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»Die Region erlebt eine Militäroffensive«
Besatzung Haitis ist keine humanitäre Maßnahme: Die USA wollen das Karibikbecken kontrollieren. Ein Gespräch mit Camille Chalmers
Interview: Cathy Ceibe
junge Welt, 29.01.2010 / Ausland / Seite 2
http://www.jungewelt.de/2010/01-29/056.php
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Camille Chalmers ist Ökonom und Soziologe.
Er lehrte an der staatlichen Universität Haiti und war 1993/94
Leiter des Stabes des damaligen Präsidenten Jean Bertrand Aristide.
Heute ist er Vorsitzender der Haitianischen Plattform
für eine alternative Entwicklung

Wie erklären Sie sich den Disput zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten um die Führungsrolle in Haiti?

Wir sind es gewohnt, Spielball imperialistischer Rivalitäten zu sein. Die gibt es seit dem 19. Jahrhundert. Es ist allerdings unfaßbar, daß man die tragische Situa­tion nach dem Erdbeben nutzt, um eine Militärherrschaft zu errichten. Die Region erlebt eine Militäroffensive mit der Errichtung neuer Stützpunkte in Kolumbien als Reaktion auf die wachsende Unabhängigkeit der Völker.

Es wird behauptet, die Interven­tion sei nötig wegen der Schwäche des haitianischen Staates ...

Aber woher rührt diese Schwäche? Im 19. Jahrhundert wurde hier ein neokolonialer Staat errichtet, der die Interessen einer sehr kleinen oligarchischen Oberschicht vertrat und sich durch eine tiefe Kluft zur breiten Masse des Volkes auszeichnete. Seit 1915 verschärfte sich die Situation durch die amerikanische Besatzung, eine ausschließlich auf die Hauptstadt Port-au-Prince ausgerichtete Zentralisierung und die Errichtung einer von der Armee kontrollierten Staatsstruktur. In den vergangenen 20 Jahren gab es weitere Versuche zur Schwächung des Staates durch die Umsetzung neoliberaler Politik.

Was heißt das auf die aktuelle Situation bezogen?

Das Erdbeben war ein Naturereignis. Das Ausmaß der Katastrophe und die hohe Zahl der Opfer hängen aber auch damit zusammen, daß der Staat nie eine soziale Wohnungsbaupolitik betrieben hat. Er reagiert weder auf die Auswanderung noch auf die Verelendung der Provinzen noch auf den Freihandel, der verantwortlich für die Massenarbeitslosigkeit ist. Der Staat hat den Immobilienmarkt den Spekulanten überlassen, die keinerlei Sicherheitsnormen einhalten.

Wir werden eine weitere Schwächung des Staates erleben und vielleicht sogar sein Verschwinden. Er wird sich als unfähig erweisen, die aus der Katastrophe resultierenden Bedürfnisse zu befriedigen, aber auch jener Bedürfnisse, die mit den strukturellen Schwächen der haitianischen Gesellschaft zusammenhängen.

Warum ist Haiti, das zu den ärmsten Ländern der Welt zählt, heute Ziel solcher militärischer Anstrengungen?

Das hat zuerst einmal mit der historischen Rolle Haitis zu tun. Dieses rebellische Land hat 1804 die Sklaverei abgeschafft und ist in Widerspruch zur herrschenden Marktlogik jener Epoche getreten. Diese Tatsache haben die verschiedenen Mächte, die hier um Einfluß ringen, niemals akzeptiert.

Dann besitzt Haiti eine sehr günstige strategische Lage. Wir befinden uns im Zentrum der Karibik und im Herzen der ideologischen Auseinandersetzung. Für die USA ist es in einer Zeit, in der Kuba nicht mehr isoliert ist, in Venezuela die bolivarianische Revolution stattfindet und es Bemühungen für eine Bolivarianische Allianz für die Völker Amerikas (ALBA) gibt, wichtig, das karibische Becken zu kontrollieren. Und schließlich ist Haiti zwar ein verarmtes Land, verfügt aber über bedeutende Rohstoffvorkommen, wie zum Beispiel Iridium. Außerdem spricht man von Erdölreserven.

Wie sieht es heute mit der Protestbewegung in Haiti aus?

Die Strategen des State Department der USA haben Haiti immer als ein Land der unvorhersehbaren Ereignisse betrachtet. So ist auch ihre jetzige überstürzte militärische Reaktion zu werten, die sich im Rahmen der präventiven Kriege des ehemaligen Präsidenten George W. Bush bewegt. Wir haben es strukturell mit einer explosiven Lage aufgrund der extremen Verarmung zu tun, die das Erdbeben noch verschlimmern wird. Die haitianische Nation muß Maßnahmen gegen diese als humanitäre Aktion verkleidete Besatzung ergreifen. Sie muß Solidaritätsnetzwerke schaffen, um den Notstand zu bewältigen, aber auch, um von unten her wirkliche gesellschaftliche Strukturen aufzubauen.
Übersetzung: Raoul Rigault