Agatha im Regen
Die Erfahrung lehrt, dass sich jedes Volk gleich verhält, wenn ein ausländischer Feind seine Führung angreift. Es ist also ziemlich sicher, dass Hamas aus diesem Test gestärkt hervorgeht. Die Verhaftungen beweisen der palästinensischen Öffentlichkeit, dass es eine kämpfende loyale Führung ist und keine durch die Annehmlichkeiten der Macht korrumpierte – im Gegensatz zu ihren Vorgängern, deren Ansehen in manchen Fällen durch den Hang zur Korruption beschädigt war.
Der Vorwand für die Operation – die Befreiung des gefangenen Soldaten - wird die Haltung der Palästinenser nur verhärten. Kein Thema ist ihnen wichtiger als die Entlassung der palästinensischen Gefangenen – eine Sache die direkt 10 000 palästinensische Großfamilien in jeder Stadt, in jedem Stadtteil und Dorf betrifft. Diese Familien sind bereit, alles zu erleiden, um ihre Entlassung zu sichern.
Agatha im Regen
Uri Avnery
„ISRAEL HAT dem palästinensischen Volk den Krieg erklärt! Das palästinensische Volk wird entsprechend antworten! Die palästinensische Rebellion wird weitergehen! Die palästinensischen Kämpfer bleiben standhaft im Dienst der Nation! Nieder mit der nazi-zionistischen Besatzung! Raus mit den schmutzigen Ungläubigen aus dem Heiligen Land!
Zerstörtes Rafah – wir werden dich wieder aufbauen! Lang lebe die palästinensische Revolution! Lang lebe der Staat Palästina!“
Ein Hamas- Flugblatt der letzten Woche? Nicht ganz so. Es handelt sich um einen Text, der - hier leicht abgewandelt - am 2. Juli 1946 nach dem „Schwarzen Samstag“ von der Haganah veröffentlicht wurde – fast auf den Tag genau vor 60 Jahren.
Im Gefolge einer gewagten Kommandoaktion durch die Palmach („Schocktruppe“ der Hagana), die einige Brücken in die Luft gesprengt hatte, entschied die britische Regierung Palästinas, einen im voraus gut vorbereiteten Plan auszuführen, dessen Codename „Agatha“ war. Am 29. Juni 1946 schwärmten 17 000 britische Soldaten über alle jüdischen Städte und Kibbuzim, um Waffen und Dokumente zu konfiszieren und Führer der jüdischen Gemeinschaft zu verhaften. Die britische Regierung bekräftigte damit den Entschluss, den Terror auszumerzen. In Jerusalem besetzten die Soldaten das Büro der Jewish Agency, die de facto Regierung des jüdischen „Staates innerhalb des Staates“, und konfiszierten viele Dokumente, die klar die engen Verbindungen der Jewish Agency mit dem „terroristischen Hauptquartier“, dem vereinigten Kommando der Hagana, des Irgun und der Stern-Gruppe, die damals eng zusammen arbeiteten, nachwiesen.
Die Soldaten brachen in die Wohnungen der politischen Führer der jüdischen Gemeinschaft ein und verhafteten die meisten „Minister“ der Jewish Agency. Die Führer waren in Latrun in Haft. Aber die Kommandeure der Untergrundorganisationen entschieden, den Kampf weiterzuführen, um den Briten zu beweisen, dass die Verhaftung der Führer sie nicht zum Schweigen bringen konnte.
„Der Schwarze Samstag“ wurde zu einem Meilenstein im Kampf gegen die Briten. Innerhalb eines Jahres verließen sie das Land.
Die Ähnlichkeit zwischen der britischen „Agatha“ und dem israelischen „Sommerregen“ ist verblüffend. Es zeigt, dass jedes Besatzungsregime dazu verurteilt ist, die Aktionen seiner Vorgänger zu wiederholen, selbst wenn sie sich als hoffnungslos erwiesen haben. Dies bedeutet nicht, dass alle Besatzer Toren sind – sondern dass die Logik der Besatzung als solche sie dazu verurteilt, törichte Maßnamen zu treffen.
DAS ZIEL der gegenwärtigen Operation ist vorgeblich die Befreiung des Soldaten Gilad Shalit, der vom palästinensischen Untergrund (aus verschiedenen Organisationen bestehend) bei einem Angriff, den sogar ein israelischer Militärexperte als „gewagte Kommandoaktion“ bezeichnete, gefangen genommen wurde.
Wenn unsere Armee ihren hohen militärischen Standard gehalten hätte, dann würde sie sofort alle für das Debakel Verantwortlichen absetzen. Vor 50 Jahren wäre man so vorgegangen. Doch heute haben wir eine andere Armee. Keiner wurde entlassen. Die gescheiterten Kommandeure nannten den Angriff nur eben „einen terroristischen Akt“, die gegnerischen Kämpfer „Terroristen“ und den gefangen genommenen Soldaten „gekidnappt“.
Die Aktion beweist natürlich eine alte militärische Maxime: für jedes Mittel der Verteidigung kann ein Mittel des Angriffs gefunden werden und umgekehrt. Der Sicherheitszaun, der den Gazastreifen von allen Seiten – außer vom Meer – umgibt, der entsprechend nun auch im Westjordanland gebaut wird, kann Diebe abhalten und Leute, die in Israel Arbeit suchen, aber keine fest entschlossenen Kämpfer, die immer Wege finden werden, ihn zu überwinden - ob oben drüber oder unten durch.
Der „entführte“ Soldat diente als Vorwand für eine Operation, die schon seit langem vorbereitet gewesen sein musste. Der israelischen und internationalen Gemeinschaft war seine Befreiung als Ziel vorgegaukelt worden, aber sein Leben ist jetzt tatsächlich in größerer Gefahr. Wenn die Soldaten in die Nähe seines Verstecks kommen, könnte er im Kreuzfeuer erschossen werden – wie es vor einigen Jahre mit dem Soldaten Nachshon Waksman geschah, der von der Hamas gefangen genommen worden war. Er war beim Schusswechsel zwischen Soldaten und Palästinensern erschossen worden. Waksman würde wahrscheinlich heute noch leben, wenn es statt dessen einen Gefangenenaustausch gegeben hätte.
Eine Verbindung zwischen dem „entführten Soldaten“ und der Operation besteht nur im Reich der Propaganda. Dasselbe gilt auch für den 2. Vorwand: es sei das Ziel, dem Beschuss von Sderot durch Qassam-Raketen ein Ende zu setzen.
Stimmt, das ist eine ziemlich unerträgliche Situation. Die Qassam, eine einfache und billige Waffe, verursacht mehr Panik als wirklichen Schaden, wie die deutsche V-Waffe, mit der London im 2. Weltkrieg bombardiert wurde. Sie terrorisierte die Bevölkerung – und das ist ihr Ziel. Ihr Zweck ist es auch, die verheerende Blockade zu brechen, die die israelische Regierung über den Gazastreifen seit dem „Abzug“ verhängt hat. Bis jetzt hat die Armee kein Mittel gefunden, dem Raketenbeschuss ein Ende zu setzen.
Aber auch die Qassams sind nicht der wahre Grund für die Operation „Sommerregen“. Wenn man sich diese genauer ansieht, dann wird klar, dass sie ein viel weiter gestecktes Ziel hat: die gewählte palästinensische Regierung (nach israelischer Propaganda „Hamas-Regierung“) zu zerstören und die palästinensische Bevölkerung in die Knie zu zwingen.
Dies würde es vermutlich für die israelische Regierung möglich machen, den „Konvergenz“-Plan auszuführen, der große Teile der Westbank an Israel annektiert und die Errichtung eines lebensfähigen palästinensischen Staates verhindert.
Dies ist ein klares Ziel, das durch die Operation mit einfachen Mitteln erreicht werden soll: nämlich indem man die palästinensische Bevölkerung durch die Liquidierung der Führung, durch Zerstörung ihrer Infrastruktur, durch Absperrung des Zugangs zu Lebensmittel- und Medizinvorräten, zu Strom, Wasser, Gesundheitsdiensten und nicht zuletzt zu Arbeitsstellen zum Aufgeben bringen will. Die Botschaft für die Palästinenser heißt: wenn ihr eurem Leiden ein Ende setzen wollt, entfernt die von euch gewählte Regierung.
FÜHRT DIES zum Erfolg? Es wird genau wie bei der britischen Operation „Agatha“ das Gegenteil bewirken.
Wie schon seit Jahren liegen alle Fehlschläge unserer Armee - von der Schlacht von Karameh 1968 über die Überquerung des Suezkanals zu Beginn des Yom Kippur Krieges bis zu den beiden Intifadas - in der abgrundtiefen Verachtung begründet, die die Armeekommandeure gegenüber Arabern im Allgemeinen und gegenüber Palästinensern im Besonderen haben. Der Shin Bet trifft beim Verhör auf Palästinenser in Gestalt Gefangener, die unter Folter bereit sind, alles zu sagen, und auf widerwärtige Kollaborateure, die bereitwillig ihre Cousins für Drogen und Geld verraten. Die Besatzungskommandeure können sich nicht vorstellen, dass die Palästinenser genau so reagieren wie jedes andere Volk, genau – Gott behüte! - wie wir in ähnlicher Situation. Was, diese jämmerlichen Araber sind wie wir?
Die Briten haben sich uns gegenüber zwar nicht so verhalten, wie wir es gegenüber den Palästinensern tun. Andrerseits ist die palästinensische Fähigkeit, die Unterdrückung zu ertragen, größer als unsere. Dies liegt in der Familienstruktur, in der die gegenseitige Hilfsbereitschaft stärker ausgeprägt ist, und in der Erfahrung, jahrelang in einer ernsten Notlage zu leben.
Am „Schwarzen Samstag“ stand die jüdische Gemeinschaft geschlossen hinter ihrer bedrängten Führung. Die Opposition von rechts bis links vereinigte sich hinter Ben-Gurion (der gerade im Ausland war) und Sharett (im Gefängnis in Latrun). Die Erfahrung lehrt, dass sich jedes Volk gleich verhält, wenn ein ausländischer Feind seine Führung angreift. Es ist also ziemlich sicher, dass Hamas aus diesem Test gestärkt hervorgeht. Die Verhaftungen beweisen der palästinensischen Öffentlichkeit, dass es eine kämpfende loyale Führung ist und keine durch die Annehmlichkeiten der Macht korrumpierte – im Gegensatz zu ihren Vorgängern, deren Ansehen in manchen Fällen durch den Hang zur Korruption beschädigt war.
Der Vorwand für die Operation – die Befreiung des gefangenen Soldaten - wird die Haltung der Palästinenser nur verhärten. Kein Thema ist ihnen wichtiger als die Entlassung der palästinensischen Gefangenen – eine Sache die direkt 10 000 palästinensische Großfamilien in jeder Stadt, in jedem Stadtteil und Dorf betrifft. Diese Familien sind bereit, alles zu erleiden, um ihre Entlassung zu sichern.
DAS ZWEITE OPFER der Operation ist der „Konvergenz“-Plan, der lächerlich geworden ist.
In den Augen eines gewöhnlichen Israeli sieht es so aus: wir haben den Gazastreifen verlassen – und nun kehren wir dahin zurück. Wir haben dort die Siedlungen aufgelöst und haben dafür die Qassams bekommen. Sharon ist gescheitert – und so wird Olmert zweifellos erst recht scheitern.
Das stimmt, aber aus offensichtlichen Gründen. Der Rückzug aus dem Gazastreifen hat keine Sicherheit gebracht, weil er ohne einen Dialog oder ein Abkommen mit den Palästinensern ausgeführt wurde. Er hat den Frieden nicht näher gebracht, weil er mit der offenen Absicht verbunden war, große Teile der Westbank zu annektieren. Und – was nicht weniger wichtig ist – wir verließen zwar den ganzen Gazastreifen, verbarrikadierten ihn aber und schnitten ihn so von der Außenwelt ab. Das trifft noch viel mehr auf Olmerts „Konvergenz“-Plan zu.
Der „Sommerregen“ mag ihn von der Karte weggeschwemmt haben.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)
Die Invasion im Gazastreifen wird zu einer Katastrophe führen
Gush Shalom, 29.06.0206
Weniger als 24 Stunden nach dem Beginn der Invasion in den Gazastreifen, fand die erste Demonstration dagegen statt. Sie wurde von Gush Shalom ausgerufen. Obwohl es vorher keine Öffentlichkeitsarbeit dazu gab, kamen etwa hundert Friedensaktivisten zum Verteidigungsministerium in Tel Aviv und drückten ihren klaren und eindeutigen Protest aus.
Vor Ort vorbereitete Poster erklärten: „Die Invasion gefährdet das Leben des gefangenen Soldaten Gilad Shalit!“ „ Wir wollen keinen zweiten Nachshon Waxman!“ (Waxman, ein Soldat, der 1994 von der Hamas entführt wurde, wurde beim Befreiungsversuch der Armee getötet) „Eine Feuerpause um der Kinder von Gaza und Sderot willen!“
Wie erwartet wurde, verfluchten einige Autofahrer die Demonstranten, aber es ist bemerkenswert, dass nicht wenige Autofahrer sie durch Zurufen und Hupen unterstützten.
„Der Generalstabschef spielt mit dem Leben von Gilad Shalit“! erklärte Uri Avnery. „Wir sollten ihm sagen: Wenn du mit dem Leben von Soldaten spielst, spiele mit dem Leben deiner Kinder!“
Gush-Shalom-Sprecher Adam Keller fasste zusammen: „ Es war wichtig, sofort zu demonstrieren, um klar zu machen, dass es eine Opposition für diese Aktion gibt, und eine Stimme gegen die Propaganda zu erheben, die unsere Medien überflutet.“
(dt. Ellen Rohlfs)