„100 Jahre Tel Aviv“
– eine Geschichte der Zerstörung und
Vertreibung
In der Entstehung Tel Avivs, wie auch den Jubiläumsfeiern zu den recht
willkürlich angesetzten „100 Jahren“ seines Bestehens, spiegeln sich
Geschichte wie Mythos der Entstehung des gesamten Staates.
Folgt man den typischen Bildern der Gründung Tel Avivs, so scheint die
Stadt auf leeren Dünen erbaut zu sein. Tatsächlich ging sie aus der
jahrtausende alten arabischen Metropole Jaffa hervor. Sie wuchs auf dem
Boden seiner Stadtteile sowie von Dörfern, die 1948 zerstört und deren
Bewohner ermordet und vertrieben wurden. Die 100-jährige Geschichte Tel
Avivs ist somit gleichzeitig die Geschichte des Untergangs des alten
arabischen Jaffas, das 1948 nahezu völlig entvölkert wurde. Sinniger
Weise wurde der „Unabhängigkeitspark“ Tel Avivs auf einem muslimischen
Friedhof errichtet.
In der offiziellen Stadtgeschichte kommt dies alles nicht vor, kaum
etwas erinnert an die ursprüngliche palästinensischen Stadtviertel und
Dörfer. In Tel Aviv sind es nur kleine Gruppen, wie „Zochrot“ (Sich
Erinnern), die sich bemühen, die wirkliche Geschichte der israelischen
Hauptstadt in Erinnerung zu rufen. Ihre alternative Tour zum Jubiläum
führte zu den Orten wo einst folgende Orte lagen:
Das Dorf
Scheich Munis
(al-Shaykh Muwannis): 1944 gab es dort 273 Häuser und 1.930
Einwohner. Im März 1948 wurde dieses Dort von jüdischen terroristischen
Milizen der sogenannten „Stern Gang“ eingenommen, deren Führer der
spätere israelische Premierminister Jitchak Shamir war. Die Einwohner
wurden vertrieben und das Dorf von jüdischen Einwanderern besetzt.
Heute steht auf diesem Grund die Universität von Tel Aviv und das
elegante Wohnviertel Ramat Aviv.
Der Fakultäts-Club der Universität, „das Grüne Haus“, war vor 1948 das
Haus des Bürgermeisters. Dies wird von der Universität an keiner Stelle
erwähnt. Nach Ilan Pappe ist „das Grüne Haus“ der Inbegriff der
Verdrängung des zionistischen Generalplans für die ethnische Säuberung
Palästinas, der in Tel Aviv im Roten Haus in der Yarkon Strasse
fertiggestellt wurde.
Das Dorf
Al-Mas'udiyya (ehemals
Samayl): Es bestand aus 187
Häuser hatte 850 Einwohner, Plantagen, Viehzucht, Handwerk. Das Dorf
wurde im März 1948 von der Haganah, der Vorläuferin der israelischen
Armee, geräumt, die Bewohner vertrieben. Heute steht auf diesem Grund
das Arlosoroff/Ibn Gvirol Viertel.
Das Dorf
Jammasin al-Gharbi war bereits 1596 in osmanischen
Grundbüchern registriert. Im 18. Jahrhundert gründeten Beduinen aus dem
Jordantal das Dorf neu. Es gab hier Plantagen und Büffelzucht. Im
Januar 1948 wurden die Einwohner von der Haganah vertrieben. Heute
erstreckt sich hier das Bavli Viertel im Nordosten Tel Avivs.
Das Dorf Salama wird schon im 16. Jahrhundert erwähnt. Im Jahr
1944 lebten hier 6.670 Einwohner. Aufgrund des Widerstandes wurde
Salama 1948 bombardiert, die Bewohner vertrieben, die übrig gebliebenen
Häuser von jüdischen Familien besetzt. Übrig blieben nur einige Ruinen,
auf seinem Grund liegt heute der Stadtteil
Kfar Shalem.
Al Manshiya war Anfang des 19. Jahrhundert ein ethnisch und religiös
gemischtes Viertel Jaffas. Dort befand sich das erste jüdische Spital.
1948 wurde der Stadtteil von der rechtsradikalen Miliz „Irgun“ unter
Führung des späteren Premierminister Menachem Begin zerstört. Die
palästinensisch-arabischen Einwohner wurden vertrieben.
Erhalten ist noch die Baalbek Moschee, in der sich heute das
Dolphinarium, Hotels, Büros und das Museum der „Irgun“, d.h. der
Zerstörer des Viertels befinden.
Das Dorf Mantekat Al-Sayadin war ein Fischerdorf an der Mündung
des Jarkon Flusses, im Norden Tel Avivs. Es wurde 1948 zerstört und die
Bewohner vertrieben. Heute steht dort ein Kraftwerk. In der Nähe,
nördlich des Hafens von Tel Aviv, lebte der Beduinenstamm Abu Jabne,
der ebenfalls vertrieben worden ist.
Glockenturm von Jaffa um 1914
(Matson Collection) |
Die Stadt
Jaffa war die hatte nach einem
Bericht der britischen
Mandatsverwaltung an die UNO 1945 ca. 100.000 Einwohner, 70.000 davon waren
muslimische und christliche Araber, d.h. Palästinenser, 30.000 Juden. Während
Tel Aviv im UN-Teilungsplan dem jüdischen Staat zugeschlagen wurde, sollte Jaffa
zum arabischen Staat gehören.
Am 14. Mai 1948 wurde Jaffa von den israelischen Milizen der Hagana und des
Irgun eingenommen, über 65.000 Palästinenser flohen oder wurden vertrieben. Die
knapp 5.000 Bewohner, die blieben, mussten in den Stadtteil al-Ajami ziehen, der
vollständig eingezäunt und vom Rest der Stadt abgetrennt wurde.
Die zionistischen Eroberer begannen bald den größten Teil der arabischen Viertel
Jaffas zu zerstören. Neben dem zum Ghetto gemachten al-'Ajami überlebten nur die
Altstadt und ein kleiner Teil von Al Manshiya die Verwüstung. Der einst
bedeutende Hafen Jaffas wurde geschlossen.1954 wurden die Reste Jaffas Tel Aviv
angegliedert, viele Straßen und Plätze wurden nach zionistischen
Persönlichkeiten und Organisationen umbenannt. Jaffas zentraler Platz beim
Glockenturm heißt heute Haganah-Platz.
Heute leben ca. 20.000 Palästinenser in Jaffa, immer noch überwiegend in
al-Ajami. Die Altstadt von Jaffa mit ihren engen, verwinkelten Gassen ist eine
Künstlerkolonie mit Galerien und Restaurants, fast ausschließlich bewohnt von
jüdischen Israelis.
Die Eroberung Jaffas und die damit einhergehende Flucht und Vertreibung der
arabischen Bevölkerung wird heute in einem Museum gefeiert, das auf den Ruinen
eines arabischen Hauses errichtet wurde und "Museum für die Befreiung Jaffas"
heißt.
Rund 80 Prozent der Bewohner Gazas sind Flüchtlinge, die 1948 aus Jaffa gekommen
sind. Ihnen wird, wie allen palästinensischen Flüchtlingen, bis heute die
Rückkehr verwehrt. Israel und seine Verteidiger behaupten, die Palästinenser
wären nicht vertrieben worden, sondern von sich aus geflohen. Doch selbst wenn
dies wahr wäre, mit der Verweigerung der Rückkehr, wurde es so oder so zur
Vertreibung.
Blick vom Meer auf auf Jaffa, 1898-1914. (Matson Collection)
Der Untergang der Orangen-Stadt
Jaffa war die größte und bedeutendste Stadt des historischen Palästina. Seit
Anfang des 19. Jahrhunderts wurden von hier Zitrusfrüchte in alle Welt
exportiert, vor allem Orangen, "Jaffa-Orangen". Mit der wachsenden Nachfrage
blühte auch Jaffa zur Metropole auf.
In den 1930er Jahren wurden zig Millionen Kisten mit Zitrusfrüchten exportiert.
Parallel war eine breit gefächerte Industrie entstanden, die von
Nahrungsmittelfabriken bis zu glas- und metallverarbeitenden Betrieben reichte.
Die dritte bedeutende Einnahmequelle Jaffas vor 1947 war der Tourismus.
Alljährlich zog die schöne Stadt mit ihren zahlreichen historischen Stätten
zehntausende Reisende aus Europa und den USA an.
Jaffa war damals auch die kulturelle Hauptstadt Palästinas, in der die meisten
Zeitungen gedruckt wurde.
All dies wurde ab 1948 zerstört. Mit der Judaisierung des Rests wird bis heute
versucht auch die Geschichte der Stadt auszulöschen. Sie stünde dem
Gründungsmythos Israels vom Aufbau des Staates praktisch aus dem Nichts
diametral entgegen. Letztlich war es ein gewaltiger, bewaffneter Raubüberfall.
Die Obst-Plantagen wurden von jüdischen Siedlern übernommen. Ihr Export war zu
Beginn die Haupteinnahmequelle des neuen jüdischen Staates. Die einstigen
Besitzer, so sie nicht vertrieben wurden, waren nun gezwungen auf ihren eigenen
Plantagen als Tagelöhner für Hungerlöhne zu schuften. Die Jaffa-Orangen füllen
immer noch die Regale westlicher Supermärkte, seit über 60 Jahre jedoch als
Hehlerware.
Und die Zerstörungen, der Verfall und Vertreibungen gehen weiter.
Die palästinensischen Viertel wurden systematisch vernachlässigt. Palästinenser
erhalten für Renovierungen, Aus- oder Neubau keine Genehmigungen, daher
zerfallen die Gebäude zunehmend.
Über 500 Familien sind erneut von Vertreibungen bedroht. Ihre Häuser sollen
abgerissen werden, weil sie angeblich illegal errichtet wurden. Andere sie
müssen ausziehen, weil ihre Wohnungen angeblich Eigentum des Staates wurden. Bei
ihnen handelt es sich um Familien, die 1948 aus ihren Dörfern flüchten mussten
und sich in den Häusern einquartierten, deren Bewohner aus dem Land getrieben
wurden. Die Häuser von geflohenen Arabern wurden im gesamten Staat
beschlagnahmt. In Jaffa ließ er die Flüchtlinge bisher dort wohnen - jedoch nur
so lange, bis die Grundstückspreise stiegen und eine profitablere Verwertung
möglich wurde.
Diese Vertreibungen gehen daher einher mit einer fortschreitenden
Gentryfizierung der palästinensischen Viertel. Obwohl völlig runtergekommen sind
sie als strandnahes Bauland sehr begehrt. Wohlhabendere Tel-Aviver, die den
Blick aufs Meer und die Nähe zum Strand suchen, kaufen sich ein, die
alteingesessene Bevölkerung muss gehen. (siehe
Das Stadtviertel Jaffa, der
arabische Teil von Tel Aviv, ORF1, 18.07.2009)
Für eine ausführliche Schilderung des Untergangs von Jaffa siehe Sami Abu
Shehadeh & Fadi Shbaytah,
Jaffa: from
eminence to ethnic cleansing, The Electronic Intifada, 27.2.2009.
Zochrot -
Homepage engl.
Zochrot (Hebräisch: "Wir erinnern uns")
ist eine israelische Organisation, die 2002 von Eitan
Bronstein gegründet wurde. Ihr Ziel ist es, die in Israel
ignorierte, geleugnete Nakba, d.h. Vertreibung
und Flucht der Palästinenser in den Jahren 1948/49 als
zentrales geschichtliche Ereignis in Erinnerung zu rufen.
Eine gerechte Lösung für den Konflikt muss nach Ansicht
von Zochrot gegründet sein auf der Anerkennung des
damaligen Unrechts und auf der Einhaltung der Gleichheit
für alle Menschen der Region, einschließlich des Rechts
der Flüchtlinge heimzukehren in einen Staat, der allen
Bürgern gehört unanhängig von Religion und ethnischer
Herkunft. Zochrot organisiert Touren zu palästinensischen
Orten, die 1948 zerstört wurden, sammelt die
Zeugenaussagen von Überlebenden arbeitet mit regionalen
Lehrergruppen zusammen, und beherbergt im Learning Center
Tel Aviv beherbergt Archivmaterialien über die Nakba.
...
Eine Stadt, die aus dem Sand erstanden ist, ein leeres
Feld sei der Ort gewesen, auf dem Tel Aviv errichtet
wurde - so lautet der gängige Mythos. Doch wie so viele
Mythen ist auch dieser nicht ganz richtig, denn dort, wo
heute Tel Aviv steht, lagen früher mehrere Dörfer, deren
arabische Einwohner 1948 vertrieben wurden, sagt Eitan
Bronstein von der Organisation "Zochrot". "Zochrot"
heißt Erinnern, und die hauptsächlich von jüdischen
Israelis getragene Organisation will das Andenken an die
arabische Vergangenheit des Landes aufrechterhalten.
Zochrot organisiert Touren zu früheren palästinensischen
Orten, verteilt Stadtpläne von Tel Aviv mit Hinweisen
auf frühere arabische Besiedlungsstrukturen oder macht
auf die Vergangenheit von Jaffa aufmerksam, indem die
Aktivisten die Straßenschilder mit den alten, arabischen
Namen überkleben.
"Diese Schilder werden dann immer in ganzer kurzer Zeit
wieder entfernt, und ich glaube, das liegt daran, dass
wir damit einen zentralen Nerv Israel treffen", meint
Eitan Bronstein. "Wir zeigen damit, dass hier Leben war,
eine große Zivilisation, und zwar genau da, wo wir heute
leben, manchmal sogar in denselben Häusern. (...) Das
ist für viele Israelis eine sehr herausfordernde Aktion,
sie wollen das nicht sehen und können damit nicht
konstruktiv umgehen."
Außenseiter Zochrot
Das Logo von Zochrot ist ein Schlüsselloch. Das ist eine
Anspielung auf das palästinensische Symbol der Nakba
(Katastrophe) genannten Vertreibung von 1948. Die
Schlüssel erinnern an die verlassenen Häuser, und
Zochrot will das Schlüsselloch sein, denn die
Organisation setzt sich für das volle Rückkehrrecht der
Araber ein.
(aus Das
Stadtviertel Jaffa, ORF1, 18.07.2009)
Mehr zu Zochrot siehe "Ohne
Erinnerung keine Zukunft - Die jüdisch-israelische
Initiative Zochrot und ihre ungewöhnliche
Gegengeschichtsarbeit". medico international, 7.12.2009