Urteils- und andere Kräfte

von Eckart Spoo, Ossietzky 4/2002

Ossietzky erreicht alle 14 Tage wenige Tausende Leserinnen und Leser; Bild täglich viele Millionen. Als wäre das Springer-Blatt so viel besser, informativer.

An einem schönen Februartag verkündete es in seiner Schlagzeile: »Uschi Glas: Mein Mann lügt«. Die Öffentlichkeit erfuhr die Wahrheit. Zweitwichtigstes Ereignis des Tages: »Eichel muß noch mehr sparen«. Das brave Volk bedauerte den armen Finanzminister.

Wie viele Lügen in einer einzigen Schlagzeile versteckt sein können. Wie wirkungsvoll Bild allein mit dem unscheinbaren Wörtchen »muß« immer wieder unseren lieben Mitmenschen die Köpfe verdreht. Und »sparen« – welch eine Täuschung aus der Tugend geworden ist.

An den Gemeinschaftseinrichtungen, den Sozialausgaben soll also noch mehr weggekürzt werden. Aber Bild kämpfte und erreichte innerhalb weniger Tage, was es dann als Hauptüberschrift in der Berliner Ausgabe zum Sonntag verkündete: »Schily rettet unsere Berliner Polizeipferde«. Die werden nämlich dringend gebraucht, um auch künftig am 1. Mai oder bei ähnlichen Gelegenheiten Demonstranten in Panik zu versetzen. An Militär und Geheimdienst und dergleichen heiligsten Gütern darf nicht »gespart« werden. Dafür kämpft Bild und mit ihm die vereinte Konzern- und Monopolpresse.

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»Urteilskraft«, sagte der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr dieser Tage in seiner Abschiedsvorlesung an der Freien (?) Universität Berlin, »Urteilskraft zeichnet sich vor allem aus durch Phantasie der Urteilenden für Anderes, für Andere wie für sich selbst; sie zeichnet sich aus durch ein Verfahren, das beide, sich und andere, an sich selber ernst nimmt.«

Aber wen nehmen diese Medien ernst? Und wie soll ein Volk, das mit ihnen geschlagen ist, Urteilskraft entwickeln? Wie soll es sich zum Beispiel durch das geheimdienstliche Dickicht hindurchfinden, das den Weg zum NPD-Verbot versperrt? Nur äußerster Argwohn – das ist jedenfalls meine Erfahrung – kann da zur Wahrheit führen.

Ich erinnere mich an ein Gerichtsverfahren in Braunschweig. Eine Gruppe war wegen neonazistischer Aktivitäten angeklagt. Durch Zufall kam heraus, daß der Angeklagte L., der im Gerichtssaal auf einem der hinteren Stühle saß, ein V-Mann des Verfassungsschutzamtes war. In der Wohnung dieses NPD-Manns war die Gruppe gegründet worden, er hatte neonazistische Hetzschriften und Sprengstoff für den Bau von Bomben besorgt, er hatte auch den Kontakt mit einem Bombenbau-Experten hergestellt, und so hatte L. diejenigen, die jetzt Haupt- und Mitangeklagte waren, zu Taten bewogen, die sonst sicher ungetan geblieben wären. Die Gruppe hatte zwei Bombenanschläge begangen, die in der Öffentlichkeit prompt »linken Terroristen« angelastet worden waren. L. wurde zwar mitverurteilt, aber der niedersächsische Innenminister bewog den Bundespräsidenten, ihn zu begnadigen. – Vergangenheit und Gegenwart sind reich an solchen Erfahrungen. Wer vermittelt sie? (Apropos: Den Geheimdienst aufzulösen, wäre m. E. ein wirksamer Schlag gegen den Neonazismus.)

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Es ist das alltägliche Geschäft der gewöhnlichen bundesdeutschen Massenmedien, »die Phantasie der Urteilenden für Anderes, für Andere« zu unterdrücken. Vor allem in den Kriegen, die für uns zum Normalzustand werden.

Zu Beginn des Krieges gegen die Taliban wurden deren Radiosender zerbombt. Der, den sich die Supermacht als Feind aussucht, muß sofort mundtot gemacht werden. Damit er den Kriegslügen nicht widersprechen kann. Damit die Schreie der Opfer ungehört bleiben.

Systematisch unterdrückte die NATO-Propaganda im Krieg gegen Jugoslawien alle Beweise für das, was wirklich geschah. Eifrige journalistische Mittäter fanden sich immer – nicht nur in der Bild-Zeitung. Ein besonders gelungenes Stück Irreführung begegnete mir in der Frankfurter Rundschau, für die ich selber jahrelang gearbeitet habe. Deren Balkan-Korrespondent Stephan Israel, dem ich längst kein Wort mehr glaube, berichtete aus der jugoslawischen Stadt Kragujevac auf mehreren Spalten allerlei Unwichtiges und schwer Überprüfbares; zwei Dinge ließ er unerwähnt: daß diese Stadt im zweiten Weltkrieg Schauplatz des größten Massakers der Deutschen auf dem Balkan gewesen war und daß die NATO hier die Zastava-Werke zerbombt hatte, das größte Industriewerk des Landes, von dem die Bevölkerung nicht nur der Stadt Kragujevac abhängig ist. Solche Einzelheiten passen eben nicht in das Propagandabild vom bösen Milosevic, der an allem, auch am Angriffskrieg der NATO schuld gewesen sein soll.

Jahrelang kam Milosevic in der freien Presse der freien Welt nicht zu Wort. Nur seine Rede auf dem Amselfeld aus dem Jahre 1989 wurde gelegentlich erwähnt, aber so sinnentstellend, daß sich in hiesigen Köpfen das Gegenteil dessen festsetzte, was er gesagt hatte.

Nichts ist in Kriegszeiten so wichtig, so kostbar wie die Wahrheit über die andere Seite. Und nie kann ein gerechtes Urteil zustande kommen, wenn nicht beide Seiten gehört worden sind. Aber als im vergangenen Herbst Taliban-Sprecher Mullah Omar einmal kurz in einem US-amerikanischen Fernsehsender zu Wort kommen sollte, intervenierte die Regierung, erfolgreich. Und beim Prozeß in den Haag gegen Milosevic klinken sich die meisten Medien aus – jedenfalls jetzt, da der Angeklagte spricht. Sie halten nicht aus, was er sagt, denn er widerlegt Punkt für Punkt die Lügen, die sie verbreitet haben.

Nach dem Krieg hatte es mehr als anderthalb Jahre gedauert, bis im Ersten Programm die WDR- Dokumentation »Es begann mit einer Lüge« gezeigt werden konnte. Nicht nur eine – etliche Lügen wurden darin benannt (denen Ossietzky schon während des Krieges widersprochen hatte); Minister Scharping, zur Stellungnahme aufgefordert, stammelte. Milosevic präsentierte diesen Film als Beweismittel. Woraufhin die bayerische Staatskanzlei den WDR-Intendanten zu »schonungslosen Aufklärung, Benennung der Verantwortlichen und zu einer Entschuldigung« aufforderte. – Entschuldigung also dafür, daß trotz aller Propaganda und Zensur doch einmal die Wahrheit zum Vorschein gekommen war.

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»(Selbst-)Kritik ist allemal, wie Majakowski einmal sagte, die Universalarzenei. Unterscheiden zuerst. Und dauernd, wie Sokrates, die Stechmücke der Athener, fragen und bohren. Die immer erneut geübte Kritik ist das Band, das politische Urteilskraft vor Flachsinn wie vor selbst dem bestgemeinten Dogmatismus bewahrt. Die davon weiß, daß nichts gewiß ist und nichts gewiß sein kann. Die also weitertreibt. Die Unruhe, die allein politische Urteilskraft lebendig und plural hält. Jedoch so, daß das Ziel und der lebendige Prozeß politischer Urteilskraft in Gang bleiben« – sagte Wolf-Dieter Narr in seiner Abschiedsvorlesung. Ja. Wir dürfen nur die Kräfte nicht außer acht lassen, die diesen Prozeß blockieren.