DIE israelische Gesellschaft weigert sich, Konzessionen zu machen, die den Frieden mit den Palästinensern in den Bereich des Möglichen rücken. Der mit großer Mehrheit zum neuen Ministerpräsidenten gewählte Scharon konnte gleich nach der Wahl verkünden, dass er sich an die Verhandlungsresultate seiner Vorgänger nicht gebunden fühle. Dass die Palästinenser nun einem Mann gegenüberstehen, der für sie seit dem Massaker der Flüchtlingslager in Sabra und Schatila als "Kriegsverbrecher" gilt, wird die Kluft zwischen beiden Völkern vertiefen.
Von HENRY SIEGMAN * Le Monde diplomatique 16.2.2001
* Henry Siegman arbeitet als "Senior Fellow" beim Council on Foreign Relations, New York (eine 1921 gegründete Expertenvereinigung, die u. a. die Zeitschrift "Foreign Affairs" herausgibt). Sein Beitrag gibt nicht die Meinung der Redaktion wieder.
Die Suche nach dem "richtigen Augenblick" für einen entscheidenden Durchbruch hat im Verlauf des Friedensprozesses im Nahen Osten immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. Leider scheinen die Momente mit deprimierender Regelmäßigkeit ungenutzt zu verstreichen. US-Präsident Clinton sah das politische Interregnum zwischen den Präsidentschafts- und Kongresswahlen und der Amtseinführung der neuen republikanischen Regierung in den USA als eine solche Chance. Dass er sie ergreifen wollte, zeigt seine Rede, die er am 7. Januar 2001 in New York vor einem jüdischen Publikum hielt, in dem die Friedensbefürworter dominierten. Seine Ansprache bedeutete tatsächlich eine Art Durchbruch, was damals fast niemand zur Kenntnis nahm. Vom Druck befreit, um die Gunst der Wähler buhlen zu müssen, sprach Clinton eine Reihe einfacher, aber schmerzhafter Wahrheiten aus, die den Rahmen der bisherigen US-Nahostpolitik eindeutig sprengten. Kein US-Präsident hatte sich je so klar zu den Kernpunkten des Konflikts geäußert.
Clinton bekräftigte zunächst den Anspruch der Palästinenser auf einen "souveränen und lebensfähigen" Staat, und zwar nicht nur, weil dies langfristig auch im Interesse Israels sei, sondern weil die Palästinenser ein Anrecht auf einen solchen Staat haben. Israels "Land ist auch ihr Land" sagte Clinton - eine Formulierung, die neue Horizonte für die US-amerikanische Nahostpolitik eröffnet.
Bereits 1993, als die Oslo-Verträge geschlossen wurden, hatte sich Israel implizit verpflichtet, einen Palästinenserstaat anzuerkennen, doch erst im Juli 2000, als der israelische Ministerpräsident Ehud Barak in Camp David seine Positionen formulierte, wurde diese Bereitschaft öffentlich artikuliert. Ein "Recht" der Palästinenser auf Souveränität hat Israel allerdings niemals anerkannt - man wollte sich nicht die Möglichkeit verbauen, diese Souveränität mit dem Verweis auf Sicherheitsinteressen stark einzuschränken.
Präsident Clinton war sich natürlich im Klaren, was seine Formulierung bedeutet, und auch die Implikationen hat er deutlich ausgesprochen. Zunächst betonte er sein Verständnis für die israelischen Sicherheitsbedenken und versicherte, die USA würden Israels militärische Überlegenheit in der Region auch weiterhin gewährleisten. Aber dann formulierte er deutlich, die Sicherheit müsse und dürfe "nicht auf Kosten der palästinensischen Souveränität gehen", noch dürfe sie "die territoriale Integrität Palästinas einschränken". Diese Formulierung war eine direkte Konsequenz aus seiner Feststellung, Palästina sei "auch ihr (der Palästinenser) Land".
In der Summe bedeuten diese beiden Einlassungen eine deutliche Annäherung an Positionen, wie sie die europäischen Länder schon seit längerem vertreten. Dieser Wandel in Clintons Auffassungen dürfte gewiss auch die Überlegungen der Nahostberater von Präsident Bush ein Stück weit beeinflussen. Die Regierung Bush wird es mit Initiativen im festgefahrenen Nahost-Friedensprozess nicht eilig haben und die Sache möglichst auf die lange Bank schieben. Nach den Wahlen in Israel könnte sich allerdings der Konflikt wieder deutlich verschärfen. Dann wäre die US-Regierung, die ihre langfristigen politischen Ziele kaum vor Ende 2001 formuliert haben dürfte, zumindest wieder als Krisenmanager gefordert.
Unter dem neuen israelischen Regierungschef Ariel Scharon ist eine Zuspitzung der Auseinandersetzungen garantiert, selbst wenn es zu einer "Regierung der nationalen Einheit" unter Beteiligung der Arbeitspartei kommen sollte. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Aktivitäten der libanesischen Hisbollah an der israelischen Nordgrenze einen neuen Krieg auslösen werden. Einer solchen Eskalation muss nicht unbedingt eine provokatorische Aktion von Scharon vorausgehen. Vermutlich wird der Likud-Führer versuchen, sein Image als gereifter, gemäßigter Politiker zu kultivieren, das er im Wahlkampf so nachdrücklich gepflegt hat. Nicht was Scharon tut, sondern was er verkörpert - jedenfalls in der Sicht der arabischen Welt -, droht den Hoffnungen auf Frieden einen schweren Rückschlag zu versetzen.
Für die Araber ist Scharon die Inkarnation des Bösen, ihm werden die finstersten Ziele zugeschrieben, die Israel "in Wahrheit" verfolge. Bei dem Namen denken sie sofort an den Krieg im Libanon, den Scharon angestiftet hat, um dort eine christliche Vasallenherrschaft zu etablieren, an die Massaker in Sabra und Schatila, an seinen provokativen Besuch auf dem Tempelberg, und an die verächtlichen Äußerungen über die Araber, die er seit Jahren wiederholt. All dies bestätigt eine dämonische Wahrnehmung, die der israelischen Politik unterstellt, die Vorherrschaft Israels über die gesamte Region sichern zu wollen, sowie die al-Aksa-Moschee und den Felsendom auf dem Haram asch-Scharif zu zerstören, um dort den jüdischen Tempel neu zu errichten.
Kontaktsperre für die Reizfigur Scharon
FÜR die arabische Politik wird eine Regierung Scharon zur entscheidenden Belastungsprobe. Selbst für arabische Führer, die diese paranoiden Vorstellungen nicht teilen, würde die Kontaktaufnahme mit Scharon eine Gefährdung der eigenen Machtbasis bedeuten. Dass unter solchen Umständen der Friedensprozess wieder in Gang kommt, scheint ausgeschlossen. Man kann eigentlich nur hoffen, dass Scharon nicht lange im Amt bleibt - was angesichts der unveränderten Mehrheitsverhältnisse im israelischen Parlament nicht unwahrscheinlich ist.
Scharons Reaktion auf die Fortsetzung der Gewalt von palästinensischer Seite lässt sich voraussehen, schließlich hat es ihm Ehud Barak vorgemacht. Dessen Politik der massiven Vergeltung hat über dreihundert Tote unter den Palästinensern gefordert (und man kann sich ausmalen, wie empört die israelische Linke reagiert hätte, wäre dies unter einer Likud-Regierung geschehen). Zweifellos wird sich eine neue Likud-Regierung auch darauf berufen, dass Barak den Ausbau der Siedlungen und des Netzes von Umgehungsstraßen im gesamten Westjordanland abgesegnet hat, desgleichen den Bau von Wohnungen für Juden in Ostjerusalem. Und dies in einem Ausmaß, das die Siedlungspolitik seines Vorgängers Netanjahu zum Teil sogar noch übertrifft. Eine Likud-geführte Regierung wird kaum hinter dem zurückbleiben, was die Labour-Regierung vorgelegt hat.
Aber selbst wenn Barak die Wahlen gewonnen und sich anschließend erneut um ein formelles Friedensabkommen mit den Palästinensern bemüht hätte, wären die Verhandlungen zweifellos ebenso ergebnislos verlaufen wie schon vor der Wahl. Denn die Gründe für das Nichtzustandekommen eines Abkommens gelten nach wie vor: Keiner will dem anderen die Souveränität über das Felsplateau zurückgeben, das für die Juden ihr Tempelberg und für die Araber ihr Haram asch-Scharif ist. Und auch in der Frage des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge sind die Positionen unvereinbar.
Selbst wenn eine der beiden Verhandlungsparteien durch Druck von außen zu einem Kompromiss gezwungen worden wäre, ist davon auszugehen, dass ein daraus entspringender Friedensvertrag nicht eingehalten worden wäre.
Doch es gibt noch wesentlich tiefer sitzende Gründe für die mangelnden Fortschritte im Friedensprozess. Beide Seiten sind nicht in der Lage, zwei klar unterschiedene Dinge auseinander zu halten: einerseits die Unfähigkeit der Unterhändler, die Probleme eines endgültigen Status zu lösen, und andererseits die gewaltsame Auflehnung gegen die israelische Besatzung in Gasa und dem Westjordanland. Dass beides zusammengehört, scheint allen selbstverständlich: Die neue Intifada gilt als die Folge der - in den Augen der Palästinenser - unbefriedigenden Verhandlungsangebote Baraks beim letzten Camp-David-Treffen. In dieser Sicht ist die Intifada, ob spontan entstanden oder von Arafat gelenkt, ein Ausdruck des palästinensischen Volkszorns angesichts der Tatsache, dass Israel ablehnt, was den Palästinensern als gerade noch vertretbare Minimalposition erscheint. Entsprechend glaubt man, die Gewalt werde ein Ende finden, sobald Israel sich auf akzeptable Bedingungen einlässt.
Doch das ist eine schwer wiegende Fehleinschätzung. Arafat mag versucht haben, die Intifada für seine Zwecke zu nutzen, aber die jüngsten Gewaltausbrüche im Westjordanland und im Gasa-Streifen hatten nicht das Ziel, Arafats Verhandlungsposition zu stärken. Selbst wenn die israelische Behauptung, Arafat habe die neue Intifada angeheizt, richtig wäre, so ist sie doch nur möglich geworden, weil die Verzweiflung der Palästinenser so groß ist, dass sie sich von den Friedensverhandlungen nicht mehr eine Verbesserung ihrer unerträglichen Situation oder ein Ende der verhassten israelischen Besatzung versprechen. Die Wut der Palästinenser ist keine Antwort auf die fehlenden Fortschritte in den Verhandlungen zwischen Barak und Arafat, sondern auf die tagtägliche Erfahrung der Schikanen und Erniedrigungen unter dem Besatzungsregime und auf die ständigen Eingriffe Israels in ihr Territorium und ihre Lebensweise. Die meisten Palästinenser wissen kaum, wie genau die Vorschläge beider Seiten bei den Verhandlungen aussehen. Und es interessiert sie auch nicht, weil sie längst nicht mehr glauben, dass Abkommen zwischen ihrer Führung und der israelischen Regierung ihre Lebensverhältnisse verbessern werden.
Weil die Palästinenser im Westjordanland und im Gasa-Streifen den Verlautbarungen ihrer Führung und der israelischen Regierung nicht mehr trauen, werden auch neue Abkommen oder die Ankündigung von Truppenrückzügen die palästinensischen Straßenkämpfer kaum beeindrucken. Die sieben Jahre lang gemachten Versprechungen im Rahmen des Oslo-Prozesses haben zu noch mehr Armut geführt, zu noch weniger palästinensischem Land und zu einer schärferen israelischen Kontrolle über die Bewegung von Menschen und Gütern. Die Enttäuschung und das Misstrauen der Palästinenser dürften durch neue Zusicherungen kaum zu beseitigen sein. Erst wenn Israel sein Besatzungsregime tatsächlich aufgibt und die Blockade der palästinensischen Gebiete aufhebt, kann die Gewalt ein Ende finden.
Im Kern bedeutet das: Israel muss einen einseitigen Truppenrückzug auf die Linien vollziehen, die Barak beim Camp-David-Gipfel im Juli vorgeschlagen hat, damit die Palästinenser in dem von Israel geräumten Gebiet im Westjordanland und im Gasa-Streifen einseitig ihren Staat ausrufen können. Diese Schritte erfordern keinen formellen Friedensvertrag, der alle noch ungeklärten Fragen regelt. Es würde vielmehr ausreichen, informelle, aber exakte Übereinkünfte zu treffen - mit Hilfe eines Vermittlers (zum Beispiel der USA) und in Abstimmung mit den Vereinten Nationen und der Europäischen Union.
Diese Vereinbarungen müssten unter anderem die Zusicherung beider Parteien enthalten, dass sie keine weiteren einseitigen Schritte mehr vollziehen werden. Alle noch offenen Fragen wären dann Gegenstand von Vertragsverhandlungen, nun allerdings nicht mehr zwischen einer Besatzungsmacht und der ihr unterworfenen Bevölkerung, sondern zwischen zwei souveränen Staaten. Zu den Verhandlungsthemen würden etwa der endgültige Grenzverlauf und Sicherheitsfragen (wie die Entmilitarisierung Palästinas und die Kontrolle Israels über den palästinensischen Luftraum) gehören, aber auch die Aufteilung der Wasserressourcen und der gemeinsamen Infrastruktur, die Regelung der Hoheitsrechte in Jerusalem und das Flüchtlingsproblem.
Entscheidend wäre dabei die Verpflichtung beider Seiten, nichts zu unternehmen, was die Verhandlungen über die offenen Fragen präjudizieren würde. Für die israelische Seite heißt das: Keine weiteren Enteignungen palästinensischen Bodens für die Erweiterung der Siedlungen, kein Wohnungsbau in den palästinensischen Vierteln Ostjerusalems. Für beide Seiten müsste gelten, dass jeder Versuch unterbleibt, den demografischen Status quo in Ostjerusalem zu verändern oder ihre Souveränität über irgendeinen Teil Jerusalems ohne Zustimmung der anderen Seite zu stärken. Israel müsste bereit sein, den Palästinensern die Verwaltungsautonomie in ihren Vierteln von Ostjerusalem zu konzedieren, und die Palästinenser müßten die Sicherheitszusammenarbeit mit Israel in vollem Umfang wieder aufnehmen.
Nun könnte man einwenden, dass die gegnerischen Parteien, wenn man ihnen denn so weit reichende Übereinkünfte zutraut, die Chance dazu eigentlich schon in Camp David hatten. Auf diesen Einwand gibt es eine schlichte Antwort: Solange Israel in Palästina bleibt - im physischen wie im psychischen Sinn -, solange es nicht aus dem Leben und der Gefühlswelt der Palästinenser verschwindet, solange wird sich gar nichts tun. Umgekehrt gilt: Ist Israel erst einmal aus den besetzten Gebieten abgezogen, wird vieles möglich sein.
Rückzug Israels auch ohne Lösung?
UM diese These zu präzisieren, muss man erklären, warum Arafat in Camp David die Vorschläge Baraks abgelehnt hat. Die israelischen Angebote waren damals tatsächlich sehr weit gehend und hätten vermutlich als solide Basis eines Abkommens mit Arafat getaugt, wenn Barak nicht vor dem Gipfel eine Reihe grober Fehler unterlaufen wären.
Als Barak sein Amt antrat, bestand eine seiner ersten Entscheidungen darin, den Oslo-Prozess als zweitrangig zu behandeln und sich auf Verhandlungen mit Syrien zu konzentrieren. Das war sein erster schwerer Fehler. Überdies ließ er Arafat wissen, dass er nicht einmal bereit war, den Truppenabzug aus dem Westjordanland zu vollziehen, zu dem sich Israel unter seinem Vorgänger Netanjahu im Wye-Abkommen verpflichtet hatte. Zweimal versicherte er öffentlich, er werde drei an Jerusalem grenzende palästinensische Dörfer der vollständigen Kontrolle durch die palästinensische Autonomiebehörde unterstellen - beide Male zog er sein Versprechen zurück. Im Widerspruch zu seinen erklärten Zielen, war er außerdem äußerst nachgiebig gegenüber den Siedlervereinigungen und ihren ideologischen Führern.
Barak sorgte dafür, dass die Erweiterung der jüdischen Siedlungen im Westjordanland und der Bau jüdischer Wohnungen in Jerusalem in einem Tempo fortgeführt wurden, wie es Netanjahu nie vorgelegt hatte. Barak trieb auch den Ausbau von Schnellstraßen im Westjordanland voran, die offenkundig nur dazu dienen, den Siedlern die "Umgehung" der palästinensischen Städte und Dörfer zu ermöglichen. Dieses Straßennetz hatte bereits Ariel Scharon in den Siebzigerjahren geplant; es hatte unter anderem die Funktion, einen künftigen Palästinenserstaat so zu durchschneiden, dass voneinander getrennte und damit von Israel besser zu kontrollierende Gebietseinheiten entstanden.
Man braucht nicht allzu viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie diese Maßnahmen das Misstrauen der Palästinenser verstärkten. Vom israelischen Geheimdienst kamen damals übrigens ständige Warnungen, dass man kurz vor dem Ausbruch palästinensischer Unruhen stehe. Als Barak dann in Camp David seine überraschend weit gehenden Vorschläge vorlegte, hatte er sich zuvor mit Arafat nicht abgestimmt. Er präsentierte dem Palästinenserführer das gesamte Paket nach dem Prinzip "Alles oder nichts". Und dann setzte er auf die Provokation noch eine Beleidigung drauf, indem er in seinen Katalog auch die Forderung hineinschrieb, neben dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee im Haram asch-Scharif-Bezirk auf dem Tempelberg eine Synagoge zu errichten. An diesem Punkt der Verhandlungen hat Arafat wahrscheinlich nur noch überlegt, wie er möglichst schnell aus Camp David abreisen kann.
Hätten die Israelis sich erst einmal aus den besetzten Gebieten zurückgezogen und hätten die Palästinenser einen eigenen Staat, könnte sich die Regelung der verbleibenden Probleme wesentlich einfacher darstellen. Und wenn es bei diesen jetzt unlösbar scheinenden Fragen zu weiteren Verzögerungen käme, könnten Israelis wie Palästinenser damit leben, insofern der Abzug der israelischen Soldaten durch palästinensische Sicherheitsgarantieren kompensiert werden könnte. Was beide Seiten dagegen nicht mehr ertragen können, ist die Fortdauer der israelischen Besatzung und die Fortsetzung der palästinensischen Gewalt gegen Israel - was beides unauflöslich zusammengehört.
Bei jeder Art von Verhandlung wären die schwierigsten Fragen der Status von Jerusalem und das Rückkehrrecht der Flüchtlinge. Natürlich kann keine der beiden Konfliktparteien der anderen die endgültige Souveränität über den Tempelberg/Haram asch-Scharif zugestehen, doch unter bestimmten Bedingungen könnten beide die Fortsetzung der bisherigen Situation dulden, in der die Palästinenser die Kontrolle über den muslimischen Heiligen Bezirk auf dem Tempelberg ausüben. In diesem Sinne könnte sich Israel verpflichten, keine Maßnahmen zur Erlangung der Souveränität über den gesamten Tempelberg zu ergreifen, während die Palästinenser zusichern könnten, keine Grabungen unterhalb des Haram asch-Scharif vorzunehmen, die womöglich auf Überreste des jüdischen Tempels stoßen würden.
Damit wäre der Weg offen für eine denkbare künftige Vereinbarung: Die Palästinenser bestehen nicht länger auf dem Rückkehrrecht und erhalten dafür offiziell die Souveränität über den Heiligen Bezirk. Unterdessen könnte man versuchen, das Flüchtlingsproblem zu entschärfen, etwa durch rasche Gründung eines internationalen Hilfsfonds, der palästinensischen Flüchtlingen Entschädigungen und Hilfen bei einer Umsiedlung anbietet.
Das populärste Argument gegen einen einseitigen israelischen Rückzug lautet, ohne Friedensvertrag seien die Sicherheitsrisiken für Israel unannehmbar hoch. Das ist ein seltsames Argument, denn damit wird ja unterstellt, Israels Sicherheit hänge von den Verpflichtungen ab, die Arafat mit der Unterzeichnung eines Vertragsdokuments eingeht.
Ob mit oder ohne Friedensvertrag - Israel kann es sich angesichts seiner gewaltigen militärischen Überlegenheit erlauben, aus den besetzten Gebieten abzuziehen. Die jüngste Entwicklung hat deutlich gezeigt, dass die israelischen Streitkräfte ihre Stärke wesentlich besser nutzen, wenn sie durch einen Nachbarstaat bedroht sind, als wenn sie innere Unruhen bekämpfen müssen. Eine Fortdauer der gegenwärtigen Situation bedeutet daher größere Sicherheitsrisiken als ein informell vereinbarter Rückzug.
Um Frieden zwischen Israel und den Palästinensern zu erreichen, muss eine Grundannahme des bisherigen Friedensprozesses vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Israel wie die Vereinigten Staaten sind stets davon ausgegangen, ohne formelles Friedensabkommen sei ein israelischer Rückzug aus den besetzten Gebieten nicht möglich. Aus den jüngsten Ereignissen kann man hingegen eines lernen: Der Rückzug ist die entscheidende Vorbedingung für einen Friedensschluss.
dt. Edgar Peinelt
Le Monde diplomatique Nr. 6374 vom 16.2.2001, Seite 6, 495 Zeilen, Dokumentation HENRY SIEGMAN