Keine Zeit für Fragen
VON ANDREA NÜSSE (BEIRUT)
FR, 19.08.2006
http://www.fr-aktuell.de/in_und_ausland/hintergrund/?em_cnt=950879&sid=528df9dc8f9edc450cc014a43eaac1b2
Hisbollah organisiert den Wiederaubfbau
Hoda Schahab kann es noch nicht fassen. Ratlos blickt
sie von ihrem Balkon im ersten Stock. Schräg gegenüber tut sich ein Bombenkrater auf
von etwa 10 Metern Durchmesser. "Dort stand ein fünfstöckiges Haus, in
dem meine Eltern wohnten." Die Libanesin ist erst an diesem Morgen mit
ihrem Mann und ihren drei Kindern aus den Bergen in ihre Wohnung in
Haret Hreik heimgekehrt, dem südlichen Stadtviertel Beiruts. Das Haus,
in dem die 36-jährige Sunnitin wohnt, steht noch. In der
Drei-Zimmer-Wohnung fehlen alle Türen und Fenster, es gibt weder Wasser
noch Strom. "Dennoch ein Wunder", findet die Frau, "man hatte uns
erzählt, unser Haus sei auch dem Erdboden gleichgemacht."
So
wie die umstehenden Häuser, deren Überreste die kleine Frau mit den
lebhaften Augen nun betrachtet. Zu bizarren Formationen stapeln sich
gigantische Zementblöcke, Metallgitter und Balken. Die Höhe eines
Schuttberges zeugt davon, dass hier mindestens ein zehnstöckiges Haus
gestanden haben muss. Etwa 500 000 Menschen lebten in dem dicht
bebauten Viertel, das vor allem von Schiiten bewohnt wird und wo die
Hisbollah ihre Büros und ihren Fernsehsender "Al-Manar" betrieb. Die
israelische Luftwaffe hatte hier bis zum letzten Tag massiv bombardiert
und ganze Straßenzüge in Schutt und Asche gelegt. Surreal wirkt der
kleine Haufen von Habseligkeiten, den ein Ehepaar aus den Trümmern
birgt. Ein metallener Wassereimer mit rotem Seil, eine Blechdose mit
der Aufschrift "Butter Cookies", ein Plastikblumenstrauß.
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Die Reste seiner Wohnung in
einem südlichen Stadtteil Beiruts inspiziert ein Bewohner. 198 Gebäude
wurden hier laut Hisbollah völlig zerstört, 200 wurden beschädigt. (ap) |
Lange
wird Hoda Schahab mit ihrem Entsetzen nicht allein gelassen. Der
Wiederaufbau beginnt. Generalstabsmäßig. Zwei Männer mit gelben
Schirmmützen und gelben Westen mit der Aufschrift Hisbollah rufen durch
das Loch, wo einst die Haustür war. Sie fragen Hoda nicht nach ihrem
Namen, sondern lassen sich nur bestätigen, dass hier die Familie
Schahab wohnt. Name, Besitzer oder Mieter, Größe der Wohnung - die
beiden Vertreter der Organisation haben alle Angaben zu den Bewohnern
des Hauses Nummer 35 in der Straße Saed Abbas al-Mussawi in ihren
Computerausdrucken. Samt fotokopiertem Straßenplan, in dem jedes Haus
in diesem Straßenabschnitt verzeichnet ist.
"Wir machen eine
Bestandsaufnahme", mehr wollen sie nicht erklären. Sie gehören zu den
Trupps von Freiwilligen und Helfern der Hisbollah, die umsetzen, was
ihr Führer Hassan Nasrallah im Fernsehen verkündet hatte: Wer sein Heim
verloren hat, wird entschädigt. Die Anweisung der Männer in Gelb
lautet: Familie Shahab soll sich in der Grundschule von Haret Hreik
melden.
Hoda und ihr Mann Bassam, der in einer Keksfabrik
angestellt ist, machen sich auf den Weg durch die Ruinen. Viele
Menschen laufen mit weißen Atemmasken herum, zum Schutz gegen den
Staub. Unter einem Zeltdach verteilt ein Hisbollah-Mann nagelneue
Schaufeln und Besen, an denen noch die Preisschilder hängen, an
freiwillige Aufräumhelfer. Bulldozer werden zu ihren Einsatzorten
dirigiert. In einem Geschäft, dessen gesamte Fassade fehlt, stehen
ordentlich aufgereiht Ketchupflaschen, Pakete mit Babywindel und Maisöl
im Regal. Gestohlen wird nichts.
"Auch unsere Wohnung steht seit
Wochen offen, aber der Fernseher ist immer noch da", sagt der
44-jährige Bassam, dessen hagerem und müdem Gesicht man ansieht, dass
er selbst in friedlichen Zeiten hart arbeiten muss, um die Familie mit
den Kindern im Alter von neun, 17 und 18 Jahren zu ernähren.
Plünderungen verhindert schon die massive Präsenz der Hisbollah-Leute.
An den Einfahrtsstraßen zu den zerstörten Vierteln sind Barrikaden
errichtet. Bärtige bewaffnete Männer lassen nur hinein, wer als
Bewohner identifiziert wird.
In der Grundschule von Harek Hreik
fehlen nur die Fenster. An jedem Klassenraum hängt ein
handgeschriebener Zettel, der bestimmte Straßenabschnitte angibt. Hier
waltet Scheich Mounir, ein freundlicher Mann in dunkelblauer Hose und
hellblauem Hemd, der nicht genau sagen will, was er bei der Hisbollah
macht. Aber das System zum Wiederaufbau erklärt er ausführlich: Für
jedes Haus im Viertel gibt es einen Verantwortlichen der Hisbollah, der
den Grad der Zerstörung beurteilt und mit den Bewohnern spricht. Fünf
Häuser wiederum unterstehen einem übergeordneten Verantwortlichen.
"Innerhalb von 48 Stunden muss die Bestandsaufnahme abgeschlossen sein.
Danach beginnt die Geldauszahlung oder Reparatur." Scheich Mounir zeigt
die Computerausdrucke von Häusern und ihren Bewohnern mit Lageplan.
Diese Daten seien bereits vor Jahren gesammelt worden. Warum? "Aus
Sicherheitsgründen müssen wir in unseren Vierteln alles wissen", lautet
die Antwort. Kontakt mit Regierungsstellen gebe es bisher nicht.
Bar
in Briefumschlägen soll das Geld in den nächsten Tagen ausgegeben
werden: Eine Jahresmiete in Höhe von 10 000 Dollar für eine Familie,
die ihr Haus verloren hat und Geld für Möbel. "Alle werden zufrieden
sein", verspricht Scheich Mounir. Er bekleidet kein offizielles Amt,
agiert aber wie der Minister für Wiederaufbau. In christlichen Vierteln
Beiruts, die von den Luftangriffen verschont geblieben sind, hat die
Hisbollah bereits ganze Appartementhotel angemietet, um ausgebombte
Familien unterzubringen. Woher das Geld kommt, weiß Scheich Mounir
angeblich nicht. Dabei lächelt der Hisbollah-Funktionär, weil er es
natürlich weiß. Vermutlich kommt das Geld aus dem Iran, den Golfstaaten
und von reichen Schiiten im Ausland. Unterdessen wartet der Staat auf
Zusagen bei internationalen Geberkonferenzen. Den Schaden an Gebäuden
und Infrastruktur im Libanon hat eine staatliche Kommission auf 3,5
Milliarden Dollar geschätzt. Wie versprochen gab Hisbollah am
Donnerstag das Ergebnis ihrer Bestandsaufnahme bekannt: In Südbeirut
wurden 198 Gebäude zerstört und 200 beschädigt.
Für den
Hisbollah-Kritiker Michel Young ist es eine Überlebensstrategie der
schiitischen Organisation, den Wiederaufbau schnell voranzutreiben.
"Alles andere wäre Selbstmord", meint er. Ansonsten würden auch ihre
Anhänger kritische Fragen über das Verhalten der Hisbollah stellen,
deren Gefangennahme zweier israelischer Soldaten den Krieg ausgelöst
hatte. Die Hisbollah-Spezialistin Amal Saad Ghorayeb von der
Amerikanisch-Libanesischen Universität sieht das anders. "Hisbollah ist
populärer denn je." Ihr Erfolg beruhe seit jeher auf den zwei Pfeilern:
Widerstand gegen Israel und soziales Netzwerk. Hisbollah baue nur seine
Rolle als "Wohlfahrtsstaat" innerhalb des schwachen und bankrotten
libanesischen Staates aus.
Hoda Schahab und ihr Mann Bassam
jedenfalls sind zufrieden. In zwei Tagen sollen Handwerker zur
kostenlosen Reparatur kommen. Auf staatliche Hilfe setzt Hoda nicht.
"Nach dem Bürgerkrieg haben wir lange vergeblich darauf gewartet, dass
der Staat etwas unternimmt. Aber Scheich Nasrallah tut, was er sagt.
Wir glauben ihm. Er beschützt uns." Alles klingt echt. Nur der erste
entsetzte Blick, den Hoda Schahab am Morgen von ihrem Balkon auf die
Trümmerlandschaft warf, lässt ahnen, dass dieser "Sieg" der Hisbollah
insgeheim selbst manchen Getreuen teuer erkauft scheinen mag.
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Copyright © FR online 2006
Dokument erstellt am 18.08.2006 um 16:52:03 Uhr
Letzte Änderung am 18.08.2006 um 18:49:27 Uhr
Erscheinungsdatum 19.08.2006