Uri Avnery erhält den Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg

Die Laudatio von Eckart Spoo


Der Träger des Carl-von-Ossietzky-Preises für Zeitgeschichte und Politik 2002 heißt Uri Avnery. Er muss den Besuchern dieser Homepage nicht vorgestellt werden. Der Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik der Stadt Oldenburg wurde in diesem Jahr zum 10. Mal am Todestag Ossietzkys verliehen. Er wird alle zwei Jahre für Arbeiten ausgelobt, die sich in herausragender Weise mit Leben und Werk des Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky auseinandersetzen, oder die sich im Geiste Carl von Ossietzkys mit Themen des Nationalsozialismus und der demokratischen Tradition und Gegenwart in Deutschland, befassen. Uri Avnery wurde für seine friedensstiftenden Aktivitäten im Nahen Osten geehrt. Oberbürgermeister Dietmar Schütz begrüßte den Publizisten und Friedensaktivisten mit den Worten: "Ich freue mich, dass Sie und Ihre Frau den Weg nach Oldenburg gefunden haben und hoffe, Sie fühlen sich wohl hier unter Freunden."
Uri Avnery bezeichnete Ossietzky als "deutschen Propheten" und betonte in seiner Dankesrede: "Es ist für mich eine große Ehre so groß, dass ich nicht sicher bin, sie verdient zu haben einen Preis verliehen zu bekommen, der den Namen dieses Mannes trägt. Im Gedenken an Carl von Ossietzky nehme ich diesen Preis in tiefster Dankbarkeit an, den ich als Ehrung aller Friedensaktivisten und -aktivistinnen in Israel und Palästina betrachte."
Der Festakt fand am 4. Mai im städtischen Kulturzentrum PFL statt. Die "Laudatio" hielt der Journalist Eckart Spoo. Eckart Spoo ist Herausgeber und Redakteur der in Berlin erscheinenden Zweiwochenschrift "Ossietzky". Im Folgenden dokumentieren wir seine Rede.



Eckart Spoo:
Laudatio für Uri Avnery


Die Würdigung eines Dissidenten trägt gewöhnlich allgemeinen Beifall ein, vorausgesetzt, daß der Dissident nicht in unserem oder einem verbündeten Lande, sondern in einem räumlich oder politisch weit entferten Lande dissidiert.
Freunde warnten mich, für die Würdigung eines Dissidenten aus Israel könne ich mit Beifall von Antisemiten rechnen oder von solchen Menschen in der Mitte der Gesellschaft, die immer darunter leiden, wenn an den Holocaust erinnert wird, weil sie das als hinderlich für deutsche Kraftentfaltung im globalen Wettbewerb empfinden. Denen könne es direkt wohl tun, wenn israelische Regierungskriminalität zur Sprache komme und ein Jude dafür gewürdigt werde, daß er Menschenrechtsverletzungen und militärische Gewalt des Staate Israels zur Sprache bringt.

Wer für heute abend etwa die Pflege solcher deutscher Gemütlichkeit erwartet hat, soll enttäuscht werden. Nationale Gewissensentlastung, nationale Selbstgerechtigkeit zu fördern, war gewiß nicht das Motiv der Jury, ich wäre dafür auch der ungeeignete Laudator, und vor allem steht dem unser Preisträger Uri Avnery mit seiner Lebensgeschichte und seiner Lebensleistung entgegen, der 1923 als Deutscher unter Deutschen in Deutschland geboren wurde und 1933 mit seiner Familie dieses Land verlassen mußte, um nicht Opfer antisemitischen Terrors zu werden.

Zur Erbauung des Spießbürgergemüts kann ohnehin ein Preis nicht taugen, der nach Carl von Ossietzky benannt ist. Geben wir ihm, an dessen 64. Todestag wir heute versammelt sind, zunächst das Wort.

1921 - da war Uri Averny noch nicht geboren - befaßte sich Carl von Ossietzky mit Nachrichten über die Aufstellung militärischer Verbände von Juden in Palästina. Diese Nachrichten machten auf ihn "keinen erfreulichen Eindruck", denn, so schrieb er damals, "in den Juden verehrte ich das einzige unkriegerische Volk der sogenannten zivilisierten Welt, das Volk ohne Feldwebel. (...) Spinoza hat philosophiert und, da er davon nicht leben konnte, Brillengläser geschliffen. Jehuda ben Halevi und Heinrich Heine haben Verse gemacht und Rothschilds Geld gescheffelt. Aber Ahasver im Stechschritt ist eine blanke Unmöglichkeit." Damit formulierte der Pazifist Ossietzky, der stets gegen den Antisemitismus wie gegen den Militarismus gestritten und viele Autoren jüdischer Herkunft als Anreger und Mitstreiter gefunden hatte, eine generelle Sympathie, ein positives Vorurteil, das sich wie jede generalisierende Feststellung über Menschen gleicher Herkunft - über die Polen, die Deutschen, die Briten, die Araber - nicht aufrecht erhalten ließ. Ossietzky fuhr in seinem Artikel fort: "So holt Israel eifrig nach, was es seit der Evakuierung durch Titus versäumt hat: es stellt die geistigen Waffen ins Zierschränkchen und schafft sich eine schimmernde Wehr an. Diesen zeitgemäßen Fortschritt werden zunächst die armen Araberhorden zu spüren bekommen, die auf kargem Boden im Innern des Landes hausen..., ohne die geringste Ahnung vom historischen Recht, dessen tiefere Bedeutung ihnen nunmehr bald mit dem Maschinengewehr erschlossen wird..." Am Schluß seiner Betrachtung zitierte Ossietzky einen Vers aufs Goethes "Faust" (II): "Auch hier geschieht, was längst geschah, / Denn Naboths Weinberg war schon da." Da sich vielleicht nicht jeder an den Sinn dieser "Faust"-Passage erinnert, erläutern die Editorinnen und Editoren der wunderbaren blauen Oldenburger Ossietzky-Gesamtausgabe: Es geht um die Vertreibung von Philemon und Baucis, dem alten Bauernpaar, durch den neuen Herrn, den Eroberer des Landes.

Im Jahre 1929 - da lebte der unter dem deutschen Namen Helmut Ostermann geborene spätere Uri Avnery in Hannover und wurde sechs Jahre alt - befaßte sich in Berlin in der "Weltbühne" Carl von Ossietzky ein zweites Mal, ausführlicher, mit Palästina, wo inzwischen immer mehr Blut um Land vergossen wurde. Er zeigte Sympathie für die sozialistische Tendenz, die damals unter den jungen zionistischen Siedlern vorherrschte, und hob ihre Tüchtigkeit hervor. Die Schwierigkeiten zwischen Juden und Arabern in Palästina sah er jetzt in größeren außenpolitischen Zusammenhängen, vor allem als Folge britischer Kolonialpolitik, die willkürlich Grenzen zog, taktisch wechselnde Bündnisse schloß, Nationalismen anheizte und für eigene Zwecke instrumentalisierte. Jeder gegen jeden - zum Vorteil der britischen Weltmacht, deren Interessen weit über Palästina hinausreichten - nach Bagdad, wie Ossietzky schrieb, und nach Indien.

Es könnte reizen, jetzt darüber nachzudenken, wie weit die von Ossietzky beschriebenen Konstellationen und Konflikte geblieben sind oder was sich seither geändert hat. Jedenfalls ist auch das, was heute im Nahen Osten geschieht, nicht nur eine Sache zwischen Juden und Palästinensern; stärker noch als damals die britischen wirken nun US-amerikanische Interessen hinein; nach wie vor sind diese Interessen weit über den Jordan hinaus auf Bagdad gerichtet. Die wichtigste Veränderung seit den Zwanziger Jahren ist die Zuwanderung vieler Juden, die sich vor dem Holocaust nach Palästina retteten, und dann die Gründung und internationale Anerkennung des Staates Israel.

1933, als Ossietzky seine Tochter Rosalinde ins Exil schickte, während er selber das Martyrium auf sich nahm, verließ auch die Familie Ostermann Deutschland und wanderte nach Palästina aus, wo dann aus Helmut Ostermann Uri Avnery wurde. Schon bald beteiligte er sich als Jugendlicher aktiv an den Anstrengungen, den Juden dort eine feste Heimstaat, bleibenden Schutz vor Verfolgung, Raum für selbstbestimmtes Leben zu schaffen. Mit knapp 15 Jahren wurde er Mitglied einer Untergrund- und Widerstandsorganisation gegen die britische Herrschaft - aus der Sicht der Briten war es selbstverständlich eine terroristische Organisation. Als 17jähriger verließ er die Gruppe, weil er sich mit ihrer araberfeindlichen Haltung nicht identifizieren wollte. Über diese Zeit schrieb er später, sie helfe ihm zu "verstehen, was in den Köpfen junger Palästinenser vorgeht, die sich den Fedajin-Gruppen anschließen". Beruflich war er zeitweilig als Anwaltsgehilfe tätig, der junge Ossietzky war Gerichtsschreiber gewesen. Im Unabhängigkeitskrieg 1948, als Soldat der Kommandoeinheit "Samsons Füchse" wurde Avnery schwer verwundet. "Als ich im Hospital lag", schrieb er später, kam ich zu der Überzeugung, daß Frieden unmöglich ist, solange keine Rücksicht darauf genommen wird, daß in diesem Land zwei Völker wohnen und daß jedes von beiden einen eigenen Staat braucht, in dem es leben kann."

Über seine Kriegserfahrungen veröffentlichte er zwei Reportagenbände. Der erste wurde gleich ein Bestseller. Der fortsetzende zweite Band - "Die andere Seite der Münze" (Die Kehrseite der Medaille) war der Titel - wurde boykottiert, weil er darin über Grausamkeiten und über die Vertreibung von Palästinensern berichtete.

Weil sich ihm die große Presse verschloß, kaufte er sich vom Erlös seines ersten Buches eine kleine Zeitschrift, "Diese Welt", um sich - ich zitiere - mit diesem Wochenblatt als Herausgeber und Chefredakteur ein Sprachrohr gegen das israelische Establishment zu verschaffen und fast jedes Tabu zu brechen, das es in Israel gab. Mit ständiger Kritik gegen die offizielle Politik und unaufhörlicher Penetranz bei der Aufdeckung von Skandalen sowie dem Eintreten einer palästinensischen Staates wurden Avnery und sein Zeitung seit 1950 zum Dauerärgernis jeder israelischen Regierung - so das "Zeit-Magazin" 1988. Ähnliches hätte man auch über Ossietzky und seine "Weltbühne" schreiben können. Allerdings war Ossietzky nie Besitzer des Blattes. Und auch als politischer Vereins- oder Parteiorganisator war Avney erfolgreicher als Ossietzky, der solche Versuche bald aufgab. Als die Knesset 1965 ein Gesetz verabschiedete, das sich eindeutig gegen Avnerys Wochenbatt "Diese Welt" richtete, gründete er eine Partei gleichen Namens, die ein Mandat gewann, sein Mandat. In Israel gilt keine Fünf-Prozent-Klausel, sondern damals genügte ein Prozent der Stimmen, jetzt liegt die Hürde bei anderthalb Prozent. Später kandidierte er noch zweimal für kleine Parteien zum Parlament und nutzte die Möglichkeiten des Mandats, um in die Öffentlichkeit zu wirken, ohne Fraktionszwang, so unabhängig, so frei, wie wir uns im Deutschen Bundestag wohl kaum einen Abgeordneten vorstellen können.

Heftigste Reaktionen löste er aus, als er 1982 als erster Israeli Yassir Arafat in Beirut zu einem Interview aufsuchte.

Man bedenke: Kontakte mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) waren in Israel mit Strafe bedroht. Die langjährige Ministerpräsidentin Golda Meir hatte ihr Volk und alle Welt auf das Dogma festzulegen versucht, eine palästinensisches Volk gebe es gar nicht, ähnlich wie Adenauer mit der Hallstein-Doktrin die Existenz der DDR bestritt und jedem Staat mit Abbruch der Beziehungen und dauernder Nichtachtung drohte, der es wagen würde, Kontakt mit Ulbricht aufzunehmen - womit Adenauer bekanntlich auf Dauer keinen Erfolg hatte.

Avnery traf Arafat im belagerten Beirut, kurz bevor die israelische Luftwaffe die libanesische Hauptstadt bombadierte. Über die Umstände berichtete er: Hunderte Agenten des israelischen Geheimdientes Mossad und der libanesischen Falangisten hätten damals nach Arafat gesucht mit dem Auftrag, ihn zu ermorden.

Apropos Beirut 1982: Für mich ist unvergeßlich, wie offenbar unter Regie des israelischen Generals Ariel Scharon Falangisten in den Beiruter Vororten Sabra und Schatila viele hunderte palästinensische Flüchtlinge ermordeten. Jüngste Nachrichten aus dem Flüchtlingslager Dschenin erinnern fatal daran.

Avnery war von Arafat stark beindruckt und resümierte: "Eine Million geschriebener Worte ersetzen nicht eine Minute des persönlichen Gesprächs. Das ist für mich zum Glaubenssatz geworden. Es gibt keine Alternative zum Dialog - zum offenen, direkten Dialog von Angesicht zu Angesicht."
Scharon, inzwischen Israels Ministerpräsident, verweigert bis heute den Dialog.

Der israelische Generalstaatsanwalt wollte Avnery wegen des Treffens und des Interviews mit Arafat als Hochverräter vor Gericht stellen - was daran erinnert, daß Ossietzky wegen Landesverrats angeklagt und tatsächlich verurteilt wurde; vor einem Verfahren und einer Verurteilung blieb Avnery verschont.

Avnery ließ Arafat in Israel zu Wort kommen. Das sollte nicht sein. Auch auf palästinensischer Seite gab es Kräfte, die den Dialog sabotierten, weil sie die Demontage des Freund-Feind-Denkens fürchteten, das man für die Kriegfüh-rung braucht.

Schon das Wenige, was ich hier stichwortartig über Ury Avnerys Arbeit referiert habe, und besonders diese Tat des Besuchs bei Arafat zeigt ihn als beharrlichen Aufklärer. Denn gerade das kennzeichnet den Aufklärer: daß er ein Grenzgänger ist, daß sein Blick nicht an der Grenze haltmacht, die oft die Grenze des Erlaubten ist, sondern daß er sich für die andere Seite interessiert, daß er die Grenze überwindet und bereit ist, das Gewohnte, scheinbar Selbstverständliche von der anderen Seite aus zu betrachten, von wo aus es ganz anders aussehen kann.

Das Wortpaar Freiheitskämpfer-Terroristen ist dafür ein immer wieder aktuelles Beispiel.
Die Sache der Freiheitskämpfer ist die gute Sache, der Terrorismus dagegen ist das Böse schlechthin. Was die Unseren, die Guten, für die gute Sache tun, ist gut, was die anderen, die Bösen, tun, ist allemal böse. Ohne dieses Freund-Feind-Schema kommt keine Kriegspropaganda aus, und ohne primitive, massenverdummende Kriegspropaganda könnten Kriege nicht geführt werden.

Die Gegenseite muß dämonisiert, muß verteufelt werden - und Teufel haben kein menschliches Gesicht, nur eine böse Fratze, sie haben überhaupt nichts Menschliches. Mit Teufeln kann man - will sagen: darf man - nicht reden, Teufel muß man vernichten. Und wen man vernichten will, den muß man als erstes mundtot machen.

Heutzutage bedeutet das vor allem, der anderen Seite die Medien zu nehmen. Keinesfalls darf der Feind - also derjenige, der als Feind erscheinen soll - in unseren Medien zu Wort kommen. Milosevic zum Beispiel, von dem jahrelang täglich in unseren Medien die Rede war, durfte uns in all den Jahren nicht im O-Ton, nicht als sprechendes Subjekt erreichen, und auch jetzt, wo er vor dem Haager Tribunal steht, worauf doch die NATO so großen Wert gelegt hat, erleben wir nicht, wie er sich verantwortet. Es wäre eine Nachhilfe für uns.

Nach dem 11. September 2001, als der Krieg gegen Afghanistan vorbereitet wurde, bat das geistliche Oberhaupt der Taliban, Mullah Omar, dringend ums Gespräch mit der US-Regierung, die aber darauf gar nicht antwortete. Und als der von der staatliche finanzierte Sender, "Voice of America" eine Stellungnahme Mullah Omars zu der den Krieg ankündigenden Kongreßrede des US-Präsidenten ausstrahlen wollte, bewirkte eine Intervention des Außenministeriums in Washington, daß das Interview nicht gesendet wurde. Ein Sprecher des State Department sagte, die Worte des Mullah Omar gehörten nicht in "unser Radio".

Das angreifende Militär ist aber auch daran interessiert, daß sich die Führung der anderen Seite nicht mehr ans eigene Volk wenden kann. Für die Unterwerfung Jugoslawiens unter den Willen der NATO war es entscheidend, daß die dortigen Sender durch Bomben zerstört wurden und daß auf ihren Frequenzen Sender von außen in das Land hineinstrahlten. Zum ersten, was in Afghanistan bombardiert wurden, gehörten die Sender des Taliban, und genauso begann die Kriegführung Israels gegen die jüngste Intifada. Die Standardbegründung lautet: Das, was gegnerische Sender verbreiten, sei doch nur Propaganda. Genau mit dieser Begründung rechtfertigte beispielsweise das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, daß auf sein Betreiben hin im Mai 1999 die Eutelsat- Zentrale in London die Übertragung jugoslawischer Fernsehbilder unterband - m. E. ein Eingriff in unsere Informationsfreiheit.

Die friedenswichtige Tat des Aufklärers ist der Versuch, beiden Seiten Gehör zu verschaffen. In der Justiz ist das seit Jahrhunderten ein selbstverständlicher Grundsatz: Der Richter kann kein gerechtes Urteil sprechen, wenn er nicht zuvor beide Seiten gehört hat. Nur so ist Wahrheitsfindung möglich. Nur so kann der Richter zwischen streitenden Parteien Recht und Frieden schaffen. Muß das, was im Zivilprozeß gilt, nicht auch und erst recht in der Politik gelten, wenn sie für den Frieden zwischen den Völkern sorgen will?

Keine Aufgabe des Journalisten, vor allem in Spannungszeiten, ist wichtiger als die direkte Information über die Gegenseite, damit wir alle, das Volk, der Souverän der Demokratie, uns ein realistisches Bild machen können. Aber gerade dies Wichtigste ist leider am wenigsten selbstverständlich, und gerade dazu gehört der Mut, gehört die Tapferkeit, die Konsequenz des entschiedenen Aufklärers, die uns Uri Avnery seit Jahrzehnten vorlebt.

Wenn die jeweils andere Seite, wenn also zum Beispiel Arafat in Israel zu Wort kommen würde, dann wäre es möglich, gemeinsame Interessen zu erkennen, Ansatzpunkte für Friedensbemühungen, für Verständigung. Wer gegenseitige Wahrnehmung, Austausch von Informationen und Meinungen sabotiert, macht Verständigung unmöglich. Friede ist dann nur noch auf eine Art möglich: als Sieg-Friede, als Unterwerfung der anderen Seite.

Zur schaurigen Realität so vorbereiteter Kriege gehört auch, daß deren Opfer, es seien denn eigene, nicht wahrgenommen werden. Wir haben ja zum Beipiel in den vergangenen Monaten hier in Deutschland fast nichts über die Opfer der Bombardements in Afghanistan erfahren - als gäbe es sie gar nicht.

Uri Avnery dagegen hat gerade auch in den vergangenen Tagen und Wochen wieder als Grenzgänger - und es war nicht leicht, auf die andere Seite zu gelangen - anschauliche Berichte über die Folgen der israelischen Kriegführung in Ramallah und Dschenin geliefert.

In einem Bericht vom 20. April aus Dschenin schreibt er über den schrecklichen Leichengestank, der dort überall herrscht, über die Weigerung der israelischen Armee, Journalisten nach den Kämpfen in das Lager einzulassen - offenbar, weil es etwas zu verbergen gab. Er weist darauf hin, daß Sanitäts- und Rettungsdienste während der Kämpfe und nachher mit Waffengewalt ferngehalten wurden, so daß die Verwundeten auf den Straßen verbluteten, auch wenn sie nur relativ leicht verletzt waren, und er spricht in diesem Zusammenhang klipp und klar von einem Kriegsverbrechen - wobei er auch erwähnt, daß mögliche Überlebende unter den Ruinen nicht gerettet werden konnten. Und er klagt die regierungsamtliche Propagandamaschine an, in die sich alle israelischen Medien jetzt freiwillig integriert hätten. Erschütternd sind seine Schilderungen vom 27. April aus Ramallah, wo er sich danach umsah, was die israelische Armee mit ihrem als Verteidigungsmaßnahme getarnten Angriff ("Operation Schutzwall") getan hatte, um die "Infrastruktur des Terrorismus zu zerstören", wie die offizielle Zielsetzung lautete.

Avnery besuchte die palästinensischen Ministerien, z.B. das Erziehungsministerium, und fand, wie er schreibt, totale Zerstörung. Die Computer waren weggenommen und auf den Boden geworfen worden, Papiere zerstreut, Telefone demoliert, das Geld aus dem Safe gestohlen, die Möbel umgeworfen. Bei genauerem Hinsehen fiel ihm auf, daß die Datenspeicher entwendet waren: Schülerlisten, Prüfungsergebnisse, Lehrerlisten, alle wichtigen Angaben über das palästinensische Schulsystem. Das gleiche stellte er im Gesundheitsministerium fest, wo die dort zentral verwalteten Informationen über Krankheiten, medizinische Tests, Listen von Ärzten und Pflegepersonal fehlten. Er schlußfolgert: Die Operation richtete sich nicht gegen Terrorismus, ihr Ziel war die Zerstörung des palästinensischen Gemeinwesens.

Meine Damen und Herren, die Wahrheit über den Krieg, über jeden Krieg muß verbreitet werden, auch und gerade die Wahrheit über das, was die Armee des eigenen Staates oder die Streitkräfte befreundeter Staaten anrichten. Greuelgeschichten über die Gegenseite sind wohlfeil.

Auch und gerade Sorge um Israel, auch und gerade Entsetzen über die Selbstmordattentate palästinensischer Jugendlicher gebieten es, auf die Friedensbewegung in Israel zu hören, auf den sogenannten Friedensblock, Gusch Schalom, dessen Sprecher Uri Averny ist. Er prangert nicht nur an, er leistet auch praktische Hilfe für Kriegsopfer, und er weist einen friedlichen Weg zum Frieden in Nahost - während Scharon suggeriert, es gebe nur einen militärischen Weg.

Wer als Deutscher besondere Sorge oder auch Mitverantwortung für das Wohl der Menschen in Israel empfindet, sollte vor allem auf gründliche Information über die dortigen Probleme und Konflikte bedacht sein; denn wer nicht oder nur einseitig informiert ist, kann nicht sinnvoll mitreden oder gar raten oder zweckmäßig helfen. Ich empfehle besonders, den von Gusch Schalom vorgelegten Friedensvertragsentwurf und die erläuternden 80 Thesen(sie waren einmal in der "Frankfurter Rundschau" dokumentiert) zur Kenntnis zu nehmen, zu verbreiten und zu diskutieren. Das gilt auch für aktuelle Texte Uri Avnerys und seiner Freunde, die man sich aus dem Internet holen kann.

Uri Avnery zu ehren, darf nicht bedeuten, ihm jovial auf die Schulter zu klopfen und sich dann wieder den üblichen Geschäften zuzuwenden. Ich meine, wir müssen ihn unterstützen, und dafür gibt es manche Möglichkeiten.

Die bundesdeutsche Politik hat mit großen Summen dazu beigetragen, die israelische Armee aufzurüsten; sie hat - schon in Zeiten der engen Zusammenarbeit von Schimon Peres und Franz Josef Strauß - auch zu dem Programm beigetragen, das Israel zur Atommacht gemacht hat. Solche Hilfe für Israel galt lange Zeit als die deutsche Wiedergutmachung, während zum Beispiel die vielen Millionen ehemaliger Zwangsarbeiter und andere Opfer ohne sogenannte Entschädigung blieben. Deutsche Waffen wurden bis in die letzte Zeit hinein nach Israel geliefert. Jetzt sollte alles geschehen, den Israelis und den Palästinensern eine politische Lösung zu erleichtern. Solche Hilfe wäre die beste Ehrung für Uri Avnerys bewundernswertes Engagement.

Seit Jahrzehnten liegen eindeutige Resolutionen der Vereinten Nationen vor. Deutschland könnte und sollte darauf hinwirken, daß die UNO gestärkt wird - womit ich nicht etwa den Anspruch auf einen ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat meine. Notwendig ist, daß das Völkerecht respektiert wird, daß die UNO und das Völkerrecht nicht zum Gespött gemacht werden wie dieser Tage, als Scharon einer Untersuchungskommission der Vereinten Nationen den Zugang nach Dschenin verweigerte.

Kann man eigentlich heute nach mehr als fünf Jahrzehnten des aufklärerischen friedenspolitischen Wirkens unsres Preisträgers angesichts der Nachrichten aus Ramallah, Dschenin, Bethlehem von Erfolg sprechen?

Kann man davon sprechen, daß Carl von Ossietzky Erfolg hatte?

In diesen Tagen ist es 70 Jahre her, daß Carl von Ossietzky nach dem schaurigen Urteil des Reichgerichts seine Haftstrafe in Berlin-Tegel antrat. In der "Weltbühne" vom 10. Mai 1932 schrieb er: "Ich gehe nicht aus Gründen der Loyalität ins Gefängnis, sondern weil ich als Eingesperrter am unbequemsten bin." Mit seiner ganzen Person stellte sich Ossietzky den Institutionen der Republik entgegen, die die Republik verrieten - um so seinen Kampf für die Wahrheit fortzusetzen, für das Recht, die Wahrheit zu verbreiten, für die Informations- und Meinungsfreiheit, für das Öffentlichkeitsprinzip, das republikanische Grundprinzip der Demokratie, seinen Kampf gegen geheime völkerrechtswidrige Aufrüstung, gegen die Militarisierung des Staates und der Gesellschaft. An dem Tag, als er aufgrund des höchstrichterlichen Landesverratsurteils ins Gefängnis ging, hieß es selbstbewußt in seinem "Weltbühne"-Abschiedsartikel, er habe immer den eigenen Blick und die eigene Haltung gewahrt. Das könnte auch Uri Avnery über sich sagen.

Der langjährige Oldenburger Kulturdezernent und Mentor des Carl-von-Ossietzky-Preises, Eckhard Seeber, hat einmal geschrieben: "Der Preis soll Impulse für die Entwicklung unserer demokratischen Gesellschaft geben." Ich meine, von dem vorbildlichen Leben und Handeln des Aufklärers Uri Avnery können, müssen und werden starke Impulse ausgehen - wenn wir sie auf-nehmen und dadurch zum Wirken bringen.

Ich kenne niemanden, der ähnlich beharrlich wie Uri Avnery seit nunmehr über 50 Jahren in dem geschilderten Sinne Aufklärung leistet, also das, was Journalismus überhaupt vordringlich leisten sollte. Immer wieder hat er auf die andere Seite der Medaille hingewiesen, um noch einmal den Titel eines seiner Bücher zu zitieren. Der Titel eines anderen lautet provozierend: "Mein Freund, der Feind". Übrigens sind bisher nicht alle seine Bücher auf Deutsch erschienen, darunter ausgerechnet auch sein Buch "Swastika", in dem er die Frage behandelt, wie es im hochentwickelten Deutschland zum barbarischsten Regime hat kommen können.

Wie Ossietzky ist Avnery ein Vorbild an Mut und Tapferkeit - Tugenden, die Militärs so gerne für sich in Anspruch nehmen, meistens zu Unrecht, die aber in starkem Maße gerade der zivile Friedenskämpfer braucht, wenn er militärischer Borniertheit, Herrschaftsansprüchen und Propaganda entgegentritt.

Frau Rachel Avnery erzählte mir gestern, in der vergangenen Woche seien in Tel Aviv alle vier Reifen seines Autos zerstochen worden; auf ihn selbst seien mehrmals Männer mit Messern losgegangen. Mir wurde dabei klar, daß wir in die heutige Ehrung auch Rachel Avnery einbeziehen müssen, die wie er als Kind mit ihrer Familie Deutschland verlassen mußte, seit 50 Jahren klug an seiner Seite mitwirkt und mit ihm solche Bedrohungen erdulden muß.

Immer wieder habe ich von Menschen, die ihm begegnet waren, die ruhige, freundliche, überzeugende Art rühmen hören, wie er argumentiert, seine klare, knappe, anschauliche Sprache, die vor allem den Fakten vertraut und sie für sich selber sprechen läßt. So habe ich ihn gestern auch in der hiesigen Cäcilienschule vor Oberstufenschülerinnen und Schülern mehrerer Oldenburger Gymnasien erlebt. Sie haben anderthalb Stunden gebannt zugehört, viel von ihm gelernt und ihn mit langem Beifall verabschiedet. Ich freue mich, daß wir auch heute abend gleich nach der Preisverleihung Uri Avnery werden hören dürfen.