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Sie gießen Blei
Von Uri Avnery
ND, 03.01.2009 / Titel / Seite 1
http://www.neues-deutschland.de/artikel/141585.sie-giessen-blei.html
Uri
Avnery, israelischer Journalist und Schriftsteller (85), Träger des
Aachener Friedenspreises und des Alternativen Nobelpreises, war in den
1960er und 1970er Jahren Abgeordneter der Knesset. Übersetzung aus dem
Englischen: Lilian-Astrid Geese
Kurz nach Mitternacht. Das
arabische Programm von Al-Dschassira berichtet aus Gaza. Plötzlich
dreht die Kamera nach oben: Der Himmel ist dunkel, das Bild bleibt
schwarz. Nichts zu sehen. Nur Töne: Flugzeuglärm, ein furchterregendes,
schreckliches Dröhnen. Unmöglich, nicht an zehntausende Kinder in Gaza
zu denken, die in diesem Moment genau dieses Geräusch hören. Vor Angst
erstarrt erwarten sie den Bombenhagel.
»Das Land muss sich vor dem Raketenterror gegen unsere Städte im Süden
schützen«, sagt ein Sprecher Israels. »Die Palästinenser müssen auf die
Morde im Gazastreifen reagieren«, erklärt der Vertreter der Hamas.
Dies ist nicht das Ende der Waffenruhe, die Waffen haben nie wirklich
geruht. Damit sie es könnten, müssten die Grenzübergänge geöffnet
werden: Ohne regelmäßige Versorgung kann es in Gaza kein Leben geben.
Doch die Grenzübergänge blieben, von ein paar Stunden dann und wann
abgesehen, geschlossen. Die Blockade der Land-, See- und Luftwege gegen
1,5 Millionen Menschen ist ebenso ein Kriegsakt wie das Abwerfen von
Bomben oder der Abschuss von Raketen. Sie lähmt das Leben im
Gazastreifen: Es gibt kaum Arbeit, Hunderttausende leiden Hunger,
Krankenhäuser funktionieren nicht mehr, Strom- und Wasserversorgung
sind unterbrochen.
Jahrelang förderten die Besatzungsbehörden die islamische Bewegung in
den besetzten Gebieten. Während andere politische Aktivitäten rigoros
unterdrückt wurden, durfte sie in den Moscheen aktiv sein. Es war eine
einfache – und naive – Rechnung: Der Hauptfeind war die PLO, Yassir
Arafat der Dämon. Die islamische Bewegung predigte gegen die PLO und
Arafat, und galt so als Verbündete.
Mit dem Beginn der Ersten Intifada 1987 gab sich die islamische
Bewegung einen neuen Namen. Sie nannte sich »Hamas«, ein arabisches
Akronym für »Islamische Widerstandsbewegung«, und schloss sich dem
Kampf an. Damals ließ der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet die
Hamas lange Zeit ungeschoren, während Mitglieder der Fatah eingesperrt
oder exekutiert wurden.
Doch das Blatt hat sich gewendet, heute gilt die Hamas als Dämon.
Weitreichende Konzessionen gegenüber der Führung der PLO und Fatah
wären das Gebot der Logik für eine an Frieden interessierte israelische
Regierung gewesen: ein Ende der Besatzung, ein Friedensabkommen, die
Gründung des Staates Palästina, Rückzug auf die Grenzen von 1967, eine
vernünftige Lösung für die Flüchtlinge, Freilassung aller
palästinensischen Gefangenen. Dies hätte ein Beitrag gegen das
Erstarken der Hamas sein können.
Doch nichts davon geschah. Im Gegenteil: Mahmud Abbas, dem Nachfolger
Arafats, sollte nicht der geringste politische Erfolg vergönnt sein.
Die Verhandlungen unter amerikanischer Ägide waren ein Witz. Der
authentischste Führer der Fatah, Marwan Barghouti, wurde zu einer
lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Statt der Freilassung von
Gefangenen gab es nur lächerliche »Gesten«. Die Fatah erschien
schließlich als leere Hülse und Hamas gelang ein überwältigender Sieg
bei den palästinensischen Wahlen. Israel boykottierte die gewählte
Regierung und in der folgenden internen Auseinandersetzung übernahm
Hamas die direkte Kontrolle über den Gazastreifen.
Jetzt, nach all dem, hat die israelische Regierung beschlossen, »der
Herrschaft der Hamas in Gaza ein Ende zu bereiten« – ein blutiges, von
Feuer und Rauchsäulen geprägtes dazu. Das strategische Konzept ist das
gleiche wie im letzten Libanon-Krieg: ununterbrochene Luftangriffe
sollen die Bevölkerung terrorisieren, Tod und Zerstörung bringen. Für
die Piloten besteht keine Gefahr, da die Palästinenser nicht über
Luftabwehrwaffen verfügen. Die Berechnung lautet: Wenn die
Infrastruktur in Gaza erst einmal komplett vernichtet ist, folgt
Anarchie. Die Bevölkerung wird sich erheben und das Regime der Hamas
stürzen. Und dann kehrt Mahmud Abbas zurück nach Gaza – auf dem Rücken
israelischer Panzer.
Vor einiger Zeit schrieb ich, dass die Blockade Gazas ein Experiment
sei: Man wolle herausfinden, wie lange man eine Bevölkerung Hunger
leiden lassen und ihr Leben zur Hölle machen könne, bevor sie breche.
Dieser Test erfolgt mit großzügiger Hilfe Europas und der USA. Bis
heute allerdings ohne Erfolg. Die Hamas ist stärker geworden, die
Kassam-Raketen fliegen weiter denn je.
Jeden Tag, jede Nacht sendet das arabische Programm von Al-Dschassira
die Schreckensbilder: verstümmelte Körper, verzweifelte Menschen, die
ihre Angehörigen in den Leichenbergen suchen, eine Frau, die ihre
kleine Tochter unter den Trümmern hervorzieht, Ärzte ohne Medikamente,
die versuchen, das Leben der Verwundeten zu retten. (Al-Dschassira in
englischer Sprache zeigt übrigens nur noch gesäuberte Bilder, es wäre
interessant zu erfahren, warum.)
Millionen in der arabischen Welt sehen diese schrecklichen Bilder, sie
prägen sich für immer in ihrem Bewusstsein ein und erfüllen eine
weitere Generation mit Hass. Das ist der furchtbare Preis, den wir
weiter zahlen werden, wenn alle anderen Kriegsfolgen in Israel längst
vergessen sind.
Doch noch etwas anderes prägt sich in den Köpfen ein: das Bild der
jämmerlichen, korrupten und passiven arabischen Regimes. Für die 1,5
Millionen Araber in Gaza ist das einzige nicht von Israel kontrollierte
Tor zur Welt die ägyptische Grenze. Nur über sie können lebensrettende
Nahrung und Medikamente zu den Verletzten gelangen. Doch die ägyptische
Armee hat den einzigen Zugang gesperrt. Die Ärzte operieren ohne
Narkosemittel weiter.
Dieser Krieg stärkt den islamischen Fundamentalismus, er ist das
Menetekel: Israel verpasst die historische Chance, mit dem säkularen
arabischen Nationalismus Frieden zu schließen. Morgen schon wird das
Land vielleicht mit einer einheitlich fundamentalistischen arabischen
Welt konfrontiert sein: die Hamas tausendfach multipliziert.
Mein Taxifahrer in Tel Aviv dachte dieser Tage laut nach: Warum ruft
man nicht die Söhne der Minister und Knessetmitglieder zusammen, bildet
eine Kampfeinheit und schickt sie beim zu erwartenden Bodenkrieg gegen
Gaza als erste in den Kampf?