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junge Welt, 13. Mai 2006 (Wochenendbeilage)
Zu unseren Gesprächspartnern: Nihad Boqai arbeitet bei
der Flüchtlingshilfsorganisation Badil (Resource Center for Palestinian
Residency and Refugee Rights, Bethlehem: www.badil.org); Peter
Hansen
war von 1996 bis 2005 Hochkommissar beim Hilfswerk der Vereinten
Nationen für palästinensische Flüchtlinge UNRWA (United Nations Relief
and Works Agency; Internet: www.unrwa.org); Michael Fischbach
ist Geschichtsprofessor am Randolph-Macon College in Virginia, USA; Ilan
Pappe lehrt Geschichte an der Universität von Haifa.
Israels »Neue Historiker« wie Ilan Pappe sprechen im Zusammenhang mit
der »Nakba« von »ethnischer Säuberung«. Denn von insgesamt etwa 900000
damals auf dem Gebiet des zukünftigen Staates Israel lebenden
Palästinensern verloren 750000 durch Flucht und Vertreibung ihre
Heimat. Über 400 ihrer Dörfer wurden dem Erd! boden gleichgemacht.
Gesetze enteigneten die »abwesenden« Palästinenser und machen sie, bis
heute, zur weltweit größten Flüchtlingspopulation. Ihr verweigert
Israel ihr, gemäß Völkerrecht und UNO-Resolution 194 bestätigtes,
Rückkehrrecht. Vor 1948 besaßen oder kontrollierten Palästinenser über
90 Prozent des Landes im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina.
Heute besitzen oder kontrollieren sie nicht mehr als zehn Prozent, und
über die Hälfte von ihnen sind Flüchtlinge. Weil Israel ihnen die
Rückkehr und/oder Kompensation verweigert, mußte die UNRWA für ihre
Versorgung zwischen 1950 und 2005 etwa neun Milliarden US-Dollar
aufbringen. Die humanitäre Not heute ist die Folge der kontinuierlichen
Vertreibung, Enteignung und Entrechtung seit 58 Jahren.
Das Gespräch führte Sabine Matthes
Frage: Der 14. Mai wird von Israelis jährlich als Freudentag
ihrer Staatsgründung 1948 gefeiert. Für Palästinenser aber bedeutete
die Umwandlung eines mehrheitlich arabischen Landes in einen
mehrheitlich jüdischen Staat »die Katastrophe«: Al Nakba. Die hält bis
heute, 58 Jahre danach, an. Von insgesamt neun Millionen Palästinensern
sind beinahe sechs Millionen Flüchtlinge. Welche unterschiedlichen
Gruppen gibt es, und welche Rechte haben sie?
Nihad Boqai: Die fortgesetzte Vertreibung der
Palästinenser seit 1948 hat verschiedene Flüchtlingswellen verursacht.
Heute gibt es drei große Gruppen von palästinensischen Flüchtlingen.
Zur ersten und zahlenmäßig stärksten gehören diejenigen, die während
des 1948er Krieges – später »Al Nakba«, die Katastrophe genannt –
vertrieben worden sind. Vertrieben aus den palästinensischen Gebieten,
die dann zu Israel wurden. Ihre Zahl liegt heute bei über fünf
Millionen. Die meisten von ihnen erhalten immer noch internationale
Unterstützung durch das UNRWA-Hilfswerk. Etwa ein Drittel von ihnen
lebt immer noch in Flüchtlingslagern in der Westbank, in Gaza,
Jordanien, Syrien und Libanon.
Die zweite Gruppe sind die Palästinenser, die aus der Westbank
und dem Gazastreifen vertrieben wurden. Diese Gebiete wurden von Israel
im Juni 1967 besetzt. Wohlgemerkt, etwa die Hälfte dieser Flüchtlinge
war nach ihrer Vertreibung während der Nakba zum zweiten Mal verjagt
worden. Die dritte Gruppe sind die Palästinenser, die nicht 1948 oder
1967 vertrieben wurden, sondern zwischen 1949 und 1967 sowie nach 1967.
Diese Flüchtlinge kommen hauptsächlich aus den 1967 besetzten Gebieten,
also der Westbank und dem Gazastreifen.
Außerdem werden bei den Binnenflüchtlingen zwei große Gruppen
unterschieden. Die erste sind diejenigen innerhalb Israels, die zweite
sind die internen Flüchtlinge in den 1967 besetzten palästinensischen
Gebieten. Besonders erwähnt werden muß, daß sich die
Vertreibungserfahrung auch in der Diaspora mehrfach wiederholte, so wie
es den palästinensischen Flüchtlingen in Jordanien geschah (1970), im
Libanon (1975–1990), in Kuwait (1991–1992), in Libyen (1995–1997) und
im Irak (2003).
Palästinensische Flüchtlinge haben ebenso wie alle anderen
weltweit Rechte: in ihre Heimatorte zurückzukehren und auf
Eigentumsrückerstattung, neben ihrem Recht auf Entschädigung.
Flüchtlinge, die nicht zurückkehren wollen, müssen Kompensation
bekommen und wählen können, ob sie in ihrem Gastland bleiben möchten
oder in ein drittes Land umsiedeln. Die Umsiedlung muß auf
Freiwilligkeit basieren, es darf kein Zwang ausgeübt werden. Außerdem
haben palästinensische Flüchtlinge das Recht auf internationale Hilfe
und Schutz.
F: Obwohl die Flüchtlinge die Mehrheit der
palästinensischen Bevölkerung und den Kern des Konflikts ausmachen,
wurden ihre Rechte während des fehlgeschlagenen Oslo-Prozesses der
Zwei-Staaten-Lösung übergangen. Werden die Flüchtlinge wieder mehr in
den Mittelpunkt gerückt werden?
Nihad Boqai: Das Oslo-Abkommen zeigt, daß die
Marginalisierung der palästinensischen Flüchtlingsrechte die
Flüchtlinge selbst nicht zur Aufgabe ihrer Rechte bringen kann. Viele
meinen, es sei besser, sich nicht mit diesem Problem zu befassen.
Realistisch betrachtet glaube ich jedoch nicht, daß wir eine Lösung des
israelisch-palästinensischen Konflikts erreichen können, wenn wir die
Rechte von drei Vierteln aller Palästinenser vernachlässigen. Die
internationale Gemeinschaft hat eine moralische Pflicht, das Problem
der palästinensischen Flüchtlinge zu lösen, indem sie ihnen die
Rückkehr ermöglicht, wie allen Flüchtlingen weltweit, beruhend auf dem
internationalen Recht und entsprechenden UN-Resolutionen. Wir werden zu
keiner Lösung des Konflikts kommen, wenn wir uns nicht direkt mit den
Ursachen befassen.
F: Herr Hansen, wie hoch schätzen Sie den Wert des
verlorengegangenen palästinensischen Eigentums von 1948 und danach?
Peter Hansen: Er wurde, natürlich davon abhängig, wer ihn
veranschlagt, zwischen einigen hundert Millionen US-Dollar bis mehrere
hundert Milliarden US-Dollar geschätzt. Wenn man die Maßstäbe von
vergleichbaren historischen Fällen anlegt, ist man viel näher an
letzterem Wert als an ersterem.
F: Eine grundsätzliche Kritik von Ihnen lautet: »Für
politische Probleme gibt es keine humanitären Lösungen.« Ist es nicht
entmutigend zu sehen, daß UNRWA alle menschlichen und finanziellen
Resourcen in den vergangenen 55 Jahren nur darauf verwenden konnte, das
palästinensische Flüchtlingselend zu mildern, anstatt es zu beenden?
Peter Hansen: Ich bin da nicht so desillusioniert, weil
ich nie die Investitionen in die UNRWA bloß als Lösung im politischen
Sinn gesehen habe. Es ist die größte und erfolgreichste internationale
Investition in »Human capital« über eine lange Zeit. Und UNRWA hat dazu
beigetragen, Hoffnung – hoffentlich keine falsche – unter Generationen
von Flüchtlingen zu wecken und ihnen ein Gefühl zu vermitteln, daß sich
die Welt, wenigstens in einem gewissen Grade, um sie sorgt.
F: Im Unterschied zu den deutschen Grünen unterstützt die
US-amerikanische Green Party das Rückkehrrecht der Palästinenser und
betont dessen Realisierbarkeit »bei geringer Zerrüttung für die
gegenwärtigen israelischen Bevölkerungsmuster«.
Palästinenser auf dem Weg ins Flüchtlingslager Rafah im
Gazastre
Palästinenser auf dem Weg ins Flüchtlingslager Rafah im Gazastreifen
(Januar 2005)
Michael Fischbach: Die Wahlplattform der »Green Party of the United
States« besagte 2004: »Wir versichern nochmals den palästinensischen
Flüchtlingen das Recht, an ihre Heimatorte in Israel zurückzukehren.
Wir anerkennen die bedeutsamen Anforderungen an Gerechtigkeit und
Wiedergutmachung, auf die dieses Verfahren stoßen würde, und rufen die
US-Regierung dazu auf, die Lösung dieser Herausforderungen als
zentrales Ziel unserer Diplomatie in der Region zu benennen.« Die
»Greens« sind sehr darauf bedacht, die jüdisch-israelische Angst
anzuerkennen, in einer großen nichtjüdischen Bevölkerung zu leben. Wir
glauben aber trotzdem, daß dies nicht die Rechte der Flüchtlinge
annullieren sollte.
F: Sie sagen, daß etwa 40 Prozent der palästinensischen
Flüchtlinge Eigentum besaßen, 60 Prozent nicht. Sollte es eine
individuelle Eigentumsentschädigung geben, oder sollte sie Teil einer
größeren Entschädigung sein zum nationalen Wohl aller? Was kann aus den
jüngsten Erfahrungen in Afghanistan, Bosnien-Herzegowina oder Südafrika
gelernt werden?
Michael Fischbach: Weil ich Landeigentumsrecht untersuche,
habe ich meine Nachforschungen nur auf diejenigen Flüchtlinge
konzentriert, die 1948 Grund und Boden verloren haben, was die
Minderheit ist. Von einem humanistischen Standpunkt aus betrachtet
glaube ich, daß jede Person, überall auf der Welt, die ungerechterweise
ihres Eigentums beraubt wurde, entschädigt werden sollte oder ihr Land
rückerstattet bekommen sollte. Was im Fall der Palästinenser bedeutet,
daß auch ehemals reiche Eigentümer unter den Flüchtlingen entschädigt
werden sollten. Natürlich läßt das die Frage offen, was man mit den
ärmeren Flüchtlingen tun sollte, die kein Eigentum besaßen. Es gibt
bereits viele Vorschläge, wie man sie entschädigen sollte, nicht für
Eigentumsverluste, sondern für moralisches Leiden, Einkommensverluste
etc.
F: Sie fordern, die Mizrahim, die arabischen Juden, die Sie
als »Kollateralopfer« bezeichnen, miteinzubeziehen. Ihre Argumentation,
Herr Fischbach: Wenn es keinen Konflikt zwischen Zionisten und Arabern
in Palästina/Israel gegeben hätte, würden arabische Juden im Irak, in
Ägypten, Libyen und so weiter immer noch ihr dortiges Eigentum
besitzen. Gibt es irgendwelche Angebote von den arabischen Regierungen,
und setzt dies Israel unter moralischen Druck?
Michael Fischbach: Vorletztes Jahr hat die libysche
Regierung angeboten, ehemals libysche Juden zu entschädigen, die
Eigentum verloren, als sie das Land nach 1948 verlassen haben. Nach der
US-Invasion 2003 und dem Sturz von Saddam Hussein haben gewisse
irakische Politiker erwähnt, Juden, die im Irak lebten, zu
entschädigen. Daraus ist aber noch nichts geworden. Solche Schachzüge
könnten in der Tat Israels diplomatisches Feilschen komplizieren.
Israel besteht seit Jahrzehnten darauf, daß jeder etwaige Geldbetrag,
den es als Entschädigung an arabische Flüchtlinge aus Palästina zahlt,
reduziert werden würde um einen Betrag, der die Verluste repräsentiert,
die mizrahische Juden aus der arabischen Welt erlitten haben. Es
benutzt diese »Verkettung«, um den Geldbetrag zu minimieren, den es
auszahlen müßte. Obwohl Israel offiziell diese Verknüpfung bei der
Taba-Konferenz Anfang 2001 fallengelassen hat, würden
Entschädigungszahlungen von arabischen Ländern an ihre ehemaligen
jüdischen Bürger trotzdem israelische Verhandlungsbemühungen
komplizieren: a) sie schafften einen Präzedenzfall für Entschädigung,
nachdem Jahrzehnte vergangen sind; b) sie verringerten den Geldbetrag,
den Israel von den Palästinensern und/oder der weiteren arabischen Welt
fordern könnte; c) arabische Entschädigung öffnete auch die Tür für
Rückerstattung und Rückkehr. Libyen hat bereits angedeutet, daß es
seinen ehemaligen Bürgern jüdischen Glaubens die Rückkehr erlauben
würde. Stellen Sie sich die Konsequenzen davon für die Haltung der
israelischen Regierung gegenüber palästinensischen Langzeitexilanten
vor, wenn arabische Staaten ihren ehemaligen jüdischen Bürgern erlauben
würden zurückzukommen.
F: Herr Pappe, Sie zweifeln die Aufrichtigkeit Israels in der Frage
der Reparationen für arabische Juden an. Warum?
Ilan Pappe: Das Problem ist weniger die Reparation, sondern
die Behauptung, daß die arabischen Juden, die nach Israel kamen, Teil
eines Bevölkerungsaustausches mit den Palästinensern waren. Es gibt
keine Forderung eines Rückkehrrechts von arabischen Juden in ihre
arabischen Länder, aber ein solches Rückkehrrecht nach Israel ist die
grundlegende palästinensische Forderung. Auf der Ebene der Rückkehr,
als der besten Wiedergutmachung, sind die beiden Fälle also völlig ohne
Zusammenhang.
Gleichermaßen hat es nichts mit der Vertreibung von der Hälfte
der Bevölkerung Palästinas 1948 zu tun, wenn die arabischen Juden zu
Recht Reparationen von einzelnen arabischen Ländern fordern. Im Fall
der arabischen Juden reden wir von kleinen Minderheiten, die in einigen
Fällen gingen – so die zionistische Interpretation – weil sie nach
Hause, nach Israel, zurückkehren wollten. Wenn sie sich vertrieben
fühlen oder ihr Eigentum nicht bekamen, haben sie einen Anspruch auf
Reparationen. Aber dies hat nichts mit der Lösung des palästinensischen
Flüchtlingsproblems zu tun, das der Schlüssel zur Beilegung des
gesamten Konflikts ist.
F: Wenn nichtjüdische Russen, jüdische Araber und zum
Judentum konvertierte Deutsche nach Israel einwandern können, warum
können die einheimischen Palästinenser nicht zurück? Was wäre, wenn sie
zum Judentum konvertierten?
Ilan Pappe: Sie haben das Recht zurückzukehren, ehe all
die anderen Erwähnten das Recht haben einzuwandern. Sie sollten niemals
zum Judentum konvertieren, um ein selbstverständliches Menschenrecht,
nach Hause zurückzukehren, beanspruchen zu können.
F: Israels Weigerung, seine Verantwortung für die
Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems anzuerkennen,
erinnert an die türkische Haltung gegenüber Armeniern und Kurden.
Dennoch gab es, von religiösen Zionisten wie Martin Buber bis zu
jüdischen Humanisten wie Ihnen, immer Juden, die das palästinensische
Rückkehrrecht als wesentlich für Israels eigene Identität als jüdischer
Staat– im ethischen, nicht ethnischen Sinn – und als demokratischer
Staat erachteten, und als Voraussetzung eines beständigen Friedens. Wie
einflußreich sind solche israelischen Initiativen wie Zochrot oder die
Rückkehrrecht-Konferenz in Haifa?
Ilan Pappe: Es gab leider und gibt immer noch zu wenige
Juden, die einsehen, daß die Anerkennung des Rückkehrrechts nicht nur
moralisch notwendig, sondern politisch erforderlich ist. Aber wichtig
ist es, Juden zu finden, die das Rückkehrrecht der Flüchtlinge nicht
nur anerkennen, sondern es auch so meinen, daß sie tatsächlich
zurückkommen sollten. Dann wäre Israel kein ethnisch jüdischer Staat,
wenn sich als Folge die Zusammensetzung der Bevölkerung ändert. Doch
das ist eine gute Sache. Der gegenwärtige Staat steht moralisch auf
sehr schwankenden Fundamenten, da er um jeden Preis seine jüdische
Exklusivität beibehalten möchte.
F: Als Israel in die UNO aufgenommen wurde, war eine
Bedingung, die Resolution 194 zu erfüllen. Statt dessen bürgerte das
Land die Mehrheit seiner Palästinenser aus und entzog ihnen ihre
Bürger- und Eigentumsrechte. Wenn das mit der Rassentrennungspolitik
des ehemaligen Apartheid-Südafrika vergleichbar ist, sollten dann
entsprechende Boykotte und UN-Sanktionen angewandt werden?
Ilan Pappe: Es ist vergleichbar, aber ich glaube nicht,
daß Druckmittel angewandt werden sollten, um Israel zu zwingen, die
Flüchtlinge aufzunehmen. Ich glaube, das ist ein längerer Prozeß durch
Erziehung und Veränderung von innen. Wir sollten uns mit ganzer Kraft
darauf konzentrieren, Israel zum Ende der Besatzung zu zwingen.