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»Im Zweifelsfall lieber schießen!«
Israelische Soldaten: Armeeführung rief im Gaza-Krieg zu Gewalt gegen
Zivilisten auf
ND, 18.7.2009
http://www.neues-deutschland.de/artikel/152421.im-zweifelsfall-lieber-schiessen.html
Ein halbes Jahr nach Ende des jüngsten Gaza-Kriegs haben israelische
Soldaten schwere Vorwürfe gegen ihre eigene Militärführung erhoben, die
zu einem brutalen Vorgehen gegen palästinensische Zivilisten ermutigt
habe. Die vor fünf Jahren gegründete israelische Organisation »Breaking
the Silence« veröffentlichte am Mittwoch einen Bericht mit 54 anonymen
Aussagen von Soldaten, die zur Jahreswende an der dreiwöchigen
Militäroffensive »Gegossenes Blei« teilnahmen. Bei dem Einsatz, der am
18. Januar endete, waren mehr als 1400 Palästinenser getötet und 5000
weitere verletzt worden. ND veröffentlicht Auszüge aus dem Report:
Menschliche Schutzschilde
(...) Vor unserem ersten Einsatz an einem Freitagabend ließ uns der
Befehlshaber antreten. Dann hielt er eine Rede. Er sagte »Wir können
sie mit unserem Timing nicht überraschen, sie wissen wann wir kommen.
Wir können sie nicht mit dem Ort überraschen. Aber womit wir sie
überraschen können, ist unsere Feuerkraft.« (...) Es war eine einfache
Formel, die wir uns einprägen sollten: »Bei Zweifel nicht zögern,
schießen!« Unsere Feuerkraft war wahnsinnig. Auch wenn wir im Dunkeln
nichts sehen konnten, haben wir einfach auf alles geschossen. Höchste
Priorität war, keinen Soldaten zu verlieren. Der Kommandeur sagte:
»Keinem meiner Soldaten darf auch nur ein Haar gekrümmt werden. Wenn
ihr nicht sicher seid, dann schießt!« (...) Von Unschuldigen oder
Zivilisten war nie die Rede. (...) Wenn dann noch die Nervosität
hinzukommt und man im Dunkeln nicht viel erkennen konnte, hat man nicht
weiter gezögert.
(...) Unser Kommandeur wandte sich an uns, bevor wir die Gefechte
begonnen hatten. Er sagte, da Israel eine Demokratie ist, könne das
Militär leider Gaza nicht völlig auslöschen. Das Militär könne nicht so
brutal agieren, wie es gerne würde. Dann machte man uns klar, dass wir
mit äußerster Aggressivität vorgehen sollten. Ein Satz schockierte mich
besonders. Er sagte: »Die Kapazitäten der Krankenhäuser in Gaza sind
bereits ausgeschöpft. Glücklicherweise werden die Palästinenser daher
schneller sterben.« Einige waren geschockt, aber sonst gab es keine
Reaktion. Für Fragen hatten wir auch keine Zeit mehr.
(...) Es war während der ersten Woche der Operation »Gegossenes Blei«.
Viele Palästinenser hatten auf Anweisung ihre Häuser verlassen. Per
Hubschrauber hatten wir Informationszettel verteilt, auf denen stand,
dass jeder, der die Gegend nicht räumt, sich in Lebensgefahr begibt.
Einige sind jedoch geblieben. Die meisten, um ihre Häuser zu bewachen.
Andere waren krank oder konnten nicht laufen, wie wir im Tageslicht
erkennen konnten. (...) Wir haben Anweisungen bekommen,
palästinensische Zivilisten, die wir vorfinden, als Schutzschilde zu
benutzen, damit wir uns selbst besser schützen konnten. Das haben
einige auch gemacht. (...) Einmal hat ein Soldat seinen Gewehrlauf auf
die Schulter eines Mannes gelegt und hat ihn vor sich her geschoben.
Sie sind in ein Haus gegangen, wo wir bewaffnete Hamas-Kämpfer vermutet
haben. Der Mann hatte schreckliche Angst, aber ihm ist nichts weiter
passiert. Dem Soldat schien das nicht viel auszumachen, schließlich war
das eine Anweisung von oben. (...) Wir haben auch Zivilisten gezwungen,
mit einem Vorschlaghammer Wände von Häusern einzuschlagen, von denen
wir nicht wussten, ob dort Sprengkörper deponiert waren. (...) Man
fühlt sich wie ein kleines Kind mit einem Vergrößerungsglas, dass
Ameisen anschaut und sie verbrennt.
(...) »Es war noch während der ersten Woche des Einsatzes, da wurde von
einem Haus aus auf uns geschossen. Daraufhin holten wir einen
unbewaffneten Nachbarn aus seinem Haus diese Nachbarn nannten wir
Johnnies und schickten ihn zu den bewaffneten Männern. Er sollte
uns sagen, wie viele es sind. Wir erfuhren, dass es drei waren. Dann
eröffneten wir das Feuer. Wir setzten auch Hubschrauber und Bulldozer
ein. Dann schickten wir den Mann ein zweites Mal hinein. Er berichtete
uns von einem Überlebenden. Erneut feuerten wir. Und der Mann musste
ein drittes Mal in das Haus. Der letzte Bewaffnete kam dann mit
erhobenen Händen aus dem zerstörten Haus.
Ein Gefühl von Überlegenheit
(...) Am meisten hat mich diese unglaubliche Zerstörungswut entsetzt.
Und der Schock über die anderen Soldaten. Ich habe mich gefragt: Mit
wem bin ich hier nur hinein geraten? (...) Dennoch sind es immer noch
meine Kameraden. Da habe ich gar keine andere Wahl. Auch wenn mich ihre
Lust und Freude am Töten anwidert. (...) Viele haben gelacht und sich
gefreut, wenn sie jemanden getötet haben. »Ja, ich habe dem Terroristen
den Kopf weggeblasen«, haben sie geprahlt. (...) Viele konnten es kaum
erwarten, den Finger am Abzug zu betätigen. Darauf wurden wir
schließlich vorbereitet. (...) Die Macht, die man dadurch bekommt, die
Verwüstung, die man damit anrichten konnte, dieses Gefühl der
Überlegenheit hat viele mit Stolz und Freude erfüllt. Für die 19- oder
20-Jährigen, mit denen ich in einer Einheit war, gehörte exzessive
Gewalt, Brutalität und Unmenschlichkeit zu der ganzen Mission. Es war
ja auch keiner da, um sie daran zu hindern. Im Gegenteil, wir sollten
ja auf alles schießen und keine Opfer auf unserer Seite riskieren. Da
war es klar, dass die andere Seite die Palästinenser einen
hohen Preis dafür zahlen müssen.
(...) Einmal kam ein Rabbi zu unserer Einheit, um mit uns zu reden. Ich
denke, der Sinn dieses Besuches war, den Krieg religiös zu
legitimieren. Die Ansprache dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Der
Rabbi machte uns klar, dass Israel vier Feinde hat. Der erste Feind sei
Iran, doch der spiele in diesem Krieg keine Rolle. Der zweite Feind sei
die Hamas, aber das wussten wir ja schon. Der dritte sei die
Palästinensische Autonomiebehörde. Und Nummer vier seien die in Israel
lebenden Araber. (...) Am liebsten hätte ich den Rabbi gleich wieder
nach Hause geschickt, aber er wurde ja vom Befehlshaber eingeladen, da
konnte ich nicht viel machen. Viele Soldaten hat diese Ansprache
gestört. Aber die Religiösen unter uns waren hellauf begeistert. Seine
Absicht war es, uns zu verdeutlichen, dass wir einen »heiligen Krieg«
führen, den wir unbedingt gewinnen müssen. Er hat zwar keine
Fallbeispiele genannt, aber der Tenor lautete: Wir müssen aggressiv und
gnadenlos vorgehen. Gott ist damit einverstanden. Später habe ich in
der Zeitung »Haaretz« von ähnlichen Vorfällen gehört. Wir waren also
keine Ausnahme.
(...) Im Panzer fühlt man den Feind nicht wirklich. Oft hatten wir
Langeweile, weil nicht so viel zu tun war, also keine Kämpfe
stattfanden. Umso mehr fanden eine Menge Leute meiner Panzerkompanie
Gefallen daran, auf Häuser zu feuern.
(...) In meiner Panzertruppe hatten einige Soldaten Fragen zur Ethik
und sprachen unseren Vorgesetzten auf Unschuldige an. Er antwortete,
dass wir uns im Krieg befinden würden und wir nicht zögern sollten,
alles zu zerstören, Moscheen und alles, was wir als Bedrohung
definieren. Die Grundeinstellung war, das Feuer zu eröffnen und nicht
über die Folgen nachzudenken.
Unverhältnismäßige Bombardierung
(...) Ich kann mich nicht genau erinnern, wie weit der Umkreis der
Zerstörung bei dem Abwurf einer Bombe war. Zwischen 30 und 50 Meter pro
Bombe müssen es gewesen sein. Es waren sehr zielgerichtete Bomben,
allerdings fliegen die Splitter sehr weit. (...) Einmal erhielt ich den
Befehl, mehrere Bomben abzuwerfen. Erst später realisierte ich, dass
ich Wohnsiedlungen unter Beschuss nahm. Ich weiß nicht, wie viele
Zivilisten noch dort waren und ob wir welche getötet haben. Nach dem
Abwurf sagte man uns per Telefon durch, wie unsere Trefferquote war.
(...) Obwohl ich ein schlechtes Gefühl dabei hatte, Krankenhäuser und
Schulen zu zerstören, habe ich mich gefreut, als die Nachricht kam,
dass wir drei Hamas-Mitglieder, darunter sogar einen Führer, getötet
hatten. (...) Ein Bataillonsführer sagte uns einmal: »Mein bester
Arabisch-Dolmetscher ist mein Granatwerfer.«
(...) Das Bombardieren könnte man schon als wahnsinnig bezeichnen. Wir
haben die Anweisung erhalten, wenn wir durch die Hamas bombardiert
werden, sollten wir zehnmal so viele Bomben abwerfen. Das weitet den
Umkreis, der von der Bombe erfasst wird, natürlich aus. Das war Teil
des Plans. (...) Wir haben nie eine einzige Bombe abgeworfen. Es waren
immer mindestens drei. Die landen natürlich nie exakt an der gleichen
Stelle. Somit ist die Zerstörung größer. (...) Mehrfach hörte ich, wie
per Armeesender die Genehmigung erteilt wurde: »Phosphor in die Luft.«
Zu welchem Zweck das gut war, weiß ich nicht. Ich schätze, wir haben
das gemacht,, weil es cool ist. (
)
(...) Wir waren auf dem Weg zurück zu unserer Einheit. Auf einmal
hatten wir ein komisches Gefühl unter den Füßen. Als wir auf den Sand
schauten, sah es so aus, als wären mehrere Tausend Glasflaschen
zerbrochen und brauner Dreck lag über dem Sand. Da wussten wir, dass
hier Bomben mit weißem Phosphor abgeworfen wurden. 200 bis 300
Quadratkilometer sahen so aus. Das hat uns ziemlich aufgebracht. Denn
während unserer Ausbildung wurde uns beigebracht, dass Phosphor-Bomben
nicht zum Einsatz kommen dürfen. Wir haben zahlreiche Filme gesehen,
die gezeigt haben, wie unmenschlich diese Waffen sind. Uns hat es
schockiert, dass wir sie nun selber einsetzen. (...) Bis zu diesem
Zeitpunkt habe ich gedacht, ich sei bei einer Armee mit hohen
moralischen Werten. Aber da habe ich mich wohl geirrt.
Wahnsinnige Zerstörungen
(...) Uns wurde nicht mitgeteilt, was Ziel des Krieges war. Wir hatten
nur die Anweisung, Gaza völlig zu zerstören. (...) Wir sollten Häuser
und alle Gebäude, darunter auch Krankenhäuser, Moscheen und Schulen
auslöschen. (...) Ein Befehl lautete, wir sollen darauf achten, dass
keine Soldaten getötet werden. Das heißt, wir haben immer zuerst das
Feuer eröffnet, wenn wir ein Haus oder ein Zimmer betreten haben, ohne
zu wissen, ob Zivilisten dort waren.
(...) In einem Haus, dass wir gestürmt hatten, hatte sich eine ganze
Familie vor den Bomben versteckt. Es waren eine Frau, ihr Mann, zwei
Babys und ein Großvater. Sie hatten unter einer Treppe am Eingang des
Hauses Schutz gesucht. Beim Stürmen des Hauses haben wir einfach
losgefeuert. Dabei hat unser Vorgesetzter den Großvater getötet. Er
konnte ja nicht sehen, auf wen er da schießt. (...) Nach diesem Vorfall
hatte ich mir vorgenommen, einem höheren Offizier zu schreiben, was für
schreckliche Sachen in unserer Einheit passiert sind. Eigentlich hätten
es einige unter uns verdient, ins Gefängnis zu gehen.
(...) Es gab Soldaten, denen hat es nicht gefallen, dass Zivilisten mit
Terroristen gleichgesetzt wurden. Den meisten war es egal. Solange es
»nur Araber« waren, die sie umbrachten, war es okay. Vor allem für die
Jüngeren. Für sie war es wie ein großes Abenteuer. Die israelische
Nichtregierungsorganisation (NRO) »Breaking the Silence« (»Das
Schweigen brechen«) wurde vor fünf Jahren von ehemaligen Soldatinnen
und Soldaten gegründet, die in den besetzten Gebieten ihren Dienst
ableisteten. Mit der Enttabuisierung des Traumas fördert die NRO eine
offene Debatte über die Folgen der Besatzung sowohl für die
Palästinenser als auch für die Soldaten selbst. So trägt die
Organisation dazu bei, auf der israelischen Seite offene Diskussionen
über die Beachtung der Menschenrechte und eine Aufhebung der
gewaltsamen Besatzung zu führen. Die Mitglieder von »Breaking the
Silence« sammeln Zeugnisse, die sie in Dokumentationen, Ausstellungen
und Filmen präsentieren. Bei Führungen durch die Stadt Hebron zeigen
sie, welche Auswirkungen die Besetzung der Altstadt durch israelische
Siedler und Armee für die palästinensischen Bewohner hat. Über 5000
dieser geführten Touren hat die Organisation in den letzten Jahren
durchgeführt, unter anderem nahmen Knesset-Mitglieder, ausländische
Diplomaten und Parlamentarier (auch Mitglieder des Bundestages) und
Journalisten daran teil. Die israelische Armee hat immer wieder mit
Repressionen auf die geführten Hebron-Touren reagiert unter dem
Vorwand, diese würden provozieren und den öffentlichen Frieden stören.
Übersetzung und Bearbeitung: Nissrine Messaoudi