Alte Feinde, neue Feinde
Von einem drohenden
Weltkrieg, runderneuertem Faschismus und den jüngsten Mutationen der
sogenannten Antideutschen – und wie der Widerstand gegen all dies
aufgebaut werden könnte
Jürgen Elsässer
junge Welt, 02.08.2006 / Thema / Seite 10
http://www.jungewelt.de/2006/08-02/003.php
Als die Wehrmacht am 1. September 1939 in Polen einfiel, wußten die
meisten Zeitgenossen nicht, daß dies der Beginn des Zweiten Weltkrieges
war. Auf den ersten Blick sah es nach einem Regionalkonflikt aus, wie
zuvor in Spanien, Abessinien, Österreich und der Tschechoslowakei. Daß
daraus ein sechsjähriges globales Inferno werden sollte, das erst mit
dem Abwurf der Atombomben in Ostasien sein Ende finden würde, ahnten
nur die Klügsten.
Und heute? Nach der Front in Afghanistan und im Irak ist im Libanon
eine dritte eröffnet worden. Freilich sieht es ganz danach aus, daß
dieser Feldzug genauso im blutigen Morast steckenbleibt wie die beiden
anderen. Aber gerade dann wird es heißen: Die Hisbollah konnte uns nur
die Stirn bieten, weil sie von Damaskus und Teheran unterstützt wird.
Ein »neuer Naher Osten« (Condoleezza Rice) sei nur möglich, wenn diese
Regime beseitigt würden. Der Angriff auf Syrien und Iran aber würde die
bisher disparaten Brandherde zu einem einzigen Feuersturm
zusammenfassen.
»Shalom, der Krieg muß sein«
Am vergangenen Freitag gab es eine Premiere: Zum ersten Mal hatten
sogenannte antideutsche Gruppen Redner der CDU für eine ihrer
Demonstrationen gewinnen können. »Für Israel – und sein Recht auf
Selbstverteidigung« hatten die Zeitschrift Bahamas und ihre Satelliten
aufgerufen, erst im zweiten Schritt hatte sich dann die Jüdische
Gemeinde zu Berlin mit einem Flugblatt »Für Frieden – gegen Terror von
Hisbollah und Hamas« angeschlossen. Auf die Redner einigte man sich
dann einvernehmlich: Unter anderem Eckart von Klaeden, der
außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; Michel
Friedman, früherer Vize im Zentralrat der Juden und CDU-Vorständler;
sowie Thomas von der Osten-Sacken, beliebter Autor von Konkret und
Jungle World.
Wo sich der Aufruf der jüdischen Gemeinde kurz angebunden zum Kampf
gegen den Terror und gegen die Vernichtung Israels bekennt, holt die
Erklärung der Antideutschen zur großen Abrechnung aus. Ihnen geht es
nicht nur um die »Bekämpfung der Hisbollah« (Jüdische Gemeinde),
»besser« sei »die vollständige Zerschlagung der Hisbollah«. Nicht
allein der aktuelle Feldzug an sich, sondern auch seine ganz konkrete
Art der Durchführung werden gefeiert: Er sei »der angemessene Preis für
das, was die Mörderbanden bereits getan haben, sowie für das, was sie
noch vorhaben«. Und was ist mit den Hunderttausenden auf der Flucht,
den 600 Toten, den zerstörten Wohnquartieren, den 200 zerfetzten
Kindern, dem Einsatz von Streubomben? Die Bahamas-Jungs wissen es:
»Wenn da einer alles daran setzt, Zivilisten zu schonen, dann ist es
Israel.« Im übrigen sei »das, was Israel derzeit militärisch
unternimmt, das mindeste, was zu tun um des eigenen Überlebens
unverzichtbar ist«. Das mindeste? Soll wohl heißen: Wenn wir, die
Antideutschen, im Generalstab säßen, könnten wir noch ganz anders.
Auch der antideutsche Publizist Matthias Küntzel ist mit dem
Kampfeswillen der Juden nicht so recht zufrieden. »Ungeduldig zog ich
gestern Die Zeit und die Jüdische Allgemeine aus dem Briefkasten. Ich
wollte wissen, ob Israels Offensive gegen die Marionetten des Iran
wenigstens hier unterstützt und endlich ein ›Bravo, Israel!‹ zum
Ausdruck gebracht wird.« Doch welche Enttäuschung für Küntzel: »Statt
dessen sah die Jüdische Allgemeine Israel – so die fatalistische
Schlagzeile – ›In der Falle‹.« An der Zeit mißfällt dem Antideutschen
vor allem der Satz: »Die Welt muß Israel helfen, sich zu wehren – aber
auch, Maß zu halten!« Er kontert: »Doch was, um Himmels willen, ist am
Vorgehen der israelischen Streitkräfte eigentlich verkehrt?« Der
Redaktion von Spiegel-online hat das Pamphlet so gut gefallen, daß sie
Küntzel gleich zum Nachschlag aufforderte. »Während die Hisbollah durch
den Einsatz von Streubomben auf israelische Bevölkerungszentren so
viele Zivilisten wie möglich töten will, sucht Israel, die Zahl der
zivilen libanesischen Opfer so gering wie möglich zu halten, auch wenn
dies die Militäreinsätze erschwert«, durfte man dann in einem der
größten deutschen Internetportale lesen. Gegenüber diesen Lügen von
geradezu Goebbelsscher Qualität fällt Osten-Sacken in der Printausgabe
der Welt etwas ab. Die Europäer sollten »endlich aufhören, von Frieden
zu reden, wenn sie Appeasement mit totalitären, antisemitischen
Regierungen und Bewegungen meinen«, bescheidet der Nahostexperte
bündig. »Shalom, der Krieg muß sein«, titelt schließlich die aktuelle
Ausgabe der Jungle World.
Es blieb einmal mehr Altmeister Hermann Gremliza vorbehalten, seinen
Nachwuchs noch in den Schatten zu stellen. Im Editorial der
August-Ausgabe von Konkret schreibt er: »Dieser Krieg, der lange dauern
und mit sehr wechselndem Einsatz geführt werden kann, endet entweder –
und im besten Fall – mit der vollständigen Entwaffnung von Hamas,
Dschihad, Al-Aksa-Brigaden und Hisbollah, bis zu welcher die Räumung
der Westbank aufgeschoben wird, oder mit einem ganz anderen Krieg, in
dem Israel jene Staaten, die eine zweite ›Endlösung der Judenfrage‹
betreiben, Syrien und den Iran allen voran, mit jeder Waffe angriffe,
die ihm zu Gebote steht.«
Diesen Drechselsatz sollte man sich einrahmen– er formuliert das
Programm für einen atomaren Weltkrieg. Im Unterschied zur israelischen
Regierung will der Konkret-Chef nicht nur Hisbollah entwaffnen, sondern
alle militanten arabischen und islamischen Gruppen. So lange könne es
keinen Frieden und schon gar keinen Rückzug aus dem Westjordanland
geben. Falls die Entwaffnung dieser Gruppen nicht gelänge– und jeder
Militärexperte weiß, daß sie nicht gelingen kann –, müsse Israel zuerst
(»allen voran«) Syrien und den Iran angreifen, also vermutlich noch
weitere Staaten – und zwar »mit jeder Waffe, die ihm zu Gebote steht«.
Israel stehen unter anderem, das weiß Gremliza, schätzungsweise 200
Atombomben zu Gebote.
Der Aufstieg der Neocons
Bemerkenswert ist, daß diese Exlinken mittlerweile, je verbissener sie
für den Krieg trommeln, vom Mainstream beachtet und gefördert werden.
Osten-Sacken in der Welt, Küntzel bei Spiegel-online, in Cicero und bei
der Konrad-Adenauer-Stiftung, Konkret-Autor Markus Bickel in FAZ und
Zeit – das ist ausbaufähig. Der große Karrierevorteil der Antideutschen
ist, daß nur sie so kaltschnäuzig Auschwitz instrumentalisieren können
wie die in Washington tonangebenden Neocons.
»Es gibt für die Amerikaner keinen Mittelweg: Es geht um Sieg oder
Holocaust« – das ist das Credo, mit dem Sicherheitsberater Richard
Perle und David Frum, der Redenschreiber von George W. Bush, zu immer
neuen Kriegen aufhetzen. Angriff auf jeden möglichen Staat, dem man
eine »zweite Endlösung der Judenfrage« andichten kann – das ist auch
Gremlizas Wahnidee. Bush verkündete nach dem 11. September, man werde
beim »Krieg gegen den Terror« keinen Unterschied machen zwischen den
Gewalttätern und den Staaten, die sie beherbergen. Das ist die Parole,
unter der Israel den Libanon einäschert– zum Entsetzen der Welt, aber
unter dem Beifall der Antideutschen. Vergleichbar ist auch die
unterschiedslose Feinderklärung an alles und jeden ohne selbst
oberflächliche Kenntnisse über die jeweiligen Gesellschaften und
Großregionen. Bei Gremliza wird Syrien mit dem Iran in einen Sack
gesteckt, Hisbollah mit Hamas und mit der PLO. Bei Perle und Frum ist
zu lesen: »Religiöse Extremisten und laizistische Militante, Sunniten
und Schiiten, Kommunisten und Faschisten – im Nahen Osten verschmelzen
diese Kategorien miteinander.«
Kurz und gut: Die ursprünglich als Antideutsche angetreten sind, haben
sich im Laufe der Jahre zum durchaus deutschen Ableger der Neocons
gemausert. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß auch das
amerikanische Neocon-Original frühere Linke inkorporiert hat, und zwar
die Derivate der trotzkistischen Socialist Workers Party (USA) eines
gewissen Max Shachtman. Die zweite Generation ihrer Kader schloß sich
aus Haß auf den orthodoxen Kommunismus und die Sowjetunion in den
sechziger Jahren zunächst der Demokratischen Partei und schließlich,
als diese sich Anfang der siebziger Jahre stärker vom Vietnamkrieg
absetzte, den Republikanern an. Nach dem Amtsantritt von Präsident
Ronald Reagan 1980 gelang der Sprung in den Vorhof der Macht: William
Kristol, Sohn des Shachtman-Inspirators Irving Kristol, wurde Stabschef
bei Reagans Vize Dan Quayle. Seit Mitte der Neunziger sind die Neocons
bei den Republikanern tonangebend, ihr Project for a New American
Century (PNAC) ist die Blaupause für die derzeitigen und künftigen
Kriege. Unter Bush jun. gelangten zehn der 18 Unterzeichner des
PNAC-Manifestes in die Regierungsmannschaft, neben Perle und Frum noch
Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz, Douglas Feith als Nummer drei
im Pentagon, Lewis Libby als Büroleiter von Vizepräsident Dick Cheney
sowie der aktuelle UN-Botschafter John R. Bolton. »Die Tatsache, daß
die meisten der jüngeren Neocons niemals links waren, ist unbedeutend;
sie sind die intellektuellen ... Erben älterer Exlinker«, faßte Michael
Lind im Labourorgan New Statesman zusammen.
Fragen an die Antifa
Was bei den Neocons und ihren deutschen Ablegern erschreckt, ist die
Kälte, mit der sie den Massenmord kalkulieren und beklatschen, und die
konsequente Mißachtung des Völkerrechts, um ihre Vorstellung von einem
»neuen« Nahen Osten oder einer besseren Welt durchzusetzen. Es gibt in
der heutigen westlichen Gesellschaft keine andere Strömung, die mit so
viel Menschenverachtung das Töten in Afghanistan, im Irak, im Libanon
begrüßt und mit ihren Mitteln zu befördern sucht wie diese.
Müßten Linke angesichts dessen nicht einen ganz klaren Trennungsstrich
ziehen und sagen: Genausowenig, wie wir mit alten und neuen Nazis eine
gemeinsame Veranstaltung oder Demonstration veranstalten wollen, lehnen
wir auch jedes Bündnis mit den Antideutschen ab? Doch es wird mit
zweierlei Maß gemessen: Während NPD-Anhänger auch dort, wo sie
bestimmte linke Forderungen teilen (»Weg mit Hartz IV«), richtigerweise
konsequent ausgegrenzt werden, demonstrieren Antifa-Gruppen gerne
zusammen mit Antideutschen etwa gegen rechtsradikale Strukturen. Wo
diese Zusammenarbeit nicht zustande kommt, geht das immer auf die
Antideutschen zurück, die sich nicht mit der »normalen« Antifa gemein
machen wollen.
Das klingt nach einem taktischen Problem, ist aber ein strategisches.
Denn der Grund für diese Ungleichbehandlung ist ganz offensichtlich die
Überlegung, daß etwa der Widerspruch zu den Bahamas-Leuten weniger
fundamental ist als der zur NPD. Der Antifaschismus wird als Hauptachse
linker Politik definiert, und zwar nicht nur aus Gründen der deutschen
Vergangenheit, sondern auch, weil man bei einer Verschärfung der
kapitalistischen Krise eine Wiederkehr des Faschismus befürchtet.
Dieser Gedanke ist absolut richtig, das Problem ist nur, daß der
Faschismus in der Regel in der Linken falsch definiert wird. Man
mißversteht ihn als im Kern ideologische Erscheinung, als entfesselten
Nationalismus mit dem Antisemitismus als Hauptmoment. Das traf
phänomenologisch auf den deutschen Nazismus zu, aber – um die Rede von
der Singularität ernstzunehmen – in dieser Form wird er nicht
zurückkommen. Denn der Nationalismus ist für das Kapital dysfunktional
geworden in einer Welt, in der der Profit nur noch von jenem
Nationalkapital realisiert werden kann, das sich dem globalen Kommando
des US-Imperialismus unterordnet. Die deutsche Wirtschaft hängt am
Export in den Dollarraum, und der Wert der durch keine Realproduktion
mehr gedeckten US-Währung hängt an der Fähigkeit des US-Militärs, den
Weltmarkt (vor allem die Energiereserven) zu kontrollieren. Selbst die
zaghaften Versuche von Gerhard Schröder, einen deutschen Weg in Distanz
zum Weltgendarmen zu gehen, mußten abgebrochen werden.
Deshalb ist es naheliegend, Faschismus nicht primär phänomenologisch,
sondern ökonomisch zu definieren, also zu der Kennzeichnung
zurückzukehren, die die Komintern auf ihrem 7. Weltkongreß 1935 unter
Federführung von Georgi Dimitroff vorgenommen hat – als die »Diktatur
der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen
Elemente des Finanzkapitals«. Diese Elemente waren vor 75 Jahren
hauptsächlich in Deutschland und sind heute in den USA zu finden; in
beiden Fällen war das jeweilige Kapital auf dem freien Weltmarkt nicht
mehr konkurrenzfähig und mußte die Flucht nach vorne, zur militärischen
Beherrschung des Weltmarktes, antreten. Eine Machtergreifung der Nazis
in Deutschland gab es nie; was stattfand, war eine Machtübertragung,
und die wurde vom Großkapital in dem Augenblick beschlossen, in dem
auch die bis dahin weltmarktfähige Elektro- und Chemieindustrie keinen
anderen Ausweg mehr sahen als die Eroberung, den Weltkrieg.
Aus der spezifischen Situation des damaligen Deutschlands ergab sich
die Virulenz des Antisemitismus, der außerdem, folgt man den frühen
Analysen des Historikers Götz Aly, für die profitable Zurichtung
Osteuropas auch funktional war. Für die USA heute sieht das anders aus:
In ihrem Hauptexpansionsraum, dem Nahen und Mittleren Osten, ist der
jüdische Staat treuester Verbündeter, während es Moslems sind, die
ihrem totalen Zugriff auf die Öl- und Gasquellen im Wege stehen.
Deswegen hat der Antiislamismus den Antisemitismus als wichtigste
Haßideologie des Imperialismus abgelöst. Von der jüdischen
Weltverschwörung reden nur noch rückständige Irre; im Mainstream von
Politik und Medien hat sich statt dessen die islamistische
Weltverschwörung als neue Wahnideologie etabliert. So wie Hitler und
die Seinen kontrafaktisch die russischen Bolschewiken und die
westlichen Plutokraten als Befehlsempfänger der »Weisen von Zion«
halluzinierten, so phantasieren die Neocons eine einheitliche Front von
den sunnitischen Taliban und den schiitischen Persern, über die
Baathisten im Irak und Syrien bis zu den Nasseristen im Libanon und den
Kommunisten in der PLO, obwohl sich diese Kräfte in der Vergangenheit
zum Teil bis aufs Messer bekämpft haben. Und die Abgesandten von Osama
Ali Baba, so will uns Bayerns Innenminister Günther Beckstein
weismachen, sitzen in jeder Moschee zwischen Rügen und Oberammergau.
Man könnte einwenden, der Rassismus der Neocons habe faschistische
Züge, aber die USA und alle anderen westlichen Staaten seien doch nach
wie vor bürgerliche Demokratien. Dem müßte man zunächst mit Johan
Galtung entgegnen: »Die USA sind ein geofaschistisches Land. Es ist auf
der Weltebene faschistisch, obwohl es zu Hause demokratische Züge hat.
Es ist ein Fehler zu glauben, bei Demokratie im Inland gibt es keinen
Faschismus. Ich sehe Faschismus als Gewaltfrage: also bereit zu sein,
eine beliebige Menge von Leben zu opfern zur Erreichung politischer
Ziele...« Davon abgesehen betreiben die Neocons auch die Abschaffung
der inneren Demokratie: Sie fälschten die Wahlen, um Bush ins Weiße
Haus zu bringen; sie nutzten den 11.September zur weitgehenden
Einschränkung der Bürgerrechte mittels des Patriot Act und orwellschen
Vollmachten für das Homeland Security Office; sie etablierten einen
eigenen Geheimdienst, ein Desinformationsbüro zur Lenkung der Medien,
eine schrankenlose Überwachung der Telekommunikation und des Internets,
und sie schufen sich über Privatfirmen wie MPRI eine vom Senat nicht
mehr kontrollierbare zusätzliche Söldnerarmee. Last but not least:
Guantánamo ist ein KZ; es ist keine Todesfabrik wie Auschwitz und auch
mit Dachau nicht zu vergleichen, wohl aber mit den Lagern von Mussolini.
Es gibt also faschistische Tendenzen in den USA, aber – soweit ist der
Einwand richtig – sie haben sich bisher nicht durchgesetzt. Wegen der
steigenden eigenen Verluste kommen die Neocons sogar unter Kritik von
den pragmatischen Imperialisten wie George Soros oder Zbigniew
Brzeszinski. Deswegen brauchen Cheney, Rumsfeld, Perle und Wolfowitz
jetzt dringend einen neuen Krieg. Wenn es auf der ganzen Welt brennt,
wenn Atomfeuer in Teheran wüten und – in Reaktion oder als Inside job –
neue Terroranschläge die westlichen Zentren verwüsten, werden die
Neocons diktatorische Vollmachten verlangen, um – wie pervers – die
Freiheit zu verteidigen.
Faschismus – auf »anti« lackiert
Sind also die Neocons die Faschisten unserer Zeit? Bevor man dem allzu
schnell zustimmt, muß man dem Problem ins Auge sehen, daß diese Leute
sich in der Regel als Antinazis definieren. Sie berufen sich auf die
Lehren aus dem Holocaust und wollen ein neues Auschwitz verhindern– und
deswegen sind sie für den Massenmord. Das ist eine ungeheuerliche
Demagogie– aber das kennen wir schon von der Hitlerschen Propaganda. So
wie der Anstreicher den Linken den Begriff Sozialismus stahl und daraus
den Nationalsozialismus machte, so kidnappen die Neocons den Begriff
des Antifaschismus – in beiden Fällen, um das Gegenteil zu lackieren.
Unabhängig davon, mit welchem Terminus man die neuen Barbaren
kennzeichnet: Sie sind gefährlicher als die Erbverwalter des
historischen Faschismus. Unter denen befinden sich zweifellos Hetzer
und Totschläger in großer Zahl– aber anders als den Schlägerbanden der
SA in den zwanziger Jahren fehlt ihnen die Rückendeckung des Kapitals.
Deswegen haben sich die cleversten Altfaschisten in den letzten Jahren
umorientiert und den Neocons angeschlossen: Gianfranco Fini, Chef der
Alleanza Nazionale, wurde in Jerusalem wegen seiner Verdienste für
Israel ausgezeichnet; der Front National erfreut sich der Unterstützung
französischer Zionisten, weil nur Le Pen gegen die islamische Gefahr
konsequent vorgehe; die FPÖ hat sich deswegen gespalten; der rumänische
Hitler-Verehrer Vadim Tudor geriert sich als größter Israel-Freund und
bekommt von dort auch Wahlkampfspenden.
Selbstverständlich muß die Linke die Abgrenzung zu Nazis und
Antisemiten in allen Spielarten aufrechterhalten. Aber von den
Einflüsterungen der Antideutschen, jeden unter Naziverdacht zu stellen,
der von Nation und Gott nicht lassen kann, sollte sie sich nicht länger
beeinflussen lassen. Die Fußballfans mit den Deutschlandfahnen, die
vielen Linken wochenlang schlaflose Nächte bereiteten, waren ganz
normale Mitbürger, und die – das zeigen die Umfragen – lehnen den
aktuellen Krieg ab. Will man sie für Demonstrationen gewinnen– oder
beschimpfen und dem Gegner in die Arme treiben?
Im Libanon kämpfen Islamisten, Nationalisten und Linke Schulter an
Schulter gegen die Aggressoren. Natürlich ist das zunächst nur ein
Zweckbündnis zwischen Gruppierungen, die sich bis dato oft spinnefeind
waren. Ähnlich wie im Zweiten Weltkrieg, als die Antipoden Stalin und
Churchill samt ihrer Anhängerschaft auch gemeinsame Sache machen
mußten, obwohl sie das ursprünglich gar nicht wollten. Sie waren dazu
gezwungen, wenn sie überleben wollten. So ist das nun mal in einer
Weltkriegssituation.