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Kurz vor dem Atomkrieg

Die Aufklärung des NATO-Manövers »Able Archer«: Wie die HVA, der Auslandsnachrichtendienst der DDR, dazu beitrug, den Kalten Krieg kalt zu halten

Von Rainer Rupp
22.11.2007 / Thema / Seite 10
Heute als Museumsstück zu besichtigen – Interkontinentalrakete d
Heute als Museumsstück zu besichtigen – Interkontinentalrakete der USA
junge Welt-Autor Rainer Rupp arbeitete von 1977 bis 1993 in der Politischen Abteilung im NATO-Hauptquartier in Brüssel. Wegen seiner Tätigkeit für den DDR-Auslandsnachrichtendienst HVA unter dem Decknamen »Topas« wurde er 1994 vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Wir dokumentieren Auszüge aus seinem Referat, das er amWochenende auf Einladung des Zentrums für Studien des Kalten Krieges der süddänischen Universität Odense auf der Konferenz »Hauptverwaltung Aufklärung. Geschichte – Aufgaben – Einsichten« hielt.

In keinem seriösen politisch-wissenschaftlichen Diskurs käme jemand auf den Gedanken, den Auslandsnachrichtendienst bzw. die Spionageabwehr eines souveränen Staates in Frage zu stellen, insbesondere nicht unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Und würde dies doch jemand tun und z.B. die Existenzberechtigung der britischen, dänischen, spanischen oder polnischen Geheimdienste grundsätzlich anzweifeln, dann würde zu Recht an seinem Menschenverstand gezweifelt. Dennoch passiert genau dies seit 17 Jahren im wiedervereinten Deutschland mit den Geheimdiensten der DDR. Dabei werden die Vorwürfe immer grotesker; schlimmer als zu den kältesten Zeiten des Kalten Kriegs.

Ausgerechnet die reaktionärsten Kreise in diesem Land, die Kriege von deutschem Boden aus wieder möglich gemacht haben, ausgerechnet diese Kreise haben es sich zum politischen Ziel gesetzt, den Auslandsnachrichtendienst der DDR, die HVA, zu delegitimieren, zu verhöhnen und zu kriminalisieren. Daß ihnen das bisher nicht so ganz gelungen ist, hat auch damit zu tun, daß der HVA selbst von ehemaligen Gegnern Respekt gezollt wird, nicht nur wegen ihrer außerordentlichen Effizienz und großen Professionalität, sondern auch wegen ihrer Erfolge bei der Sicherung des Friedens in den gefährlichsten Zeiten des Kalten Krieges.

Ein Beispiel dafür ist Milton Bearden, der u.a. in Deutschland Stationschef der CIA war und später zum Leiter der Sowjet- und Osteuropaabteilung im Hauptquartier des US-Geheimdienstes avancierte. Bei der Internationalen Spionagekonferenz am 7. Mai 2004 in Berlin sagte Bearden, daß es während des Kalten Krieges in brisanten Situationen sowohl auf seiten der USA als auch der Sowjetunion immer wieder zu gefährlichen »Fehleinschätzungen« und »schwerwiegenden Fehlkalkulationen« gekommen ist. »In der Tat ist hier die Frage angebracht, wie sehr das allgemeine Niveau des Verständnisses (des gegenseitigen Wissens), das den Kalten Krieg kalt hielt, durch die von der HVA … gesammelten Erkenntnisse zusätzlich befördert wurde.« Abschließend gestand er auch der HVA zu, nicht nur der DDR, »sondern auch der Sache des Friedens gut gedient« zu haben.

»Did East German Spies Prevent A Nuclear War? – Haben ostdeutsche Spione einen Atomkrieg verhindert?« So lautet der Titel einer Studie des US-Strategen Vojtech Mastny, in der er die hochgefährliche »Ryan«-Krise im Zusammenhang mit dem US-geführten provokativen NATO-Manöver »Able Archer« 1983 untersucht. Er verweist dabei auf die Dokumentation, die zum 20. Jahrestag dieses Manövers auf den Webseiten des Parallel History Project (PHP) veröffentlicht wurden und die von einer »unglaublichen Durchdringung der NATO durch Agenten des Warschauer Vertrags«, aber insbesondere der DDR zeugen. Mastny ist Historiker und außenpolitischer Experte, der u.a. an renommierten US-Universitäten wie Columbia oder der Johns Hopkins School of Advanced International Studies gelehrt hat. Und als Professor für Strategie an der Kriegsakademie der US-Marine ist er auch ganz bestimmt kein Linker oder gar Freund der DDR.

Reagans Erstschlagspläne

Von den fast 30 Ost-West-Krisen im Kalten Krieg wird gemeinhin die Kuba-Krise als die gefährlichste Konfrontation zwischen den Blöcken gesehen. Das ist leicht verständlich, da die Krise in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde und die gesamte Menschheit mit bangte. Die »Ryan«- bzw. »Able Archer«-Krise blieb jedoch nicht nur vor der Öffentlichkeit vollkommen verborgen, auch die meisten Politiker und Militärs erfuhren nichts davon. Dennoch, bei keiner anderen Ost-West-Krise »hat die Welt so nahe vor einem Atomkrieg gestanden, wie bei dem ›Able Archer‹-Vorfall«, schreibt Mastny. Und mit dieser Einschätzung steht er nicht allein, weder in West noch Ost.

Auch der ehemalige Chef der I. Hauptverwaltung (Auslandsaufklärung) des sowjetischen KGB zu jener Zeit, Wladimir Alexandrowitsch Krjutschkow, hatte dies noch im vergangenen Jahr deutlich gemacht, als er zum Themenkomplex »Ryan« für den deutschen Dokumentarfilm »Agenten im Kalten Krieg« interviewt wurde. Dieser Film, der ebenfalls zu dem Schluß kommt, daß Kundschafter der HVA womöglich »den Dritten Weltkrieg verhindert« haben, ist kürzlich auf dem renommierten osteuropäischen Filmfestival in der Kategorie TV-Dokumentation ausgezeichnet worden. In der ARD wurde er kurz vor Mitternacht gezeigt, wenn es kaum noch Zuschauer gibt.

»Ryan« ist das russische Akronym für die Operation »Raketno Yadernoye Napadenie«, was soviel wie »nuklearer Raketenangriff« bedeutet, den die sowjetische Führung ab 1981 – ein Jahr nach Amtsantritt von US-Präsident Ronald Reagan und seiner eiskalten Krieger – jeden Augenblick erwartete. Dafür hatte Moskau gute Gründe, denn unter Reagan wurde die Entspannungspolitik für tot erklärt. Zugleich wurden mit aggressiven Maßnahmen wie dem militärischen Überfall auf die unabhängige Inselrepublik Grenada 1983 die internationalen Beziehungen vergiftet. Eine gigantische Aufrüstung wurde eingeleitet, inklusive SDI (Star Wars), mit dem Ziel die Sowjetunion »tot zu rüsten« und damit das strategische Gleichgewicht zu Gunsten Washingtons zu kippen.

Zugleich prahlten die mit Reagan in Washington an die Macht gekommenen Neokonservativen mit fertig ausgearbeiteten Plänen für den »begrenzten Nuklearkrieg«, der für die USA »führbar und gewinnbar« sei. Schlimmer noch, im Rahmen der sogenannten nuklearen Modernisierung der NATO hatten die Kriegstreiber in Washington die Weichen gestellt, um sich mit Hilfe der Stationierung von Pershing-II-Mittelstreckenraketen in Europa ein vorzügliches Erstschlagspotential für den atomaren Überraschungsangriff auf die zivilen und militärischen Kommando-, Kontroll- und Kommunikationszentren der Sowjetunion zu schaffen.

Hier sei daran erinnert, daß nicht nur die Sowjets über diese Entwicklungen höchst alarmiert waren, sondern auch die europäische Öffentlichkeit. Insbesondere in Westdeutschland gingen damals aus Sorge über einen bevorstehenden Krieg, der nicht nur unser Land, sondern ganz Europa vernichtet hätte, Hunderttausende auf die Straße. Gegen die NATO-Politik machten damals in der BRD insbesondere die Grünen mobil. Sie stellten im April 1981 beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe Strafanzeige gegen die Bundesregierung, in der es u.a. hieß: »Da die neuen US-Waffen … ausschließlich und eindeutig die Eigenschaften von Erstschlagswaffen besitzen, die das bislang herrschende atomare Gleichgewicht durchbrechen, macht sich die deutsche Bundesregierung durch ihre Zustimmung zu diesem Stationierungsbeschluß der Vorbereitung eines Angriffskrieges schuldig.«

Im Rahmen der Operation Ryan, die als die größte Aktion der sowjetischen Aufklärung in Friedenszeiten im April 1981 startete, wurde versucht, möglichst umfassende Erkenntnisse über die Alarm- und Kriegsplanung der NATO und ihre Angriffsvorbereitungen in Erfahrung zu bringen, um auf dieser Basis im Ernstfall rechtzeitig reagieren zu können. Allerdings ging man in Moskau bereits davon aus, daß man aufgrund der in Europa stationierten US-amerikanischen atomaren Präventiv- und Präemptivschlagskapazitäten nur noch fünf bis acht Minuten Vorwarn- bzw. Reaktionszeit hatte. Bereits bei einem Mißverständnis konnte die nukleare Katastrophe drohen, denn die Sowjets waren natürlich nicht bereit, den drohenden amerikanischen Erstschlag einfach zu absorbieren, ohne vorher mit gleicher Münze zurückzuschlagen.

In der KGB-Instruktion Nr. 6282/PR/52 vom 17. Februar 1981 hieß es daher: »Die Tatsache, daß der Feind einen beträchtlichen Teil seiner strategischen Streitkräfte in erhöhter Gefechtsbereitschaft hält, … macht es notwendig, Hinweise für die Vorbereitung eines atomaren Raketenangriffs zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu entdecken, noch bevor der Befehl an die Truppen zum Einsatz nuklearer Waffen erteilt wurde.« Daher wurden die sowjetischen Geheimdienstniederlassungen im Ausland angewiesen, auf den kleinsten Hinweis für einen bevorstehenden Atomangriff zu achten. So erhielten die KGB-Residenten am 17. Februar 1983 die Direktive Nr. 374/PR/52, die zwanzig Indikatoren für einen unmittelbaren Kriegsbeginn auflistete, u.a.: »Halte die wichtigsten Regierungsinstitutionen, Hauptquartiere und anderen Anlagen, die an der Vorbereitung eines atomaren Raketenangriffs beteiligt sind, unter ständiger Beobachtung. (...) Bestimme das ›normale Tätigkeitsniveau‹ dieser Ziele während und außerhalb der Arbeitsstunden, z. B. die äußeren Merkmale ihrer täglichen Aktivitäten unter normalen Bedingungen (Differenzen der Zahl der dort geparkten Autos am Tage und am Abend, die Zahl der beleuchteten Zimmer während und nach der Arbeitszeit und Aktivitäten um diese Ziele herum an arbeitsfreien Tagen). Finde auf Basis der festgestellten ›normalen Tätigkeitsniveaus‹, jede Veränderung dieser Merkmale bei Sonderkonferenzen in einer Krisensituation heraus.«

Moskaus reale Ängste

Nein zur Stationierung von Atomwaffen – Großdemonstration im Bon
Nein zur Stationierung von Atomwaffen – Großdemonstration im Bonner Hofgarten am 22. Oktober 1983
Der Kulminationspunkt der sowjetischen Kriegsangst kam im Herbst 1983 mit der NATO-Übung »Able Archer«. Ausgerechnet zum Zeitpunkt, da die sowjetischen Aufklärer unter Hochdruck nach Anzeichen für einen nuklearen Erstschlag Ausschau hielten, begann die NATO unter US-Führung ein Manöver, in dem ein solcher Erstschlag unter sehr realistischen Bedingungen geübt wurde. Bereits im Vorfeld des Manövers zeichnete sich ab, daß »Able Archer« dem Szenario folgen würde, das aus der Sicht Moskaus die Vorbereitungsphase für einen atomaren Erstschlag war. Daher befürchtete Moskau, daß unter dem Deckmantel der regelmäßig wiederkehrenden Routineübung der nukleare Überraschungsangriff vorgetragen werden sollte. Nach Meinung der sowjetischen Führung wurden diese Befürchtungen auch durch ungewöhnliche Neuerungen bei »Able Archer 83« bekräftigt.

Das zehn Tage dauernde NATO-Manöver begann am 2. November 1983 und umspannte ganz Westeuropa. Zweck der Übung war die Simula­tion einer koordinierten Freigabe von Atomwaffen und deren Einsatz. Das war Routine. Alarmierend waren jedoch die neuen Elemente der Übung. So wurden nukleare Mittelstreckenraketen ins Feld geführt, und zugleich wurde absolute Funkstille befohlen. Außerdem wurde zum ersten Mal ein neues Kodierungsformat für die Nachrichtenübermittlung eingesetzt. Zudem waren zum ersten Mal die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedsländer in die Übung eingebunden, woraus man in Moskau auf deren ungewöhnlich hohe politische Bedeutung schloß. Last but not least gingen die Sowjets – fälschlicherweise – davon aus, daß die USA ihre höchste Alarmstufe »DEFCON 1« ausgerufen hatten, was für einen unmittelbar bevorstehenden Angriff steht. Tatsächlich aber wurde »DEFCON 1« während »Able Archer« nur simuliert.

Die sowjetische Führung war offensichtlich vom unmittelbar bevorstehenden US-Angriff überzeugt; sie hatte ihre eigenen strategischen Atomstreitkräfte in den Alarmzustand versetzt und zudem ihre Luftstreitkräfte in der DDR und in Polen alarmiert. Das kleinste Versehen, und die Katastrophe wäre nicht mehr aufzuhalten gewesen.

Es sei sicher »keine Übertreibung«, daß die HVA während des Kalten Krieges »die NATO recht gut abgedeckt hatte«. Das hatte Ex-CIA-Abteilungsleiter Milton Bearden in seiner bereits erwähnten Rede in Berlin festgestellt. Auch Professor Mastny schreibt, daß »ostdeutsche Spione sogar an die am besten gehüteten Geheimnisse der NATO herankamen«, um sie dann an die Sowjetunion weiterzugeben. In diesem Zusammenhang stellt er dann die »spannende Frage«, ob DDR-Kundschafter mit Hilfe der von ihnen besorgten Informationen womöglich »die Empfänger in Moskau beruhigt« und auf diese Weise »einen Atomkrieg verhindert« haben.

»Topas« in Brüssel

Unter dem Decknamen »Topas« arbeitete ich von 1977 bis 1993 in der Politischen Abteilung im NATO-Hauptquartier in Brüssel. Zu meinen Aufgaben gehörte u.a. der Vorsitz der CIG (Current Intelligence Group) im NATO-Lagezentrum. Dieses war das »innerste Sanktum«, das »Allerheiligste«, in dem alle Nervenstränge der NATO zusammenliefen. Zu normalen Zeiten sichteten die Mitglieder der CIG bei Arbeitsbeginn am frühen Morgen die Meldungen, die während der letzten 24 Stunden von den Nachrichtendiensten der NATO-Mitgliedsländer eingegangen waren. Unter meinem Vorsitz, den ich auf wöchentlicher Rotationsbasis ausübte, wurde dann eine Zusammenfassung der wichtigsten Entwicklungen und nachrichtendienstlichen Erkenntnisse angefertigt, die anschließend an die entsprechenden NATO-Dienststellen und an alle Mitgliedsländer geschickt wurde.

Bei NATO-Stabsübungen wie WINTEX/­CIMEX oder in Krisensituationen war die CIG ständig besetzt, denn die Gruppe stellte das Nervenzentrum der NATO dar. Ihr Vorsitzender hatte in solchen Fällen die Aufgabe, den NATO-DPC (Verteidigungsplanungsrat), der normalerweise auf oberster Ebene tagte, regelmäßig über die eigene und die Feindlage zu unterrichten. So war ich in der hervorragenden Position, alle aktuellen Entwicklungen und Indikatoren, die eventuell auf einen nuklearen Überraschungsschlag der NATO hingewiesen hätten, rechtzeitig zu erkennen, dokumentarisch zu sichern und nach Ostberlin zu übermitteln. (Ein Alleingang der USA, an der NATO vorbei, wäre für mich jedoch nicht erkennbar gewesen.) Zugleich war ich vollkommen in den alljährlichen integrierten Verteidigungsplanungszyklus der NATO einbezogen. Damit standen mir stets sämtliche diesbezüglichen Dokumente zur Verfügung, die ich auch in ihrer Gesamtheit für die HVA sichern konnte.

Bei den Jahrestreffen mit meinen Führungsoffizieren der HVA hatten diese mir bereits die großen Sorgen der sowjetischen Genossen bezüglich »Ryan« ans Herz gelegt. Aber nichts in meinem Umfeld deutete auf die unmittelbare Vorbereitung eines NATO-Erstschlages hin, was ich anhand der gesicherten Materialien dokumentarisch zu untermauern suchte. Dann kam der Herbst 1983, und »Able Archer« rückte näher. Über einen Kurier wurde mir die Dringlichkeit der sowjetischen Befürchtungen nochmals nachdrücklich verdeutlicht.

Da es so gut wie unmöglich war, die Abwesenheit der Gefahr eines Erstschlages durch Beteuerungen zu beweisen, ging ich dazu über, systematisch alle CIG-Dokumente und Intelligence Memoranda aus dem Lagezentrum, samt aller anderen NATO-Dokumente über die aktuellen politischen Entwicklungen zu sichern und an die HVA zu schicken. Da ich kein Dokument, egal wie wichtig oder unwichtig, ausließ, und dazu auch noch meine persönlichen Einschätzungen mitlieferte, waren die Genossen in der HVA auf dem gleichen Wissensstand wie ich, und sie konnten daher gegenüber unseren sowjetischen Freunden entsprechend deutlich Stellung beziehen.

Wie Werner Großmann, der Nachfolger von Markus Wolf an der Spitze der HVA, in seinem Buch »Bonn im Blick« deutlich macht, kamen auch von anderen HVA-Aufklärern entwarnende Meldungen. Dennoch waren die Sowjets nur zögerlich bereit, selbst nach Beendigung von »Able Archer«, sich zu »entspannen« und zum »normalen« Rhythmus des Kalten Kriegs zurückzufinden. Erst zwei Jahrzehnte später wird der bereits erwähnte ehemalige Chef der KGB-Auslandsaufklärung, Wladimir Krjutschkow, in dem ebenfalls bereits genannten Dokumentarfilm die besondere Rolle der HVA bei der Meisterung dieser schweren Krise öffentlich würdigen.

In seiner auf der offiziellen CIA-Webseite veröffentlichten Studie über die »Ryan«- bzw. »Able Archer«-Krise mit dem Titel »A Cold War Conundrum« bestätigt der CIA-Historiker Ben Fisher, daß die US-Führung überhaupt nichts von der sowjetischen Alarmstimmung gewußt hatte und erst viel später von den Briten davon erfuhr, wie nahe wir vor dem Dritten Weltkrieg gestanden haben. Von Selbstbesinnung oder gar Selbstkritik läßt sich in der ersten offiziellen Auswertung der Krise durch die CIA jedoch keine Spur finden. In der Studie »Implications of Recent Soviet Military-Political Activities«, die im Mai 1984 vom CIA-Sowjetologen Fritz W. Ermarth verfaßt worden ist, heißt es: »Wir kommen zu dem Schluß, daß weder die sowjetischen Aktionen von einer ernsten Gefahr eines unmittelbar bevorstehenden Konfliktes mit den USA inspiriert sind noch die sowjetische Führung von einer solchen Bedrohung ausgeht.« Stattdessen tut die CIA-Studie alle Berichte über angebliche sowjetische »Kriegsängste« als anti-amerikanische »Propaganda« ab.

Robert Gates, stellvertretender CIA-Chef während der »Able Archer«-Episode und derzeit Präsident George W. Bushs Verteidigungsminister, kam zu einem anderen Schluß, allerdings erst viele Jahre später. Nach dem Ende des Kalten Krieges und nachdem er Einsicht in eine Reihe von Dokumenten aus jener Zeit genommen hatte, die von Moskau zugänglich gemacht worden waren, räumte Gates ein, daß die Situation damals »sehr gefährlich« war und die sowjetische Führung 1983 »geglaubt hat, daß ein Angriff der NATO zumindest möglich war«. Der Fehler der US-Nachrichtendienste war laut Gates, das »wahre Ausmaß« der sowjetischen Ängste »nicht erfaßt« zu haben.

Wichtig zum Verständnis der Reaktion der sowjetischen Führung im Rahmen der »Ryan«- bzw. »Able Archer«-Krise ist die Tatsache, daß die Neokonservativen in Washingtons sich nicht damit begnügten, über den begrenzten Atomkrieg zu reden, sondern sie bereiteten ihn offensichtlich auch systematisch vor. Ab Mitte Februar 1981 begannen sie eine Politik ständiger militärischer Provokationen entlang der sowjetischen Grenzen. Dabei drangen US-Einheiten immer wieder im Rahmen streng geheimer Operationen tief in sowjetische Territorialgewässer und in den sowjetischen Luftraum ein, wie das beim bereits genannten CIA-Historiker Ben Fisher nachzulesen ist.

Insbesondere im schwach verteidigten sowjetischen Norden gab es ständige Vorstöße amerikanischer Bomber, die oft viele Kilometer in den sowjetischen Luftraum eindrangen, bevor sie abdrehten. Diese Vorstöße sollten nicht nur die Fähigkeiten der sowjetischen Radar- und Luftabwehrsysteme testen, sondern mit Hilfe von Satellitenaufklärung auch die Kommando- und Kommunikationszentren der strategischen Luftverteidigung der Sowjetunion aufspüren, was für die Vorbereitung eines Angriffskrieges von entscheidender Bedeutung war.

Scheinheilige Debatte

Scheinheiligkeit bestimmt die seit 17 Jahren anhaltende Verteufelung der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Geheimdienste. Als souveräner Staat und als geachtetes Mitglied der Vereinten Nationen hatte die DDR natürlich das Recht, sich gegen offene und verdeckte Angriffe von außen und innen zu schützen. Aber das soll heute auf einmal nicht mehr gelten. Stattdessen wird versucht, die DDR und insbesondere ihre Geheimdienste zu dämonisieren.

Während die DDR-Aufklärung verunglimpft wird, arbeiten die Bundesregierung und ihre Geheimdienste, insbesondere der BND, mit den USA und deren Diensten aufs engste zusammen. So wird den USA Deutschland als logistische Basis zur Unterstützung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen Irak zur Verfügung gestellt, gehen KSK-Soldaten in Afghanistan an der Seite von US-Einheiten auf Menschenjagd.

Doch im Unterschied zum »demokratischen« BND hat die »unrechtsstaatliche« HVA niemals freundschaftlichen und enge Beziehungen zu Geheimdiensten wie der CIA unterhalten, die kein Hehl daraus macht, Menschen zu töten, zu foltern oder in geheime Foltergefängnisse zu entführen. Im Unterschied zum BND hat die HVA z.B. keinen illegalen Waffenhandel betrieben oder gesetzwidrig Plutonium in einer Passagiermaschine nach Deutschland eingeschmuggelt. Im Unterschied zum BND hat die HVA keinem fremden Dienst geholfen, die eigenen entführten und gefolterten Staatsbürger zu verhören.

Im Unterschied zu den bundesdeutschen Geheimdiensten ist alles bekannt, was die HVA je getan hat. Die Akten sind offen. Die HVA hat keine Morde, keine Totschläge, keine anderweitigen Kapitalverbrechen zu verantworten, sie hat weder mit Menschenhändlern, Drogenbaronen noch anderen Schwerkriminellen zusammengearbeitet. Sie hat auch keine Killer- oder Terroristenkommandos ausgebildet. Weder hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter noch Kundschafter wurden jemals für derartige Delikte strafrechtlich belangt.