[home]

 

Das provozierte Chaos

Israels Blamage
Von Armin Köhli

Wochenzeitung WOZ (Schweiz), 3. August 2006
Internet: www.woz.de

Die israelische Armee bringt den Krieg zurück in den Libanon. Darauf hofften manche. Denn die libanesische Politik wird dadurch völlig umgekrempelt.

Am Anfang stand eine verhältnismässige Bagatelle: Einige von der Hisbollah abgeschossene Katjuscharaketen und ein Angriff gegen eine israelische Militäreinheit auf israelischem Gebiet. Scharmützel wie dieses vom 12. Juli listete die Uno-Beobachtertruppe Unifil in den letzten Jahren reihenweise auf. Schon im Februar und im Mai kam es zu schwereren Gefechten. Zuletzt im November drangen Hisbollah-Guerilleros auf israelisches Gebiet vor - sie taten also genau das, was die israelische Regierung heute als Kriegsgrund nennt. Katjuschas hier, ein paar von israelischen Kampfjets abgeworfene Bomben und Morde an Hisbollah-Kadern dort, etwas Artilleriefeuer in beide Richtungen - das ist die Regel an der «blauen Linie» zwischen Israel und dem Libanon. Tote gibt es immer wieder, auf beiden Seiten.

Was die Aktion vom 12. Juli von anderen unterscheidet, ist der grosse militärische Erfolg der Hisbollah: Es gelingt ihr, drei israelische Soldaten zu töten, zwei gefangen zu nehmen und sich - ohne eigene Verluste - zurückzuziehen. Beim unmittelbar folgenden israelischen Gegenangriff sterben fünf weitere israelische Soldaten, aber kein einziger Hisbollah-Kämpfer. Diese Blamage der israelischen Armee erfolgt nicht einmal drei Wochen nach einer ähnlichen Aktion an der Grenze zum Gasastreifen. Dort nahmen palästinensische Kämpfer in einer Überraschungsaktion einen israelischen Soldaten gefangen. Diese beiden militärisch kaum erklärbaren Schlappen bewogen wohl die israelische Regierung von Ministerpräsident Ehud Olmert, mit solch gnadenloser Eskalation zu reagieren. Die stärkste Armee im Nahen Osten wollte ihre Allmacht demonstrieren.

Doch bisher blamiert sich diese Armee nur weiter. Zwar bombardiert die Luftwaffe zielgenau, was sie kann. Die Bodentruppen liefern sich aber bei jedem Dorf harte Schlachten mit der Hisbollah-Guerilla (und mutmasslich auch mit einigen Kämpfern anderer libanesischer und palästinensischer Parteien). Und die Hisbollah feuerte seit Kriegsbeginn hunderte von Katjuschas und sogar Raketen mit grösserer Reichweite ab. Schlimmer noch für die israelische Armee: Während sie über 700 libanesische ZivilistInnen tötete, aber erst seit kurzem und wenig glaubwürdig davon spricht, auch viele Hisbollah-Kämpfer getötet zu haben, fielen schon rund 30 israelische SoldatInnen.

Die Hisbollah trägt zivil

Der Grund ist einfach. Aus der Luft lässt sich die Hisbollah einfach nicht besiegen. Denn der Südlibanon ist Hisbollah. Zwar teilen längst nicht alle SchiitInnen im Süden das politische Programm der Hisbollah, die konservativ-religiöse Ausrichtung dieser Partei. Und neben der Hisbollah gibt es auch noch die politisch bisher etwa gleich starke Amal-Bewegung, die sich nach dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1992 entwaffnen liess. Sie vertritt ein konturloses, populistisches Programm und sorgt - gemeinsam mit der Hisbollah - für die politische Vertretung der SchiitInnen im ethnisch-religiös tief gespaltenen Libanon. Ihr Vorsitzender, Parlamentspräsident Nabih Berri, verschafft seiner Klientel Jobs, Geld und Pfründe. Es gibt auch noch kleinere Organisationen, die Kommunistische Partei etwa, und schliesslich leben auch sunnitische und christliche Minderheiten im Südlibanon. Doch als Mukauwame, als «Widerstand», wird die Hisbollah von den SchiitInnen praktisch einhellig unterstützt. Und nicht nur von den SchiitInnen. Dass es ihr nach langem Kampf vor sechs Jahren schliesslich gelang, die israelische Armee aus dem Südlibanon zu vertreiben, hat ihr weitherum Respekt verschafft.

Die reguläre libanesische Armee ist nach dem israelischen Rückzug nur beschränkt in den Süden vorgedrungen, um für die «innere Sicherheit» zu sorgen, und sie kontrolliert die Strassen in die ehemals besetzte Zone. Die «Verteidigung» hat sie dort der Hisbollah überlassen. Das ist auch sinnig, denn sonst hätte die libanesische Armee wohl nicht die libanesische Grenze gegen Angriffe von aussen, sondern vor allem die israelische Grenze gegen Angriffe der Hisbollah verteidigen müssen - wohl etwas viel verlangt, zumal es keinerlei (Friedens-)Abkommen zwischen dem Libanon und Israel gibt.

Die Hisbollah hat kein stehendes Heer. Das unterscheidet sie von den Fraktionen des Bürgerkriegs in den siebziger und achtziger Jahren und auch von der Palästinensischen Befreiungsbewegung PLO. Gegen die PLO konnte die israelische Armee 1982 einen relativ einfachen Sieg erringen, denn die PLO unterhielt mit ihren militärischen Verbänden eine regelrechte Armee. Hingegen gibt es heute im Südlibanon kaum befestigte Hisbollah-Stützpunkte, keine festen, sondern nur mobile Hisbollah-Check-points, keine Kasernen. Sie braucht sie auch nicht. Der Hisbollah-Kämpfer ist im Südlibanon der Sohn des Bauern von nebenan. Katjuschas lassen sich praktisch von Hand abfeuern. Die Raketen grösserer Reichweite benötigen allerdings Rampen, und es soll der israelischen Armee gelungen sein, wenigstens ein paar dieser Rampen zu zerstören. Darum erscheint die israelische Führung so ratlos, und insofern stimmt die zynische Logik, mit der Israels Justizminister Chaim Ramon die Beschiessung von Elektrizitätswerken begründet haben soll: dass diese auch der Hisbollah dienten. Das Gleiche lässt sich auch für Strassen, Brücken, Spitäler, Ambulanzen sagen. Insofern stimmt aus Ramons Optik auch, was er laut Medienberichten im israelischen Armeeradio sagte: «Jeder im Süden Libanons ist ein Terrorist und mit der Hisbollah verbunden.» Wer Krieg gegen die Hisbollah führen will, muss die südlibanesische Bevölkerung bekriegen. Er muss die Bevölkerung vertreiben.

Ein Faustpfand für Krieg

Hisbollah als Mukauwame: «Sie schützt uns», sagen auch säkular eingestellte SüdlibanesInnen ganz entschieden. Diese Miliz sei keine Bürgerkriegsmiliz, sondern die Verteidigung gegen Israel. Die Hisbollah will ihre Waffen behalten und kämpfen, bis alle libanesischen Kriegsgefangenen in Israel befreit sind, und vor allem: bis sich Israel aus den besetzten Schebaa-Höfen zurückzieht. Diese zusammen rund 28 Quadratkilometer grossen Felder unterhalb des Dorfes Schebaa am Westhang des Dschebel Scheich, des Hermon-Bergs, sind ohne militärische, ohne wirtschaftliche Bedeutung. Als die israelischen Truppen im Jahr 2000 aus dem Südlibanon vertrieben wurden, hielten sie die Schebaa-Höfe weiterhin besetzt mit der Begründung, dass diese zu Syrien und nicht zum Libanon gehörten. Der Grenzverlauf ist umstritten. Die Uno zählt die Höfe tatsächlich zu Syrien und bestätigte, dass sich Israel vollständig aus dem Libanon zurück-gezogen habe. Doch Syrien und der Libanon betrachten die Höfe als libanesisches Gebiet. So dienen die Schebaa-Höfe beiden Seiten als Anlass für Provokationen und Rechtfertigung für Scharmützel wie jenes vom 12. Juli.

Die Schebaa-Höfe sind besetztes Gebiet, egal, ob sie zu Syrien oder zum Libanon gehören. Zöge sich die israelische Armee aus den Höfen zurück - und es gibt wohl keinen ernst zu nehmenden Grund, das nicht zu tun - geriete die Hisbollah unter erheblichen Druck, die Waffen abzugeben und ihre Kämpfer in die libanesische Armee zu integrieren. Warum Israel die Höfe weiter besetzt, darüber lässt sich nur spekulieren. Sicher gibt es innerhalb des militärischen Apparats Kräfte, die den Konflikt im Südlibanon am Köcheln halten wollen. Schliesslich lässt sich via Südlibanon jederzeit «den Syrern» eins auswischen. Und die Hisbollah bietet - so, wie sie in der westlichen Öffentlichkeit dargestellt wird - geradezu den idealen Feind: bärtige Kämpfer, die die iranischen Ajatollahs verehren und von Syrien und dem Iran unterstützt werden; Terroristen, die Selbstmordattentäter losschicken. Da spielt keine Rolle, dass die Hisbollah - so weit bekannt - nie ausserhalb des Libanon agierte, dass die Hisbollah sich als Partei ins politische System des Libanon integrierte und längst zu einem Teil dieses Systems geworden ist und gar einen Minister in der Koalitionsregierung stellt. Es spielt auch keine Rolle, dass im Südlibanon kein «Gottesstaat» entstanden ist, sondern in - für eine Kriegsregion - grösster Toleranz gelebt wird, Meinungs- und Organisationsfreiheit herrschen. Dass Frauen ohne Kopftuch und in kurzen Jupes in einer «Hisbollah-Hochburg» wie Nabatije genauso zum Stadtbild gehören wie auch Alkohol.

So weit absehbar, wird die Hisbollah politisch massiv gestärkt aus diesem Krieg hervorgehen. Noch Anfang Juli stand sie unter ziemlichem Druck, ihre Waffen abzugeben. Die 2004 vom Uno-Sicherheitsrat beschlossene Resolution 1559, die unter anderem die «Entwaffnung aller Milizen» im Libanon verlangt, richtet sich mit dieser Forderung implizit nur gegen die Hisbollah. Im Libanon selber wurden ebenfalls - und zum ersten Mal - Stimmen deutlich vernehmbar, die die Entwaffnung der Hisbollah verlangten. Auch politisch hat die Hisbollah in letzter Zeit an Einfluss verloren, obwohl sie nach der Parlamentswahl im Sommer 2005 erstmals an der Regierung beteiligt wurde. Denn die Hisbollah ist eine treue Verbündete der syrischen Regierung, die bis vor kurzem die eigentliche Macht im Libanon ausübte und in weiten Teilen des Landes Truppen stationiert hatte. Doch aufgrund der heftigen Proteste gegen den Mord am ehemaligen Premier Rafik Hariri im Februar 2005, für den Syrien verantwortlich gemacht wurde, und des gleichzeitigen Drucks aus den USA und Frankreich zogen sich die syrischen Truppen in kürzester Zeit aus dem Libanon zurück.

Die syrischen Truppen, Geheimdienste und PolitikerInnen hatten im Libanon nach Ende des Bürgerkriegs 1992 mit repressiven Methoden für relative Stabilität gesorgt. Nach dem Abzug der SyrerInnen orientierten sich die neuen Mächtigen um Hariris Sohn Saad und den gegenwärtigen Ministerpräsidenten Fuad Siniora ausschliesslich nach Westen. Siniora wurde im April 2006 in Washington von US-Präsident George Bush wohlwollend empfangen und glaubte wohl ernstlich, die USA würden den Libanon vor Mächten wie Syrien und Israel schützen und seine Stabilität garantieren.

Der syrische Faktor

Das syrische Regime aber bemühte sich weiter um Einfluss. Doch ausser den schiitischen Bewegungen Hisbollah und Amal hat Syrien nur noch schwache Verbündete im Libanon, wie den weitgehend machtlosen Staatspräsidenten Emil Lahud. Durch die neue Lage bedroht sahen sich auch jene palästinensischen Gruppen im Libanon, die von Syrien abhängig sind. «Wir haben ein Interesse an einem instabilen Libanon», sagte ein Verantwortlicher einer dieser Gruppen gegenüber der WOZ vor einigen Monaten. Und die einzige palästinensische Fraktion, die noch über nennenswerte militärische Stellungen im Libanon verfügt, die PFLP-GC von Ahmed Dschibril, brachte neue Kämpfer aus Syrien in den Libanon und kündigte dies auch noch lauthals an, im vollen Bewusstsein um die provokative Wirkung; zwischen den libanesischen Polizei- und Armeekräften und der PFLP-GC-Miliz kam es darob zu erheblichen Spannungen. Auch die israelische Luftwaffe griff Ende Dezember und Ende Mai eine Basis der PFLP-GC an, nachdem Unbekannte jeweils Katjuschas nach Nordisrael geschossen hatten.

Doch die einzige mit Syrien verbündete Partei, die wirklich selber für ein Chaos im Libanon sorgen könnte - nämlich die Hisbollah -, war dafür nicht zu haben. Sie organisierte zwar Demonstrationen mit bis zu 800000 TeilnehmerInnen, doch sie war und ist weit davon entfernt, einen neuen Bürgerkrieg zu beginnen - vor allem dank der Besonnenheit ihres Generalsekretärs Hassan Nasrallah, wie linke LibanesInnen sagen. Ob sie von syrischen Kräften aufgefordert wurde, den Libanon zu destabilisieren, lässt sich nicht beurteilen. «Die Hisbollah ist stark genug, auch gegen den syrischen Willen zu handeln», sagte jedenfalls der mit Syrien und der Hisbollah verbündete palästinensische Verantwortliche der WOZ.

Das Chaos kam trotzdem in den Libanon, kaum ein Jahr nach dem syrischen Abzug. Dank der israelischen Regierung, die sich durch eine relative Bagatelle der Hisbollah dazu provozieren liess. Viele LibanesInnen erinnern sich heute, nach drei Wochen Krieg, wohl bereits wieder gerne an die stabilen syrischen Jahre. Zehntausende flohen ausgerechnet nach Syrien, wo sie mit offenen Armen empfangen wurden. Und die Hisbollah gilt mehr denn je als Verteidigerin des Libanon. Eine unbewaffnete Hisbollah dürfte deshalb ohne Friedensabkommen, das auch Syrien einbezieht, nicht zu haben sein. Auch nicht mit einer Uno-, Nato- oder Was-auch-immer-Truppe.