Ausweitung der Kampfzone
Afghanistan: Die NATO steigt immer mehr in den Krieg ein
Von Knut Mellenthin
junge Welt, 22. April 2006
Seit über vier Jahren muß Deutschlands Freiheit auch am Hindukusch
verteidigt werden. Der Entdecker dieser Notwendigkeit war der frühere
Verteidigungsminister Peter Struck (SPD). Er hatte keine erkennbaren
Schwierigkeiten, fast den gesamten Bundestag und 99,9 Prozent der
deutschen Journalisten von seiner These zu überzeugen. Die »rot-grünen«
Regierungsjahre haben wie eine Dampfwalze fast alles platt gemacht, was
vor 15 Jahren selbst von christdemokratischen Politikern noch an
Einwänden gegen internationale Bundeswehreinsätze zu vernehmen war. Daß
deutsche Soldaten an die entlegensten Plätze der Welt »entsandt«
werden, ist alltäglich geworden.
Am 28. September vorigen Jahres hatte der Bundestag den
alljährlichen Antrag zur »Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer internationalen
Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan« abzunicken. 535
Abgeordnete stimmten mit Ja, nur 14 votierten dagegen; außerdem gab es
vier Enthaltungen. Neben den damals nur zwei PDS-Abgeordneten, Gesine
Lötzsch und Petra Pau, hatten unter anderem auch drei Vertreter der
CDU/CSU, fünf von der FDP und genau ein SPD-Mann gegen den Antrag
gestimmt. Aus der Fraktion der Grünen, die vor Jahren unter dem Motto
»Gewaltfrei« angetreten waren, hatten sich nur zwei Abgeordnete zu
einem Nein durchgerungen: Winfried Hermann und Hans-Christian Ströbele.
Die vierzehnte Gegenstimme kam von dem fraktionslosen Abgeordneten
Martin Hohmann, ehemals CDU.
Der Bundestag hatte am 28. September 2005 nicht nur über eine
routinemäßige Verlängerung der Stationierung um ein weiteres Jahr
abzustimmen, sondern auch über eine Erhöhung der Truppenstärke von 2200
auf bis zu 3000 Bundeswehrsoldaten und eine entscheidende Ausweitung
ihres Auftrags: Sie können jetzt ohne räumliche Beschränkung
ausnahmslos überall in Afghanistan eingesetzt werden. Nicht nur im
ruhigen Norden, sondern auch in den südöstlichen Provinzen, wo es fast
täglich Kämpfe mit Aufständischen gibt. Und, zwangsläufig damit
verbunden: Deutschland beteiligt sich an der schleichenden Änderung des
Mandats der ISAF (International Security Assistance Force): weg vom
bloßen »Peacekeeping«, hin zu »robusten« Kampfeinsätzen.
Die ISAF-Mission verschmilzt dadurch noch stärker mit dem auf
mehrere Jahrzehnte angelegten strategischen »Weltkrieg« der USA gegen
die moslemischen Staaten. Daß Nordamerika und Europa von immer mehr
Moslems als aggressive Tätergemeinschaft wahrgenommen werden, wie sich
zuletzt bei den Demonstrationen gegen die Veröffentlichung der
Mohammed-Karikaturen zeigte, entspricht zum einen der politischen
Wirklichkeit. Es entspricht aber auch der Absicht der führenden
»Weltkriegs«-Strategen: Sie wollen die jetzt noch schwankenden
europäischen Verbündeten endgültig auf ihren Kurs zwingen. Damit sollen
den unsicheren Kantonisten zugleich auch die Möglichkeiten
opportunistischer Sonderwege abgeschnitten werden. Praktisch beim Krieg
mithelfen, aber sich verbal raushalten oder sogar ein bißchen
rumstänkern, wie es Deutschland unter Schröder/Fischer betrieben hat,
soll künftig nicht mehr möglich sein.
Wie meist fing alles scheinbar ganz harmlos an. Nach der
Besetzung Afghanistans durch US-amerikanische Streitkräfte beschloß der
UNO-Sicherheitsrat am 20. Dezember 2001 »die Einrichtung einer
internationalen Sicherheitsbeistandstruppe (ISAF) für einen Zeitraum
von sechs Monaten, um die afghanische Interimsbehörde bei der
Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner Umgebung zu
unterstützen«.
Am 22. Dezember 2001 stimmte der Bundestag der Beteiligung
Deutschlands an der ISAF zu. Die Bundeswehr stellte von Anfang an das
stärkste Kontingent. (Demnächst wird es Großbritannien sein.) Von
anfänglich etwa 5000 Soldaten wuchs ISAF auf 9000, und die Zahl der
beteiligten Staaten nahm zu.
Getrennt von ISAF agieren in Afghanistan die Streitkräfte der
Operation Enduring Freedom (OEF): ungefähr 16000 Amerikaner und 2000
weitere Soldaten, mehrheitlich Kanadier. Die Bundeswehr beteiligt sich
an OEF mit etwa 100 Mann des Kommandos Spezialkräfte (KSK). Was sie
dort tun, unterliegt strikter Geheimhaltung, angeblich zu ihrem Schutz,
tatsächlich aber offenbar, weil einige ihrer Aktivitäten nicht
vorzeigbar sind.
Derzeit leisten alle 26 NATO-Mitglieder und zehn weitere
Länder in irgendeiner Form einen militärischen Beitrag zur ISAF. »Nicht
siegen ist wichtig, sondern dabeisein«, lautet die von Olympia
entlehnte Devise. Auch Kleinstbeiträge wie die Österreichs (drei
Offiziere), der Schweiz (ein Militärarzt und drei Offiziere) oder
Polens (fünf Offiziere) fallen ins Gewicht. Von 26 NATO-Staaten
stellten bis vor kurzem nur 13 Kontingente, die mehr als 100
Militärpersonen umfaßten. Gefragt ist nicht militärische Effektivität,
sondern das Propagandabild der Geschlossenheit des Bündnisses. Daneben
sollte auch der Übungswert der über Jahre dauernden Koordination von
Militärs aus so vielen Ländern nicht unterschätzt werden.
ISAF hat zwar ein alljährlich erneuertes Mandat des
UNO-Sicherheitsrats, ist aber keine UNO-Blauhelmtruppe. Seit August
2003 untersteht ISAF offiziell der NATO. Dadurch wurde Afghanistan zum
ersten Einsatzplatz der NATO außerhalb ihres Bündnisgebietes. Rußland
und China hatten anscheinend keine Probleme, auch unter dieser
geänderten Voraussetzung in den Jahren 2003, 2004 und 2005 nicht nur
der Verlängerung des ISAF-Mandats, sondern auch alle drei Male einer
Ausweitung des Einsatzgebiets zuzustimmen.
Am 13. Oktober 2003 beschloß der UNO-Sicherheitsrat erstmalig
die Ausdehnung des bisher auf Kabul »und Umgebung« beschränkten
Mandatsgebiets. Zunächst betraf das praktisch nur die Bundeswehr, die
in der nördlichen Provinz Kundus ein sogenanntes Provincial
Reconstruction Team (PRT) aufbauen sollte. Zu diesem Zweck sollten aus
Kabul bis zu 450 deutsche Soldaten abgezogen werden können. Der
Bundestag erteilte am 24. Oktober 2003 seine Zustimmung.
Ihrem Auftrag nach sollen die PRTs militärische
Sicherungsaufgaben mit der »Unterstützung des wirtschaftlichen,
politischen und sozialen Wiederaufbauprozesses« verbinden. Deshalb
gehören jedem PRT neben ungefähr 300 bis 400 Soldaten auch einige
Verwaltungsbeamte, Polizisten, Techniker und andere Zivilpersonen an.
Die US-Streitkräfte hatten zuvor schon mehrere PRTs aufgebaut. Kundus
war die erste Provinz, die von den Amerikanern an ein anderes NATO-Land
übergeben wurde. Ab Juli 2004 baute die Bundeswehr in Feysabad ein
zweites PRT auf, das für die nordöstlichste Provinz, Badachschan,
zuständig ist.
»Sicheres Umfeld«
Die Bundesregierung hatte sich damit bei der voraussehbaren
Aufteilung des Landes in die Zuständigkeit einzelner ISAF-Teilnehmer
von vornherein den bequemsten, ungefährlichsten Part gesichert. Auch
das wieder ganz in der »rot-grünen« Tradition. Der Nordosten stand bis
zum US-amerikanischen Überfall im Oktober 2001 auf Afghanistan unter
Kontrolle der Nordallianz, zu der USA und EU schon vorher enge
Beziehungen unterhielten. Die Taliban hatten hier nie eine nennenswerte
Rolle gespielt. Aufstandstätigkeit scheint es in dieser Region bis
heute nicht zu geben, auch wenn es in der Provinz Kundus vor zwei
Wochen einen Anschlag auf eine deutsche Patrouille gab.
Laut offiziellem Auftrag soll ein PRT in seinem
Zuständigkeitsbereich »zusammen mit den regionalen Sicherheitskräften
und Behörden für ein stabiles und sicheres Umfeld sorgen«. Was dies
angeht, sind in jeder Bundestagsdebatte zum Thema wahre Wunderdinge
über das segensreiche Wirken unserer tapferen Soldaten zu hören.
Zugleich wird in düsteren Farben ausgemalt, was passieren würde, falls
die Bundeswehr abzieht: Talibane und Drogenbarone würden die Macht
übernehmen. Alles, was an großartigem Fortschritt unter der
Schutzherrschaft der ISAF erreicht wurde, würde sofort »zusammenbrechen
wie ein Kartenhaus«, wenn die Deutschen gehen. So wörtlich der
Grünen-Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtweih.
Nachtweih will auch mit eigenen Augen beobachtet haben, »wie
ISAF ihre nach militärischen Maßstäben relative Schwäche (90 Soldaten
auf den Straßen eines chaotischen 500000-Menschen-Stadtteils von
Kabul!) durch kluges Agieren in politische Stärke verwandelt« und für
Ruhe und Ordnung sorgt. Wie man aus den Bundestagsprotokollen sehen
kann, toben nicht nur in Nachtweihs Kopf Wahnvorstellungen aus der
Kolonialzeit, als angeblich eine Handvoll weißer Herrenmenschen kraft
ihrer Klugheit und natürlichen Autorität Hunderttausende Eingeborene
zur Räson brachte.
Die Wirklichkeit sieht offenbar anders aus. Nehmen wir als
Beispiel die Provinz Badachschan, für die seit knapp zwei Jahren ein
von der Bundeswehr geführtes PRT zuständig ist. Das Gebiet ist größer
als das Bundesland Nordrhein-Westfalen, überwiegend hochgebirgig,
verkehrsmäßig kaum erschlossen, hat über eine Million Einwohner. Der
Gedanke, dort mit 300 deutschen Soldaten »ein sicheres Umfeld zu
schaffen«, ist völlig absurd – entweder größenwahnsinnig oder einfach
nur verlogen.
Tatsächlich funktioniert nicht nur die deutsche Präsenz in
Kabul und Nordostafghanistan, sondern die gesamte ISAF und darüber
hinaus zu weiten Teilen auch das amerikanische Besatzungsregime in
erster Linie nach den uralten Prinzipien von »Leben und leben lassen«.
Die Drogenbauern und Drogenhändler läßt man ebenso in Ruhe wie die
lokalen Warlords, die immer noch große Macht haben, und die
rivalisierenden Clans, deren Mitglieder nach wie vor gut bewaffnet
sind. Badachschan ist, neben der Provinz Helmand im Süden, das größte
Mohnanbaugebiet des Landes. Die Drogenproduktion, die von den Taliban
vor der US-Invasion auf ein Minimum eingeschränkt worden war, macht
heute fast zwei Drittel des afghanischen Bruttosozialprodukts aus.
Afghanistan produziert unter dem NATO-Protektorat fast 90 Prozent des
Heroins, das auf den Weltmarkt gelangt.
»Die Bundeswehr sorgt dafür, daß die afghanischen Mädchen
jetzt zur Schule gehen können«, trumpfen Bundestagsabgeordnete auf, als
handele es sich um ihr ganz persönliches Verdienst. Tatsache ist, daß
Hunderte Schulen von Rebellen abgebrannt, viele Lehrerinnen und Lehrer
ermordet wurden. Und wie will die Bundeswehr lokale Machthaber zwingen,
die einfach tausend Ausreden erfinden, warum in nächster Zeit keine
Mädchenschule gebaut werden kann? Offensichtlich handelt es sich
jedenfalls nicht um Probleme, zu deren Lösung Soldaten wertvolle
Beiträge leisten können.
Vorrücken an die iranische Grenze
Im Februar 2005 beschlossen die NATO-Verteidigungsminister, den
ISAF-Einsatz auch auf den Westen Afghanistans auszudehnen. Neben den
mittlerweile fünf PRT im Norden wurden im Verlauf des vorigen Jahres
vier weitere im Westen gebildet. Führend sind dabei die italienischen
Streitkräfte, die ein PRT und ein Hauptquartier in der an den Iran
grenzenden Provinz Herat aufbauten. Auch der Westen Afghanistans gilt
nach NATO-Maßstäben als »weitgehend ruhig«. In Herat sind inzwischen
auch einige Bundeswehrsoldaten stationiert, die dem italienisch
geführten PRT unterstehen.
Als problematisch wird allgemein die Stufe drei des
Ausweitungsplans, die Übernahme der Südregion durch die ISAF,
angesehen. Dort gibt es in mehreren an Pakistan grenzenden
paschtunischen Provinzen (Helmand, Kandahar, Zabul) eine starke
Aufstandstätigkeit. Die Übergabe an die ISAF sollte nach den
ursprünglichen Plänen schon im vorigen Jahr weitgehend abgeschlossen
werden, hat aber erst 2006 begonnen. Die Schwierigkeiten lagen zu
erheblichen Teilen in den Widersprüchen zwischen den NATO-Staaten
begründet. Die US-Regierung würde am liebsten die Zuständigkeit der
ISAF (und damit auch der NATO) schnellstens auf das ganze Land
ausweiten. Damit würden auch die im Rahmen der Operation Enduring
Freedom agierenden US-Streitkräfte (derzeit etwa 16000 Mann) Teil von
ISAF. OEF und ISAF würden unter einem gemeinsamen Kommando
verschmelzen. Die Folge wäre eine grundlegende Veränderung des Auftrags
der ISAF, hin zu Kampfeinsätzen, einschließlich der von den USA
praktizierten wahllosen Luftangriffe, um die Bevölkerung von jeder
Zusammenarbeit mit Aufständischen abzuschrecken.
Das würde vor allem die verlogene deutsche Taktik, sich
gegenüber der afghanischen Bevölkerung und generell gegenüber der
moslemischen Welt als die scheinbar »Guten« darzustellen, durchkreuzen.
Deutschland hat daher, neben Frankreich, dem Plan der US-Regierung am
schärfsten widersprochen. »Da gibt es von uns ein klares Nein«, sagte
Struck während der NATO-Beratungen im Dezember vergangenen Jahres. »Das
würde die Gefährdungslage für unsere Soldaten verdoppeln und auch das
Klima in Afghanistan verschlechtern.«
Gleichzeitig setzte sich der damalige Verteidigungsminister
aber für eine »Verstärkung der Synergieeffekte« zwischen ISAF und OEF
ein. Alle maßgeblichen deutschen Politiker gehen, wie in den
Bundestagsdebatten deutlich wurde, davon aus, daß die ISAF ohne die
Rückendeckung der US-Streitkräfte und deren Luftwaffe ihre Mission
abbrechen müßte. Deutsche Politiker handeln wie jemand, der zwar die
Todesstrafe für sinnvoll hält, aber nicht gern mit dem Henker zusammen
gesehen werden möchte. Dabei ist Deutschland seit November 2001 auch an
der OEF beteiligt, was das Theater doppelt heuchlerisch macht.
Geeinigt hat man sich nun auf die Aufteilung Afghanistans in
fünf Regionen: Der Norden unter deutscher Führung, der Westen unter
italienischer, der Süden unter britischer, Kabul und Umgebung unter
französischer Verantwortung; im Osten bleiben bis auf weiteres die
US-Streitkräfte im Rahmen der OEF zuständig. Die ISAF wird um rund 6000
Soldaten verstärkt, von 9000 auf 15000. Den Hauptteil der zusätzlichen
Truppen stellen Großbritannien und die Niederlande. In beiden Ländern
gab es monatelangen politischen Streit um den künftigen Auftrag ihrer
Soldaten. Weithin wird befürchtet, daß durch den Einsatz von ISAF in
Aufstandsgebieten sich auch deren tatsächlicher Auftrag ändern wird.
Offiziell wird das bestritten. Aber hier wird zumindest die Macht des
Faktischen wohl das Ihre tun. Das würde bedeuten, daß die ISAF-Truppen
sowohl ihre »Rules of engagement« (Einsatzvorschriften) als auch ihre
Bewaffnung der veränderten Gefahrenlage anpassen müßten. Zumal aufgrund
der neuen Beschlußlage jede ISAF-Einheit in jedem Teil Afghanistans
eingesetzt werden könnte. Und der amerikanische Plan, noch im Lauf
dieses Jahres auch die Ostregion unter die Zuständigkeit der ISAF zu
stellen, ist nicht vom Tisch.
Hintergrund ist, daß vor allem im Süden und Osten Afghanistans
die Aufstandstätigkeit seit 2005 stark zugenommen hat. Die US-Truppen
hatten im vergangenen Jahr 99 Tote zu beklagen, fast doppelt so viele
wie 2004 (52). In der ersten Kriegsphase im Herbst/Winter 2001 starben
lediglich zwölf US-Soldaten. In den paschtunischen Gebieten nimmt
Medienberichten zufolge die Unterstützung der Aufständischen durch
Teile der Bevölkerung zu. Die 2430 Kilometer lange Grenze zu Pakistan
ist heute schon fast vollständig auf beiden Seiten Kampfgebiet. Ein
Übergreifen des Krieges auf Pakistan zeichnet sich ab. Die 936
Kilometer lange Grenze zum Iran wird gleichfalls Kampfgebiet werden,
wenn die US-Regierung ihre Kriegspläne wahr macht. Afghanistan droht,
Hinterland des US-Krieges gegen Iran zu werden. Die Zeit, in der
Deutschland gleichzeitig mitspielen und sich raushalten konnte, geht
ihrem Ende entgegen.