARD-Korrespondenten Below hätten da nur
gestört. Unsere Gruppe versuchte selbst mit äußerst geringem Erfolg,
durch tägliche Berichte, die wir deutschen Nachrichtenagenturen und
Zeitungen schickten, die Wirklichkeit dieses Krieges bekanntzumachen.
Ähnlich erging es Peter Handke, der damals und auch vorher und nachher
zu den wenigen gehörte, die sich an Ort und Stelle umsahen und
umhörten. Lügenpropaganda Die NATO bombardierte in Serbien neben
Chemiefabriken, Kraftwerken, Schulen, Krankenhäusern, Wohngebieten,
Eisenbahn- und Straßenbrücken auch Rundfunksender – völkerrechtswidrig.
Weil das serbische Fernsehen, in dessen Zentrale bei einem nächtlichen
Bombenangriff 16 Kollegen getötet wurden, weiterhin Fotos und Filme von
den Kriegszerstörungen ausstrahl-te – Zerstörungen, die es laut
NATO-Propaganda nicht gab, allenfalls sogenannte Kollateralschäden
wurden zugegeben –, erwirkte der damalige deutsche Außenminister
Fischer bei der Eutelsat-Zentrale in London die Abschaltung der
Satellitenübertragung. Das Fernsehpublikum in Deutschland und aller
Welt sollte nicht erfahren, was die NATO in Serbien anrichtete. Glatte
Zensur! Verfassungswidrig!
Zensur
und systematischer Mißbrauch der Medien zu Propagandazwecken sind mit
demokratischen Prinzipien unvereinbar. Was damals geschehen ist – und
dazu gehörte auch das Mikrofonverbot für einen südwestdeutschen
Rundfunkkollegen, der zutreffend den Krieg der NATO gegen Jugoslawien
einen Angriffskrieg genannt hatte –, muß endlich aufgearbeitet werden.
Es gab Ansätze dazu. So strahlte der Westdeutsche Rundfunk (WDR)
anderthalb Jahre nach dem Krieg eine wohlrecherchierte Sendung unter
dem Titel »Es begann mit einer Lüge« aus. Der damalige
Bundesverteidigungsminister Scharping wurde in dieser Sendung mit
mehreren krassen Lügen konfrontiert, mit denen er versucht hatte, den
Krieg zu rechtfertigen. Zum Beispiel hatte er behauptet, »die Serben«
hätten aus dem Stadion von Pristina ein KZ gemacht. Daran war nichts
Wahres. Peinlich für Scharping, peinlich für alle, die solche
Behauptungen kritiklos übernommen und weiterverbreitet hatten.
Politiker der damaligen Regierungskoalition gingen mit Verleumdungen
gegen die Sendung vor, an der aber nicht das Geringste zu beanstanden
war. Die Kunst des Fragens In der Berichterstattung über jedweden
Konflikt müßten Journalistinnen und Journalisten auf nichts so sehr
bedacht sein wie darauf, daß beide Seiten zu Wort kommen. Eigentlich
eine Selbstverständlichkeit. Aber gerade in Kriegszeiten und schon in
den Zeiten der Vorbereitung von Kriegen, also dann, wenn es am meisten
darauf ankommt, vergessen die Journalisten das Gelernte, sammeln sich
unter der Fahne und machen Propaganda; viele merken nicht einmal, wozu
sie sich hergeben – so stark ist der Erwartungsdruck, unter dem sie
arbeiten.
Die
Justiz kennt seit vielen Jahrhunderten den Grundsatz, daß kein
gerechtes Urteil gefällt werden kann, ehe nicht beiden Seiten Gehör
gegeben wurde. Auch der Souverän in der Demokratie kann sich kein
zutreffendes Urteil bilden, wenn er nur einseitig informiert ist. Aus
den Erfahrungen in Jugoslawien habe ich den Schluß gezogen, daß
Journalisten (ich meine solche, die überhaupt selbst recherchieren, das
sind nicht viele) den offiziellen Angaben grundsätzlich nicht trauen
dürfen, vor allem nicht den Angaben der eigenen beziehungsweise
befreundeten Seite – im Zweifelsfall eher den Angaben der anderen
Seite. Deren Darstellung hat zumindest den Wert, daß sie uns
kritikfähig gegenüber der Darstellung der eigenen Seite machen kann.
Die Gefahr, aus Leichtgläubigkeit mitschuldig zu werden, besteht in der
Regel nur auf der eigenen Seite. Die wichtigste Wahrheit in einem
militärischen Konflikt ist ohnehin immer die über den Gegner, zum
Beispiel über seine Motive und seine Stärke. »Embedded journalists«,
wie die US-Streitkräfte sie im jüngsten Irak-Krieg auf Panzern
mitfahren ließen, erfahren von dieser wichtigsten Wahrheit nichts.
Während
des Bombenkriegs gegen Jugoslawien und schon lange vorher kam Slobodan
Milosevic, der demokratisch gewählte Staatspräsident Serbiens und
Jugoslawiens, in den deutschen Medien niemals im Originalton zu Wort.
Der Prozeß gegen ihn in Den Haag hätte Gelegenheit zur Wahrheitsfindung
geben können, aber unsere Wahrnehmungsschwäche hielt an. Berichtet
wurde immer wieder, die Chefanklägerin Carla del Ponte verfüge nunmehr
über Beweise für die Schuld Milosevics. Wie sie dann im
Verhandlungssaal mit ihren angeblichen Beweisen regelmäßig scheiterte,
interessierte anscheinend nicht. Der Prozeß endete mit dem Tod des
Angeklagten, nicht mit einem Schuldspruch, zu dem es nur unter
Verdrehung der Fakten hätte kommen können.
Weil Milosevic
nicht verurteilt wurde, muß er nach einem unaufgebbaren Rechtsprinzip
als unschuldig gelten. Doch das Feindbild »die Serben« steckt fest im
deutschen Schädel – seit Generationen. »Die Serben« sind Täter und
müssen mit Sanktionen belegt werden. Sie müssen schuld gewesen sein an
den Kriegen, die wir gegen sie geführt haben. Namentlich Milosevic.
Frage ich nach, fällt allen dasselbe Stichwort ein: Srebrenica. Was
dort geschah? Was vorausgegangen war? Was Milosevic damit zu tun hatte
(nämlich gar nichts)? Das wollen sie nicht so genau wissen. Und
Kragujevac? Das interessiert schon gar nicht. Bei diesem größten
Massaker auf dem Balkan während des Zweiten Weltkriegs (7000 Tote)
waren Deutsche die Täter gewesen. Das wissen wir nicht und wollen es
nicht wissen. 1999 zerbombte die NATO fast alle 50000 industriellen
Arbeitsplätze in Kragujevac und beschädigte auch die Gedenkstätte am
Ort des Massakers von 1941. Nein, das müssen wir nicht wissen.
Kragujevac kennen wir nicht. Uns genügt Srebrenica. Keine weiteren
Fragen.
Peter Handke hat in den Auseinandersetzungen der
letzten Wochen an uns alle appelliert: »Lernen wir die Kunst des
Fragens.« In der Pariser Libération vom 10. Mai hat er davor
gewarnt,
über Jugoslawien mit »ausschließlich präfabrizierten Worten, unendlich
oft wiederholt, gebraucht wie automatische Waffen« zu sprechen und zu
schreiben. »Als Einzelner«, so kommentierte am 31. Mai Cornelia
Niedermeier im Wiener Standard, »als Einzelner verteidigt er den Willen
zum eigenen Blick gegen den entliehenen Massenblick der Medien«.
Verantwortungsbewußte
Journalisten sollten das als eine Herausforderung begreifen. Peter
Handke, auch und gerade mit seinen Büchern über Serbien, fordert die
Medien in den NATO-Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, zum
Nachdenken über ihre Rolle heraus – und nicht nur die Medien als
Apparate, sondern jeden einzelnen Journalisten.
Die Kunst des
Fragens wird täglich gebraucht. Nur der eigene Blick kann uns davor
bewahren, in immer neue Katastrophen hineingezogen zu werden. Mit
tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern müssen wir reden, wenn wir
neue Kriege vermeiden wollen. Mundtot gemacht Wo Regierungen aufhören,
den friedlichen Interessenausgleich zu suchen, wo sie aufhören zu
verhandeln, wo sie alle Kommunikation abbrechen und wo die
tonangebenden Medien die Gegenseite nur noch verteufeln (Milosevic,
»der Diktator«, »der Schlächter«, »der neue Hitler«), da ist Krieg
nicht fern. Wenn mit der Hamas, der demokratisch gewählten
Regierungspartei der Palästinenser, nicht gesprochen werden darf, droht
die physische Vernichtung der Palästinenser. Ähnlich beängstigend ist
es, daß die westliche Welt sich darauf festgelegt hat, nicht mit dem
gewählten Präsidenten von Belarus, Alexander Lukaschenko, und anderen
Vertretern des Landes zu sprechen. Im Mai fand in Berlin ein
Europäisches Friedensforum statt; der Vertreter der Friedensbewegung
von Belarus mußte fernbleiben, weil ihm Deutschland das Visum versagte.
Völker werden mundtot gemacht, bevor sie Opfer von Bomben werden. Und
die Überlebenden müssen mundtot bleiben, damit die Täter nicht an ihre
Verbrechen erinnert werden.
Mitte
Juni führte die Neue Zürcher Zeitung ein ausführliches Interview mit
Peter Handke, nachdem er in Deutschland schon fast zur Unperson
geworden war. Zum Schäbigsten, was ich hierzulande gelegentlich über
ihn las, gehörten Sätze von der Art, daß er zwar kein schlechter
Schreiber sei, aber eben einen »Spleen« habe, den »Jugoslawien-Spleen«
(Frankfurter Rundschau). Das sollte einfach heißen: Handke sei nicht
ernst zu nehmen. Aber der Autor läßt sich nicht von seinem Thema
trennen. So kommen wir nicht davon. So können wir uns der
Herausforderung dieses Mannes nicht entziehen.
In einer
Pressekonferenz im Berliner Theater am Schiffbauerdamm, in der über den
Berliner Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke informiert wurde, sagte
die Initiatorin Käthe Reichel drastisch-sarkastisch: »Keine
Meinungsfreiheit, zumindest für Handke, wenn er von Deutschland – das
immer noch mit Auschwitz am Hals belastete – erwartet, ›daß man
Milosevic bitte nicht mit Hitler vergleichen‹ möge. Das ist aber zuviel
verlangt. Das geht nicht. Wenn Deutschlands Volk nicht lernt, Milosevic
mit Hitler zu vergleichen, dann versteht es die Bomben aus Deutschland
auf Frauen und Kinder in Belgrad nicht … Die Wahrheit ist dem Krieg
nicht zumutbar. An ihr muß er verrecken. Darum wünschte sich dieser
Krieg, daß die Deutschen vergessen sollen, daß die Serben sich selbst
von Hitler befreit haben. An den Krieg gegen Hitler soll man in
Deutschland sich nicht mehr erinnern – jetzt, wo Auschwitz nicht mehr
in Auschwitz liegt, sondern in Serbien und, was noch toller ist, das
ganze Deutschland am Hindukusch liegt und künftig in der ganzen Welt.«
Ein
08/15-Journalist meinte prompt, den Berliner Heinrich-Heine-Preis,
dessen Geldbetrag nach Handkes Wunsch dazu verwendet werden soll, auf
die Situation der Serben in den letzen Enklaven im Kosovo aufmerksam zu
machen, in »Milosevic-Preis« umbenennen zu sollen. Käthe Reichel
antwortete schlagfertig: »Hitler-Preis. Eigentlich wollten Sie doch
sagen: Hitler-Preis.«
Der Intendant des Theaters am Schiffbauerdamm,
Claus Peymann, Mitunterzeichner des Aufrufs für den Preis, erhielt
inzwischen »Sieg Heil«-Zuschriften. Anfang 2007 wird dort ein neues
Stück von Peter Handke uraufgeführt werden.
Eckart Spoo
ist verantwortlicher Redakteur von Ossietzky. Zweiwochenschrift für
Politik, Kultur und Wirtschaft. Den Artikel entnahmen dem aktuellen
Heft (Nr. 14) der Zeitschrift (Einzelpreis 2,50 Euro, Bestellungen an ossietzky@interdruck.net)
Wir danken der Redaktion Ossietzky für die freundliche Genehmigung zum
Nachdruck