Das eigentliche Ziel des Angriffs auf Libanon ist es, das Regime in
Beirut zu stürzen und eine Marionetten-Regierung einzusetzen. Dies war
schon Ariel Scharons Ziel bei der Invasion des Libanon 1982. Es ist ihm
nicht gelungen. Aber Scharon und seine militärischen und politischen
Elitezöglinge haben dies nie wirklich aufgegeben. Genau wie 1982 wurde
auch die jetzige Operation in vollständiger Koordination mit den USA
geplant und ausgeführt. Wie damals geschieht dies auch jetzt in
Übereinstimmung mit einem Teil der libanesischen Elite. Das ist die
Hauptsache. Alles andere ist Lärm und Propaganda.
Am Vorabend der Invasion von 1982 sagte der Außenminister der USA,
Alexander Haig, zu Ariel Scharon, bevor die Invasion anfange, sei eine
»klare Provokation« notwendig, um die nötige Akzeptanz in der
Weltöffentlichkeit zu schaffen. Die Provokation fand tatsächlich statt
– genau zum richtigen Zeitpunkt – als Abu Nidals Terrorgruppe
versuchte, den israelischen Botschafter in London zu ermorden. Dies
hatte zwar keine Verbindung mit dem Libanon und noch weniger mit der
PLO (sie war ein Feind Abu Nidals), aber es genügte, als die
Provokation zu dienen, auf die man gewartet hatte.
Gefangenenaustausch
Dieses Mal ist die nötige Provokation durch die Gefangennahme zweier
israelischer Soldaten durch die Hisbollah geliefert worden. Jeder weiß,
daß sie nicht anders als durch Gefangenenaustausch befreit werden
können. Aber die große Militärkampagne, die seit Monaten vorbereitet
war, wurde der israelischen und internationalen Öffentlichkeit als
Rettungsmaßnahme verkauft. Seltsam genug geschah dasselbe zwei Wochen
vorher im Gazastreifen. Hamas und seine Partner nahmen einen Soldaten
gefangen – dies war dann die Rechtfertigung für eine massive Operation,
die seit langem vorbereitet war, und deren Ziel es ist, die
palästinensische Regierung zu demontieren.
Mädchen in Israel schreiben Botschaften an den Gegner auf |
Das erklärte Ziel der Libanon-Operation ist es, die Hisbollah von der
Grenze zu vertreiben, um es ihr zu verunmöglichen, weitere Soldaten
gefangen zu nehmen und Raketen auf israelische Städte abzufeuern. Die
Invasion in den Gazastreifen zielt offiziell auch darauf ab, Sderot und
Ashkelon aus der Schußweite der Qassams zu bringen. Das erinnert an die
»Operation Frieden für Galiläa« 1982. Damals wurde der israelischen
Öffentlichkeit und der Knesset erklärt, das Kriegziel sei, die
Katjuschas 40 Kilometer weg ins Landesinnere abzudrängen. Das war eine
bewußte Lüge; denn elf Monate lang war vor dem Krieg keine einzige
Katjuscha-Rakete über die Grenze geschossen worden. Von Anfang an war
es das Ziel der Operation, Beirut zu erreichen und dort einen
Quisling-Diktator einzusetzen. Wie ich es mehr als einmal erzählt habe,
hat mir Scharon selbst dieses neun Monate vor dem Krieg erzählt, und
ich habe es damals entsprechend mit seinem Einverständnis
veröffentlicht.
Natürlich hat die jetzige Operation auch verschiedene sekundäre Ziele
– und diese schließen die Befreiung der Gefangnen nicht mit ein. Jeder
normale Mensch weiß, daß dies nicht mit militärischen Mitteln erreicht
werden kann. Aber wahrscheinlich ist es möglich, einige der Tausende
von Raketen und Katjuschas, die die Hisbollah während der vergangenen
Jahre gehortet hat, zu zerstören. Für dieses Ziel sind die Armeechefs
bereit, die Bewohner von israelischen Städten zu gefährden, die den
Raketen ausgesetzt sind. Sie glauben, das lohne sich, wie ein Austausch
von Schachfiguren. Ein anderes sekundäres Ziel ist es, die
Abschreckungsmacht der Armee wieder herzustellen. Das ist ein Codewort,
um auch den verletzten Stolz der Armee zu rehabilitieren, der durch die
gewagten Aktionen der Hamas im Süden und der Hisbollah im Norden schwer
gelitten hat.
Offiziell verlangt die israelische Regierung, daß die Regierung des
Libanon die Hisbollah entwaffnet und sie aus dem Grenzgebiet entfernt.
Das ist unter der augenblicklichen Regierung – einem empfindlichen
Gefüge ethnoreligiöser Gemeinschaften – ziemlich unmöglich. Die
leichteste Erschütterung könnte das ganze Gebäude zum Einsturz bringen
und den Staat in vollkommene Anarchie stürzen – besonders, nachdem es
den Amerikanern gelang, die syrische Armee zu vertreiben, mithin das
einzige Element, das jahrelang für einige Stabilität gesorgt hatte.
Militärische Logik
Nun kalkuliert man, wenn die israelische Luftwaffe genügend schwere
Schläge gegen die libanesische Bevölkerung austeilt und dabei die See-
und Flughäfen lahmlegt, die Infrastruktur zerstört, die Wohnviertel
bombardiert, die Schnellstraße Beirut–Damaskus unterbricht, dann würde
die Öffentlichkeit auf die Hisbollah wütend werden und die libanesische
Regierung unter Druck setzen, daß diese Israels Forderungen erfüllt. Da
die gegenwärtige Regierung nicht einmal davon träumen kann, dies zu
tun, würde die Einsetzung eines Diktators durch Israel erfolgen.
Das ist militärische Logik. Ich habe meine Zweifel daran. Man kann eher
vermuten, daß der größte Teil der Libanesen wie jedes andere Volk auf
der Welt reagieren wird: mit Zorn und Haß gegen die Invasoren. So
geschah es 1982, als die Schiiten im Süden des Libanon – bis dahin so
gefügig wie ein Fußabstreifer – sich gegen die israelischen Besatzer
erhoben und die Hisbollah gründeten, die die stärkste Kraft des Landes
wurde. Wenn die libanesische Elite sich nun als Kollaborateur Israels
erweisen sollte, wird sie von der Landkarte gefegt. Übrigens: Haben
denn die Qassams und Katjuschas die israelische Bevölkerung dazu
gebracht, auf ihre Regierung Druck auszuüben, damit sie aufgibt? Im
Gegenteil.
Folgen für Irak
Die amerikanische Politik ist voller Widersprüche. Präsident Bush
wünscht im ganzen Nahen Osten »Regimewechsel«. Das gegenwärtige
libanesische Regime ist aber erst kürzlich von den Amerikanern
eingesetzt worden. Mittlerweile ist es Bush nur gelungen, den Irak zu
zerbrechen und dort einen Bürgerkrieg zu verursachen. Er könnte
dasselbe im Libanon veranlassen, wenn er nicht beizeiten die
israelische Armee stoppt. Außerdem könnte ein vernichtender Schlag
gegen die Hisbollah nicht nur die Wut des Iran anheizen, sondern auch
unter den Schiiten im Irak, auf deren Unterstützung sich Bushs Pläne
eines proamerikanischen Regimes gründen.
Wie sollte also die Antwort lauten? Nicht zufällig hat die Hisbollah
den Überfall mitsamt Soldatenentführung zu einem Zeitpunkt
durchgeführt, als die Palästinenser um Beistand riefen. Die
palästinensische Sache ist in der ganzen arabischen Welt populär. Indem
sie ihnen zeigt, daß sie ein Freund auch in der Not ist, wenn alle
anderen Araber so schmählich versagen, hofft die Hisbollah ihre
Popularität zu vergrößern. Wenn jetzt schon ein
israelisch-palästinensisches Abkommen erreicht worden wäre, dann wäre
die Hisbollah nur mehr ein lokales libanesisches Phänomen, ohne Einfluß
auf unsere Situation.
(Aus dem Englischen von Ellen Rohlfs und Christoph Glanz)
* www.uri-avnery.de