Uri Avnery: 101 neue Thesen Wahrheit gegen Wahrheit
Ein Gush Shalom-Dokument zum israelisch-palästinensischen Konflikt
Uri Avnery, 11.6.2004
http://www.uri-avnery.de/staticsite/staticsite.php?menuid=16&topmenu=16&keepmenu=inactive
Im April 2001 veröffentlichte Uri Avnery seine "80
Thesen für ein neues Friedenslager",
die damals sehr viel Aufmerksamkeit erregten. Der Nahost-Konflikt hat
sich seither dramatisch zum Schlechteren entwickelt. Drei Jahre später
nun legt Uri Avnery, prominentester Kopf der israelischen
Friedensorganisation "Gush Shalom", eine Neufassung der "Thesen" vor.
Wir dokumentieren die "101 Thesen Wahrheit gegen Wahrheit" im Folgenden.
Die Tyrannei der Mythen
1. Die gewalttätige Konfrontation, die im Oktober 2000 ausbrach
und die „Al-Aqsa-Intifada genannt wurde, ist nur ein weiteres
Stadium des historischen Konfliktes, der mit der Gründung der
zionistischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts begann.
2. Eine fünfte Generation von Israelis und Palästinensern sind
schon in diesen Konflikt hineingeboren worden. Die gesamte
psychische und physische Welt dieser Generation wird von diesem
Konflikt bestimmt, der alle Bereiche ihres Lebens beherrscht.
3. Im Laufe dieses langen Konfliktes hat sich wie in jedem Krieg
eine ungeheure Menge von Mythen, Geschichtsfälschungen,
Propagandaslogans und Vorurteile auf beiden Seiten entwickelt.
4. Das Verhalten von jeder der beiden Konfliktseiten wird durch ihr
historisches Narrativ, die Art und Weise, wie sie die 120 jährige
Geschichte des Konfliktes wahrnehmen, bestimmt. Die
zionistische historische Version und die palästinensische Version
widersprechen einander völlig – sowohl allgemein, als auch in fast
jeder Einzelheit.
5. Seit Beginn des Konfliktes bis zum heutigen Tag hat die
zionistische/ israelische Führung in totaler Nichtbeachtung des
palästinensischen Narrativ gehandelt. Selbst dann, wenn sie eine
Lösung erreichen wollte, waren solche Bemühungen zum
Misslingen verurteilt, weil die nationalen Aspirationen, Traumas,
Ängste und Hoffnungen des palästinensischen Volkes ignoriert
wurden. Etwas Ähnliches geschah auch auf der anderen Seite,
auch wenn es keine Symmetrie zwischen beiden Seiten gibt.
6. Die Schlichtung eines solch langen historischen Konfliktes ist
nur dann möglich, wenn jede Seite in der Lage ist, die psychisch-
politische Welt der anderen Seite zu verstehen und bereit ist, mit
der anderen Seite auf gleicher Augenhöhe – ebenbürtig - zu
sprechen. Geringschätzige, macht-orientierte, anmaßende,
unsensible und ignorante Haltung verhindern eine
übereinstimmende Lösung.
7. „Linke“ israelische Regierungen, die zuweilen große Hoffnungen
weckten, litten an solch einer Haltung genau so wie „rechte“ und
verursachten so eine breite Kluft zwischen ihrem anfänglichen
Versprechen und seiner verheerenden Erfüllung. ( Z.B. Ehud
Baraks Amtsperiode).
8. Ein großer Teil der alten Friedensbewegung (auch als „ die
zionistische Linke“ oder das „vernünftige Lager“ bekannt), so wie
Peace Now, ist auch von solcher Haltung betroffen. Darum stürzt
sie in Krisenzeiten in sich zusammen.
9. Deshalb wäre es die erste Aufgabe einer neuen
Friedensbewegung, sich selbst von falschen und einseitigen
Ansichten zu befreien.
10. Das heißt nicht, dass das israelische Narrativ automatisch
beiseite geschoben und das palästinensische Narrativ fraglos
akzeptiert werden sollte oder umgekehrt. Stattdessen fordert es
eine Bereitschaft, die Position der anderen Seite dieses
historischen Konfliktes zu hören und zu verstehen, um die beiden
nationalen Erfahrungen zu überbrücken und sie in einem
gemeinsamen Narrativ zu vereinigen.
11. Jeder andere Weg wird zu einer Verewigung des Konfliktes
führen mit Perioden scheinbarer Ruhe und Versöhnung, die häufig
von gewalttätigen Feindseligkeiten zwischen den beiden Völkern
und zwischen Israel und der arabischen Welt unterbrochen werden.
Angesichts des Tempos der Entwicklung von
Massenvernichtungswaffen können weitere Runden der
Feindseligkeit zur Vernichtung beider Seiten des Konfliktes führen.
Die Wurzel des Konfliktes
12. Der Kern des Konfliktes ist die Konfrontation zwischen der
israelisch-jüdischen und der palästinensisch-arabischen Nation. Es
ist ein nationaler Konflikt, auch wenn er religiöse, soziale und
andere Aspekte hat.v
13. Die zionistische Bewegung war im Wesentlichen eine jüdische
Reaktion auf das Auftauchen nationaler Bewegungen in Europa, von denen
alle mehr oder weniger antisemitisch waren. Nachdem Juden von den
europäischen Natione
n zurückgewiesen wurden, haben einige von ihnen sich entschieden, dem
neuen europäischen Modell folgend, eine Nation für sich zu bilden und
einen eigenen nationalen Staat, in dem sie Herr ihres eigenen
Schicksals sein kön
nen, zu gründen.
14. Traditionelle und religiöse Motive zogen die zionistische Bewegung
nach Palästina (Eretz Israel auf Hebräisch) und es wurde entschieden,
einen jüdischen Staat in diesem Land zu errichten. Die Maxime lautete:
„Ein Land ohne Volk - für ein Volk ohne Land.“ Diese Maxime wurde nicht
nur aus Ignoranz ausgedacht, sondern spiegelte auch die allgemeine
Arroganz gegenüber den nicht europäischen Völkern wieder, die damals in
Europa vorherrschte.
15. Palästina war kein leeres Land – nicht Ende des 19. Jahrhunderts
und zu keiner anderen Zeit. Zu jener Zeit lebte eine halbe Million in
Palästina, 90% waren Araber. Die Bevölkerung widersetzte sich natürlich
dem Einfall ausländischer Siedler in ihrem Land.
16. Die arabische Nationalbewegung tauchte fast gleichzeitig mit der
zionistischen Bewegung auf, anfangs um gegen das Osmanisch-türkische
Reich zu kämpfen und später gegen die kolonialen Regime, die nach dem
1. Weltkrieg
auf seinen Trümmern errichtet wurden. Eine eigene
arabisch-palästinensische Nationalbewegung entwickelte sich im Land,
nachdem die Briten einen Staat Palästina geschaffen hatten, und später
während des Kampfes gegen die zionistische Infiltration.
17. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges ging der Kampf zwischen den beiden
National-Bewegungen, der jüdisch-zionistischen und der
palästinensisch-arabischen, weiter. Beide hofften, ihre Ziele innerhalb
desselben Territoriums zu erreichen, obwohl sie unvereinbar waren.
Diese Situation ist bis heute unverändert geblieben.
18. Als die Verfolgung der Juden in Europa zunahm und als die Länder
der Welt ihre Tore für die aus dem Inferno fliehenden Juden schlossen,
gewann die zionistische Bewegung an Stärke. Der Antisemitismus der
Nazis machte die zionistische Utopie zu einem realisierbaren modernen
Unternehmen, indem er eine Massenimmigration ausgebildeter
Arbeitskräfte, Intellektueller, Technologie und Kapital nach Palästina
brachte. Der Holocaust, dem sechs Millionen Juden zum Opfer fielen, gab
der zionistischen Forderung, die zur Errichtung des Staates Israel
führte, ungeheure moralische und politische Kraft.
19. Die palästinensische Nation, die Zeuge vom Wachsen der jüdischen
Bevölkerung in ihrem Land wurde, konnte nicht begreifen, warum man von
ihr erwartet, dass sie den Preis für die von Europäern gegen Juden
begangenen Verbrechen bezahlen sollte. Sie wehrte sich mit Gewalt gegen
weitere jüdische Einwanderung und die Erwerbung von Land durch Juden.
20. Der Kampf zwischen den beiden Nationen im Land war auch ein „Krieg
der Traumas“. Die israelisch-hebräische Nation trug mit sich das alte
Trauma der Verfolgung der Juden in Europa – Massaker,
Massenvertreibung, die Inquisition, Pogrome und den Holocaust. Sie
lebte mit dem Bewusstsein, das ewige Opfer zu sein. Der Zusammenstoß
mit der arabisch-palästinensischen Nation erschien ihnen nur wie eine
Fortsetzung der antisemitischen Verfolgung.
21. Die arabisch-palästinensische Nation trug die Erinnerungen
einer lang andauernden kolonialen Unterdrückung mit sich: Beleidigungen
und Demütigungen, besonders auf dem Hintergrund der historischen
Erinnerung an die ruhmreichen Tage des Kalifats. Auch sie lebten mit
dem Bewusstsein, Opfer zu sein, und die Nakba (Katastrophe) von 1948
erschien ihnen wie die Fortsetzung von Unterdrückung und Erniedrigung
durch westliche Kolonisten.
22. Die völlige Blindheit jeder der beiden Nationen gegenüber
der nationalen Existenz der anderen führte zu falschen und verdrehten
Wahrnehmungen, die sich tief in ihr kollektives Bewusstsein eingrub.
Diese Wahrnehmungen
bestimmen ihre Haltung zu einander bis auf den heutigen Tag.
23. Die Araber glaubten, dass die Juden durch den westlichen
Imperialismus in Palästina eingepflanzt worden sind, um die arabische
Welt zu unterwerfen und ihre natürlichen Ressourcen zu kontrollieren.
Diese Überzeugung war durch die Tatsache unterstützt, dass die
zionistische Bewegung von Anfang an sich darum bemühte, mit wenigstens
einer westlichen Macht ein Bündnis einzugehen, um den arabischen
Widerstand zu überwältigen (Deutschland in den Tagen von Herzl, England
im Zusammenhang mit dem Uganda-Plan, der Balfour-Erklärung und bis zum
Ende des Mandates, die Sowjet-Union 1948, Frankreich von 1950 bis zum
Krieg von 1967, von da an die USA). Das hatte eine praktische
Kooperation und Interessengemeinschaft zwischen dem zionistischen
Unternehmen und den imperialistischen und kolonialistischen Mächten zur
Folge, die gegen die arabische Nationalbewegung gerichtet war.
24. Die Zionisten waren andrerseits davon überzeugt, dass der arabische
Widerstand gegenüber dem zionistischen Unternehmen – das die Juden aus
den Flammen Europas retten wollte – einfach die Konsequenz der
mörderischen Natur der Araber und des Islam wäre. In ihren Augen waren
die arabischen Kämpfer „ eine Bande“ und die jeweiligen Aufstände waren
„Krawalle“.
25. Tatsächlich war es der extremste zionistische Führer Wladimir
(Zeev) Jabotinsky, der fast allein in den 1920er Jahren erkannte, dass
der arabische Widerstand gegen die zionistische Besiedlung
unvermeidlich und natürlich war - nach seinem Gesichtspunkt sogar
gerecht - eine Reaktion des „einheimischen“ Volkes, das sein Land gegen
fremde Eindringlinge verteidigt. Jabotinsky erkannte auch, dass die
Araber im Land eine nationale Entität für sich waren und verspottete
die Versuche, die Führer anderer arabischer Länder zu bestechen, um dem
palästinensisch arabischen Widerstand ein Ende zu setzen. Jabotinskys
Lösung war jedoch, einen „eisernen Wall“ gegen die Araber zu errichten
und ihren Widerstand mit Gewalt zu brechen.
26. Diese vollkommen widersprüchlichen Auffassungen der Fakten
durchdringen jeden einzelnen Aspekt des Konfliktes. Z.B.
interpretierten die Juden ihren Kampf um „jüdische Arbeit“ als eine
fortschrittliche soziale Leistung, um ein Volk von Intellektuellen,
Kaufleuten, Zwischenhändlern und Spekulanten in ein Volk von Arbeitern
und Landwirten zu verwandeln. Die Araber sahen dies andrerseits als
eine rassistische Bemühung der Zionisten an, die sie enteigneten und
vom Arbeitsmarkt verdrängten, um auf ihrem Land eine araberfreie,
separate jüdische Wirtschaft zu schaffen.
27. Die Zionisten waren stolz auf ihre „Erlösung des Landes“. Sie
kauften es zum vollen Preis mit Geld, das von Juden aus aller Welt
gesammelt wurde. „Olim“ (neue Einwanderer, eigentlich Pilger), von
denen viele in ihrem früheren Leben Intellektuelle und Kaufleute waren,
verdienten nun ihren Lebensunterhalt durch schwere körperliche Arbeit.
Sie glaubten, dies alles mit friedlichen Mitteln erreicht und ohne
einen einzigen Araber enteignet zu haben. Für die Araber aber war dies
ein grausames Narrativ der Enteignung und Vertreibung. Die Juden
erwarben das Land von arabischen, abwesenden Landbesitzern, die in den
Städten Palästinas oder im Ausland lebten, und vertrieben mit Gewalt
die Bauern, die seit Generationen dieses Land bearbeiteten. Zu diesem
Zweck engagierten die Zionisten die türkische und später die britische
Polizei. Die arabische Bevölkerung sah mit Verzweiflung, wie ihnen das
Land weggenommen wurde.
28. Gegen die zionistische Behauptung „erfolgreich die Wüste zum Blühen
gebracht“ zu haben, zitierten die Araber aus Zeugnissen europäischer
Reisenden, die seit mehreren Jahrhunderten Palästina als ein
verhältnismäßig bevölkertes und blühendes Land beschrieben, das seinen
regionalen Nachbarländern gleich kam.
Unabhängigkeit und Katastrophe
29. Der Kontrast zwischen den beiden nationalen
Darstellungen erreichte seinen Höhepunkt im Krieg 1948, der von den
Juden „Unabhängigkeitskrieg“ oder sogar „Befreiungskrieg“ genannt wurde
und von den Arabern „ die Nakbe“, die Katastrophe.v
30. Als der Konflikt in der Region sich verstärkte, entschieden die
Vereinten Nationen auch auf Grund der gewaltigen Auswirkung des
Holocaust, das Land in zwei Staaten zu teilen, in einen jüdischen und
einen arabischen. Jerusalem und seine Umgebung sollte einen
Sonderstatus unter internationaler Jurisdiktion erhalten. Den Juden
waren 55% des Landes einschließlich des wenig bevölkerten Negev
zugewiesen worden.
31. Der größte Teil der zionistischen Bewegung akzeptierte den
Teilungsplan, auch davon überzeugt, dass es entscheidend war, für die
jüdische Souveränität ein festes Fundament zu errichten. In geheimen
Treffen verbarg Ben Gurion jedoch nie seine Absicht, bei der ersten
Gelegenheit, das den Juden zugewiesene Land zu erweitern. Deshalb hat
Israels Unabhängigkeitserklärung keine Staatsgrenzen definiert und
diese Grenzen bis heute nicht festgelegt.
32. Die arabische Welt akzeptierte den Teilungsplan nicht und
betrachtete ihn als einen gemeinen Versuch der Vereinten Nationen, die
damals im wesentlichen ein Klub westlicher und kommunistischer Staaten
waren, ein Land zu teilen, das ihnen nicht gehörte. Mehr als die Hälfte
des Landes der jüdischen Minderheit zu geben, die nur ein Drittel der
Bevölkerung darstellte, machte es in ihren Augen unverzeihlich.
33. Der von den Arabern nach dem Teilungsplan initiierte Krieg war
unvermeidlich ein „ethnischer Krieg“; ein Krieg, in dem jede Seite so
viel Land wie möglich zu erobern trachtete und die Bevölkerung der
anderen Seite zu vertreiben versuchte. Solch eine Kampagne ( die später
unter „ethnische Säuberung“ bekannt wurde) schließt immer Vertreibungen
und Gräueltaten in sich.
34. Der Krieg von 1948 war die direkte Fortsetzung des
zionistisch-arabischen Konfliktes, und jede Seite versuchte, ihr
historisches Ziel zu erreichen. Die Juden wollten einen homogenen
nationalen Staat, der so groß wie möglich ist, errichten. Die Araber
wollten die zionistische jüdische Entität, die in Palästina errichtet
worden ist, vernichten.
35. Beide Seiten praktizierten ethnische Reinigung als einen integralen
Teil ihres Kampfes. Fast keine Araber blieben in den von den Juden
eroberten Gebieten und überhaupt keine Juden in den von Arabern
eroberten Gebieten. Weil jedoch die von den Juden eroberten Teile sehr
groß waren und die von den Arabern eroberten Teile nur sehr klein waren
( wie der Etzion Block und das jüdische Stadtviertel in der Altstadt
von Jerusalem), war das Ergebnis einseitig. (Die Idee des
„Bevölkerungsaustauschs“ und des „Transfers“ waren von zionistischen
Organisationen schon in den Dreißigerjahren aufgekommen) Tatsächlich
bedeutete dies die Vertreibung der arabischen Bevölk
erung aus dem Land. Andrerseits dachten viele unter den Arabern, dass
die Zionisten dorthin zurückgehen sollten, wo sie hergekommen waren).
36. Der Mythos der „wenigen gegen die vielen“ wurde von jüdischer Seite
geschaffen, um den Stand der jüdischen Gemeinschaft von 650 000 gegen
die ganze arabische Welt von über 100 Millionen zu beschreiben. Die
jüdische Gemeinschaft verlor 1% seiner Bevölkerung in diesem Krieg. Die
arabische Seite sah ein völlig anderes Bild: eine zersplitterte
arabische Bevölkerung, ohne nennenswerte nationale Führung ohne ein
gemeinsames Kommando über sehr dürftige militärische Kräfte, spärlich
mit meist veralteten Waffen ausgerüstet, stand einer außerordentlich
gut organisierten jüdischen Gemeinschaft gegenüber, die sehr gut im
Gebrauch von den Waffen ausgebildet war, die aus aller Welt ( besonders
aus dem Sowjet-Block) kamen. Die benachbarten arabischen Länder
verrieten die Palästinenser, und als sie schließlich ihre Armeen nach
Palästina sandten, konkurrierten sie hauptsächlich untereinander, ohne
Koordination und ohne gemeinsamen Plan. Vom sozialen und militärischen
Standpunkt aus war die Kampffähigkeit auf israelischer Seite der
arabischen Seite, die sich kaum von der kolonialen Ära erholt hatte,
weit überlegen.
37. Nach dem UN- Plan sollte der jüdische Staat 55 % von Palästina
erhalten, in dem die Araber fast die Hälfte der Bevölkerung ausgemacht
hätte. Während des Krieges erweiterte der jüdische Staat sein Gebiet
und hatte schließlich 78 % der Fläche Palästinas, die fast von Arabern
frei war. Die arabische Bevölkerung von Nazareth und einigen Dörfern in
Galiläa blieb fast zufällig; die Dörfer im Dreieck wurden Israel als
Teil eines Deals mit König Abdallah gegeben – deshalb konnten ihre
arabischen Einwohner nicht einfach vertrieben werden.
38. Im Krieg wurden etwa 750 000 Palästinenser entwurzelt. Ein Teil
befand sich in der Kampfzone und floh, wie es Zivilisten in jedem Krieg
tun. Ein Teil wurde durch Terrorakte, wie das Deir-Yassin-Massaker
vertrieben. Andere wurden systematisch im Laufe der ethnischen
Säuberung vertrieben.
39. Nicht weniger bedeutsam als die Vertreibung selbst, ist die
Tatsache, dass es den Flüchtlingen nicht erlaubt wurde, nach den
Kämpfen zu ihren Häusern zurückzukehren, wie es nach einem
konventionellen Krieg üblich ist. Ganz im Gegenteil, der neue Staat
Israel sah die Beseitigung der Araber als großen Segen an und fuhr
fort, etwa 450 arabische Dörfer dem Erdboden gleich zu machen. Neue
jüdische Dörfer wurden auf den Ruinen erbaut und übernahmen eine
hebräische Version des alten Namens. Die verlassenen Stadtteile der
Städte wurden mit Massen neuer Einwanderer gefüllt. In den israelischen
Schulbüchern kamen die früheren Bewohner nicht vor.
„Ein jüdischer Staat“
40. Die Unterzeichnung der Waffenstillstandsabkommen zu Beginn
von 1949 setzte dem historischen Konflikt kein Ende. Im Gegenteil, sie
versetzte ihn auf eine neue und intensivere Stufe.
41. Der neue Staat Israel widmete seine frühen Jahre der Konsolidierung
seines Charakters als einem homogenen „jüdischen Staat“. Weite Flächen
des Landes wurden von den „Abwesenden“ (Flüchtlingen, denen die
Rückkehr untersagt war) enteignet, auch von den „anwesend Abwesenden“ (
Arabern, die in Israel blieben, die aber nicht die israelische
Staatsangehörigkeit erhielten) und sogar von arabischen Bürgern Israels
wurde das meiste Land genommen. Auf diesem Land wurde ein dichtes
Netzwerk von jüdischen Gemeinschaften geschaffen. Jüdische Immigranten
wurden eingeladen und dazu überredet, in Massen zu kommen. Dies ließ
die Bevölkerung in nur wenigen Jahren um ein Vielfaches anwachsen.
42. Zur selben Zeit verfolgte der Staat eine energische
Politik der Zerstörung der palästinensischen nationalen Entität. Mit
israelischer Hilfe übernahm König Abdullah von Trans-Jordanien die
Kontrolle über die Westbank,
und seitdem gibt es in der Tat eine israelische Garantie für die
Existenz des haschemitischen Königreichs von Jordanien.
43. Der Hauptgrund für die seit drei Generationen existierende Allianz
zwischen Israel und der haschemitischen Dynastie ist, die Errichtung
eines unabhängigen und lebensfähigen palästinensischen Staates zu
verhindern, der von der israelischen Führung als ein potentielles
Hindernis für die Verwirklichung des zionistischen Ziels betrachtet
wurde und noch wird.
44. Eine historische Veränderung geschah Ende der Fünfzigerjahre auf
palästinensischer Seite, als Yassir Arafat und seine Anhänger die
palästinensische Befreiungsbewegung (Fatah) gründeten, nicht nur um den
Kampf gegen Israel zu führen, sondern um die palästinensische Sache aus
der Vormundschaft der arabischen Regierungen zu befreien. Es war kein
Zufall, dass diese Bewegung nach dem Fehlschlag der großen
pan-arabischen Welle auftauchte, deren bekanntester Vertreter Gamal
Abd-el-Nasser war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten viele Palästinenser
gehofft, in eine vereinigte pan-arabische Nation aufgenommen zu werden.
Als diese Hoffnung dahinschwand, setzte sich
die eigene nationale palästinensische Identität wieder durch.
45. In den frühen 60ern gründete Gamal Abd-el-Nasser die
Palästinensische Befreiungs-organisation (PLO) hauptsächlich deshalb,
um unabhängige palästinensische Aktionen, die ihn unerwünscht in einen
Krieg mit Israel reißen könnten, zu vereiteln. Die Organisation war
dafür gedacht, dass Ägypten die Kontrolle über die Palästinenser hat.
Doch nach dem arabischen Zusammenbruch im Juni 1967 übernahm die Fatah
unter Yassir Arafat die Kontrolle über die PLO, die seitdem die
repräsentative nationale Adresse des palästinensischen Volkes ist.
Der Sechs-Tage-Krieg
46. Wie alles andere, das sich in den vergangenen 120
Jahren ereignete, wird der Juni –Krieg von 1967 auf sehr verschiedene
Weise von beiden Seiten gesehen. Nach dem israelischen Mythos war er
ein verzweifelter Verteidigungskrieg, der wunderbarerweise eine Menge
Land in israelischer Hand zurückließ. Nach dem palästinensischen Mythos
zog Israel die Führer Ägyptens, Syriens und Jordanien in einen Krieg,
an dem Israel interessiert war und der von Anfang an dahin zielte, sich
das zu nehmen, was von Palästina übrig geblieben war.
47. Viele Israeli glauben, dass der Sechs-Tage-Krieg die Wurzel alles
Übels ist und dass erst dann aus dem friedliebenden und
fortschrittlichen Israel ein Eroberer und Besatzer wurde. Diese
Überzeugung erlaubt ihnen, die
absolute Reinheit des Zionismus und des Staates Israel bis zu diesem
Zeitpunkt der Geschichte aufrecht zu erhalten und ihre alten Mythen zu
bewahren. In dieser Legende steckt keine Wahrheit.
48. Auch der Krieg von 1967 war nur eine Phase des alten Kampfes
zwischen den beiden Nationalbewegungen. Im Wesentlichen änderte sich
nichts; es änderten sich nur die Umstände. Das wichtigste Ziel der
zionistischen Bewegung – ein jüdischer Staat, Ausdehnung und Besiedlung
– wurde durch die Eroberung von noch mehr Land gefördert. Die
besonderen Umstände dieses Krieges machten eine komplette ethnische
Säuberung unmöglich, aber mehrere hunderttausend Palästinenser waren
trotzdem vertrieben worden.
49. Der Teilungsplan von 1947 gestand Israel 55% von Palästina zu,
zusätzliche 23 % wurden im Krieg von 1948 erobert, und nun waren auch
die restlichen 22% jenseits der Grünen Linie (Waffenstillstandslinie
von 1949) dazu
erobert worden. 1967 vereinigte Israel unabsichtlich alle Teile des
palästinensischen Volkes, die im Land geblieben waren ( einschließlich
einem Teil der Flüchtlinge).
50. Sobald der Krieg beendet war, begann die Siedlungsbewegung in den
besetzten Gebieten. Fast alle israelischen politischen Faktionen
beteiligten sich an dieser Bewegung – von der
messianisch-nationalistischen „Gush Emunin“ bis zur „linken“
Vereinigten Kibbuzbewegung. Die ersten Siedler wurden von den meisten
Politikern, linken wie rechten, unterstützt, von Yigal Alon (jüdische
Siedlung in Hebron) bis Shimon Peres (Kedumim Siedlung).
51. Die Tatsache, dass alle Regierungen Israels die Siedlungen
unterstützten, wenn auch in verschiedenem Ausmaß, beweist, dass der
Wunsch neue Siedlungen zu bauen, nicht speziell an ein ideologisches
Lager geknüpft war. Es betraf die ganze zionistische Bewegung. Der
Eindruck, dass nur eine kleine Minderheit den Siedlungsbau
vorangetrieben hat, ist eine Illusion. Nur eine intensive Bemühung
aller Teile der Regierung, einschließlich aller Ministerien konnten ab
1967 die gesetzgebende, strategische und finanzielle Infrastruktur für
solch ein lang andauerndes und teures Unternehmen schaffen.
52. Die gesetzgebende Infrastruktur operierte auf der irreführenden
Behauptung, dass die Besatzungsbehörde der Besitzer des
„Regierungslandes“ sei, obwohl dies die wesentlichen Landreserven des
palästinensischen Volkes sind. Es versteht sich von selbst, dass die
Siedlungsaktivitäten im Widerspruch zum internationalen Gesetz stehen.
53. Der Streit zwischen den Vertretern von „Groß-Israel“ und denen
eines „territorialen Kompromisses“ ist im Wesentlichen ein Streit über
den Weg, das gleiche grundlegende zionistische Ziel zu erreichen: einen
homogenen jüdischen Staat in einem größtmöglichen Territorium – aber
ohne eine „tickende demographische Bombe“. Die Vertreter des
„Kompromisses“ betonen das demographische Problem und wollen den
Einschluss der palästinensischen Bevölkerung verhindern. Die Anhänger
von „Groß-Israel“ setzen die Betonung auf den geographischen Punkt und
glauben – privat oder öffentlich – dass es möglich sei, die
nicht-jüdische Bevölkerung aus diesem Land zu vertreiben
(Code-Name: „Transfer“)
54. Der Generalstab der israelischen Armee spielte beim Planen und
Bauen der Siedlungen eine wichtige Rolle. Er schuf die Planung für die
Siedlungsblocks (identifiziert mit Ariel Sharon) und die
Umgehungsstraßen mit Längs- und Querachsen, die die Westbank und den
Gazastreifen in Stücke teilen und die Palästinenser in isolierte
Enklaven sperren, die alle von Siedlungen und Besatzungssoldaten
umzingelt sind.
55. Die Palästinenser wandten verschiedene Methoden des Widerstandes
an: hauptsächlich Angriffe über die jordanische und libanesische
Grenzen und Angriffe innerhalb Israels oder überall in der Welt. Diese
Aktionen werden von Israelis als Terror betrachtet, während die
Palästinenser sie als legitimen Widerstand eines besetzten Volkes
sehen. Während die Israelis die PLO-Führung, von Yassir Arafat
geleitet, als ein Terroristenhauptquartier betrachten, wurde sie nach
und nach international als die „einzige legitime Vertretung“ des
palästinensischen Volkes anerkannt.
56. Ende 1987, als den Palästinensern klar war, dass diese Aktionen
nicht halfen, den Siedlungsbau zu beenden, der ihnen nach und nach das
Land unter den Füßen wegzog, begannen sie mit der Intifada – ein
spontaner Aufstand von unten aus allen Teilen der Bevölkerung . In
dieser „ersten“ Intifada wurden 1500 Palästinenser getötet, unter ihnen
Hunderte von Kindern; ein vielfaches der Anzahl der israelischen Opfer,
aber es brachte das „palästinensische Problem“ zurück auf die
israelische und internationale Agenda.
Der Friedensprozess
57. Der Oktoberkrieg 1973, der mit überraschenden
Anfangserfolgen der ägyptischen und syrischen Kräfte begann und mit
ihrer Niederlage endete, überzeugte Yassir Arafat und seine nächsten
Mitarbeiter davon, dass die Verwirklichung von national
palästinensischen Bestrebungen mit militärischen Mitteln unmöglich war.
Er entschied sich, eine politische Option zu schaffen, die zu einem
Abkommen mit Israel führen und es den Palästinensern durch
Verhandlungen mit Israel ermöglichen würde, einen unabhängigen Staat
wenigstens auf einem Teil des Landes zu errichten.
58. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, initiierte Arafat den
Kontakt mit israelischen Persönlichkeiten, die die öffentliche Meinung
und die Regierungspolitik beeinflussen könnten. Seine Emissäre (Said
Hamami und Issam Sartawi) trafen sich mit israelischen
Friedenspionieren, die Ende 1975 den „Israelischen Rat für
israelisch-palästinensischen Frieden“ gründeten.
59. Diese Kontakte, die nach und nach immer umfassender wurden, als
auch die wachsende israelische Erschöpfung durch die Intifada, die
offizielle jordanische Trennung von der Westbank, die veränderte
internationale Situation (Kollaps des kommunistischen Blocks, der
Golfkrieg) führte zur Madrider Konferenz und später zum Oslo-Abkommen.
Das Oslo-Abkommen (1993)
60. Das Oslo-Abkommen hatte positive wie negative Züge.
61.
Auf positiver Seite brachte das Abkommen Israel zu seiner ersten
offiziellen Anerkennung des palästinensischen Volkes und seiner
nationalen Führung und brachte die palästinensische Nationalbewegung
dazu, die Existenz
Israels anzuerkennen. In dieser Hinsicht war das Abkommen – und dem
vorausgehenden Austausch der Briefe - von überragender historischer
Bedeutung.
62. Tatsächlich gab das Abkommen der palästinensischen Nationalbewegung
eine territoriale Basis auf palästinensischem Boden, die Struktur eines
„werdenden Staates“ und bewaffneter Kräfte – Fakten, die eine
bedeutende Rolle beim andauernden palästinensischen Kampf spielten. Für
die Israelis öffnete das Abkommen die Tore zur arabischen Welt und
setzte den palästinensischen Angriffen ein Ende – zumindest so lange,
wie das Abkommen effektiv war.
63. Der größte, wirkliche Fehler des Abkommens war, dass das Endziel
nicht klar definiert wurde. Das erlaubte beiden Seiten, völlig
verschiedene Ziele anzupeilen. Die Palästinenser sahen das
Interim-Abkommen als eine Schnellstraße, die zur Beendigung der
Besatzung und zur Errichtung eines palästinensischen Staates in allen
besetzten Gebieten führt. ( Zusammen sind das 22% des Gebietes des
früheren Palästina zwischen Mittelmeer und dem Jordan). Auf der anderen
Seite sahen die auf einander folgenden israelischen Regierungen das
Abkommen als einen Weg, die Besatzung über große Teile der Westbank und
des Gazastreifens aufrecht zu erhalten - mit der palästinensischen
„Selbstregierung“, die die Rolle einer Sicherheitsagentur mit
Hilfstruppen spielen würde, um Israel und die Siedlungen zu schützen.
64. Da das Ziel nicht festgelegt wurde, markiert das Oslo-Abkommen
nicht den Beginn des Prozesses, um den Konflikt zu beenden, sondern
vielmehr eine neue Phase des Konfliktes.
65. Weil die Erwartungen beider Seiten so sehr von einander abwichen
und jede Seite völlig an ihr eigenes nationales „Narrativ“ gebunden
blieb, wurde jeder Teil des Abkommens anders ausgelegt. Schließlich
wurden viele Teile des Abkommens nicht erfüllt, hauptsächlich durch
Israel (z.B. der 3. Rückzug; die vier sicheren Passagen zwischen der
Westbank und dem Gazastreifen).
66. Während der Periode des „Oslo-Prozesses“ setzte Israel seine
intensive Expansion der Siedlungen fort, vor allem durch das Bauen
neuer Siedlungen unter verschiedenen Vorwänden, Erweiterung
bestehender, Ausbau eines sorgfältig ausgearbeiteten Netzwerkes von
„Umgehungsstraßen“, Enteignung von Land, Zerstörung von Häusern,
Entwurzelung von Plantagen usw. Die Palästinenser ihrerseits nützten
die Zeit, um ihre bewaffneten Kräfte auszubauen - innerhalb des Rahmens
des Abkommens als auch außerhalb desselben. Tatsächlich setzte sich die
historische Konfrontation unvermindert fort – unter dem Deckmantel der
Verhandlungen und des „Friedensprozesses“, der ein Ersatz für den
Frieden selbst wurde.
67. Im Gegensatz zu seinem Image, das nach seiner Ermordung umfassend
gepflegt wurde, fuhr Yitzak Rabin fort, die Erweiterung des
Bodensbesitzes zu fördern, während er gleichzeitig bemüht war, den
politischen Prozess für
die Vollendung eines Friedens nach israelischen Vorstellungen
fortzuführen. Als Anhänger des zionistischen Narrativs und seiner
Mythologie litt er an kognitiver Dissonanz, wenn sein ernsthafter
Wunsch nach Frieden mit der Welt seiner Vorstellung zusammenstieß. Das
wurde deutlich, als er nach dem Goldstein- Massaker die Auflösung der
Siedlung in Hebron unterließ. Es scheint, dass er erst zum Ende seines
Lebens einige Teile des palästinensischen Narrativs zu verinnerlichen
begann.
68. Der Fall Shimon Peres ist noch unheilvoller. Er schuf für sich
selbst das internationale Image des Friedensstifters und glich sogar
seine Redeweise diesem Image an, indem er vom „Neuen Nahen Osten“
sprach, während er
ein im wesentlichen traditionell zionistischer Falke blieb. Dies wurde
nach Rabins Ermordung (1995) in seiner kurzen, blutigen Amtszeit als
Ministerpräsident besonders deutlich und dann noch einmal, als er sich
2001 der Sharonregierung anschloss und die Rolle des Sprechers und
Verteidigers Sharons übernahm.
69. Am deutlichsten wurde das israelische Dilemma durch Ehud Barak, der
zur Macht kam, weil er von seiner Fähigkeit, den Gordischen Knoten des
historischen Konfliktes nach Art Alexanders des Großen lösen zu können,
überzeugt war – und zwar mit einem dramatischen Schlag. Aber Barak ging
an das Problem in völliger Ignoranz des palästinensischen Narrativs
heran, dem er keinerlei Beachtung schenkte. Er brachte seine Vorschläge
vor, ohne Rücksicht auf die palästinensische Seite und stellte sie als
Ultimatum hin. Er war geschockt und wütend, als die Palästinenser sie
zurückwiesen.
70. In seinen eigenen Augen und in den Augen der ganzen israelischen
Öffentlichkeit hatte Barak „jeden Stein umgedreht“ und hatte den
Palästinensern „so großzügige Angebote gemacht, wie sie noch kein
früherer Ministerpräsident gemacht hatte“. Im Austausch verlangte er,
dass die Palästinenser eine Erklärung unterschreiben, dass diese
Angebote „das Ende des Konfliktes“ darstellen. Die Palästinenser fanden
dies absurd, da Barak von ihnen verlangte, die grundsätzlichen
nationalen Vorstellungen, wie das Recht auf Rückkehr und die
Souveränität über Ost-Jerusalem, einschließlich des Tempelberges,
aufzugeben. Außerdem betrug das, was Barak als geringfügige Prozente
von annektiertem Land erklärte ( wie die Siedlungsblöcke), nach
palästinensischen Berechnungen eine tatsächliche Annexion von 20% der
Westbank an Israel.
71. Nach palästinensischer Ansicht haben sie schon ihre entscheidende
Konzession gemacht, indem sie darin übereinstimmten, ihren Staat
jenseits der Grünen Linie zu machen, in nur 22% ihrer historischen
Heimat. Deshalb würden sie im Zusammenhang mit einem Landaustausch nur
kleinere Grenzveränderungen akzeptieren. Die übliche israelische
Position ist die, dass die während des Krieges 1948 erworbenen Gebiete
außer Diskussion stehen und dass
der geforderte Kompromiss nur die verbliebenen 22% betrifft.
72. Somit hat das Wort „Konzession“ – wie die meisten Begriffe und
Vorstellungen – für beide Seiten verschiedene Bedeutungen. Die
Palästinenser glauben, dass sie schon auf 78% ihres Landes verzichtet
haben, als sie mit nur 22% desselben dem Abkommen von Oslo zugestimmt
hatten. Die Israelis glauben, dass sie Konzessionen machen, wenn sie
einwilligen, den Palästinensern Teile dieser 22% Prozent „abzutreten“.
73. Die Dinge spitzten sich im Sommer 2000 beim Camp David Gipfel zu,
der Arafat gegen seinen Willen und ohne Vorbereitungszeit aufgedrängt
wurde. Baraks Forderungen, die auf dem Gipfel als Clintons Forderungen
präsentiert wurden, bestanden darin, dass die Palästinenser dem Ende
des Konfliktes zustimmen, indem sie auf das Rückkehrrecht und jede
Rückkehr von Flüchtlingen nach Israel verzichten; komplizierte
Arrangements für Ost-Jerusalem und den Tempelberg akzeptieren ohne die
Herrschaft über sie zu haben; der Annexion großer Siedlungsblöcke auf
der Westbank und dem Gazastreifen zustimmen; israelische militärische
Präsenz in weiten Teilen ( wie dem Jordantal) zustimmen; der
israelischen Kontrolle über die Grenzen zwischen dem palästinensischen
Staat und dem Rest der Welt zustimmen. Es war einfach unmöglich, dass
ein palästinensischer Führer solch ein Abkommen unterzeichnen konnte –
und so endete der Gipfel ohne Ergebnis. Bald danach waren auch die
Karrieren von Clinton und Barak zu ende, während Arafat von den
Palästinensern als Held empfangen wurde, der dem Druck Clintons und
Baraks stand gehalten und nicht nachgegeben hat.
Die Al-Aqsa-Intifada
74. Der Zusammenbruch des Gipfels, das Verschwinden jeder Hoffnung auf
ein Abkommen zwischen den beiden Seiten und die bedingungslose
Pro-Israel-Haltung der USA führte unvermeidlich zu einer neuen Runde
gewalttätiger Konfrontationen, die als die Al-Aqsa-Intifada bekannt
wurde. Für die Palästinenser ist es ein gerechtfertigter nationaler
Aufstand gegen eine demütigende, nicht enden wollende Besatzung, die es
sich erlaubt, ihnen den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Für die
Israelis ist es ein Ausbruch von mörderischem Terrorismus. Die
Ausführenden dieser Gewaltakte sind für die Palästinenser nationale
Helden – für die Israelis bösartige Verbrecher, die liquidiert werden
müssen.
75. Die offiziellen Medien Israels ließen häufig den Ausdruck „Siedler“
fallen und auf Befehl von oben begannen sie damit, sie als „Bewohner“
zu erwähnen, so dass jeder Angriff auf sie so aussieht, als wäre es ein
Verbrechen gegen Zivilisten. Die Palästinenser sehen die Siedler als
die Speerspitze eines gefährlichen Feindes, der ihr Land enteignet, dem
man widerstehen und den man angreifen muss.
76. Im Laufe der Al-Aqsa-Intifada stürzte ein großer Teil des
„Friedenslager“ in sich zusammen und zeigte so die Oberflächlichkeit
von vielen seiner Überzeugungen. Da es niemals eine echte Revision
seines zionistischen Narrativs unternommen und niemals die Tatsache
verinnerlicht hat, dass es auch ein palästinensisches Narrativ gibt,
erschien das palästinensische Verhalten völlig unerklärlich, besonders
nachdem Barak „jeden Stein umgedreht“ und „großzügigere Angebote
gemacht hatte als jeder vorausgehende Ministerpräsident“. Die einzig
verbliebene Erklärung war die, dass die Palästinenser das israelische
Friedenslager getäuscht haben, dass sie niemals beabsichtigten, Frieden
zu machen und dass ihr wahres Ziel sei, die Juden ins Meer zu werfen,
wie die zionistische Rechte schon immer behauptet hat. Die Folgerung: „
Wir haben keinen Partner“.
77. Die Folge davon war, dass die trennende Linie zwischen der
zionistischen „Rechten“ und „Linken“ fast verschwand. Die Führer der
Arbeitspartei schlossen sich der Sharonregierung an und wurden ihre
wirksamsten Verteidiger ( z.B. Shimon Peres), und selbst die formelle
linke Opposition wurde unwirksam. Dies bewies noch einmal, dass das
ursprüngliche zionistische Narrativ der entscheidende Faktor war, alle
Teile des israelischen Systems zu vereinigen, indem während
Krisenzeiten die Unterschiede zwischen ihnen ihre Bedeutung verlieren.
78. Die Al-Aqsa-Intifada (auch die 2.Intifada genannt) brachte die
Intensität des Konfliktes auf eine neue Ebene. In den ersten drei
Jahren wurden etwa 2600 Palästinenser und 800 Israelis getötet. Die
israelischen Militäroperationen machten das Leben der Palästinenser zur
Hölle, schnitten Städte und Dörfer von einander ab, zerstörten ihre
Wirtschaft und brachten viele an der Rand einer Hungersnot.
Außergerichtliche Hinrichtungen von palästinensischen Militanten
(„Gezielte Liquidationen“), bei denen oft auch zufällig in der Nähe
stehende Zivilisten getötet wurden, wurden zur Routine. Überfälle auf
palästinensische Städte und Dörfer, um Verdächtige zu töten oder zu
verhaften, wurden tägliche Ereignisse. Yassir Arafat, der Führer des
Palästinensischen Befreiungskampfes, der effektiv in seinem
Ramallahsitz (der Mukata’ah) unter ständiger Bedrohung seines Lebens
gefangen sitzt, ist zum größten Symbol des Widerstandes gegen die
Besatzung geworden.
79. Im Gegensatz zu den Erwartungen der israelischen militärischen und
politischen Führung, hat der extreme und wirtschaftliche Druck die
palästinensische Führung nicht gebrochen. Selbst unter den extremsten
Umständen bringen die Palästinenser es fertig, ein scheinbar normales
Leben aufrecht zu erhalten und Mittel zu finden, zurückzuschlagen. Das
wirksamste und entsetzlichste Mittel war das Selbstmordattentat, das
die blutige Konfrontation ins Zentrum der israelischen Städte brachte.
Die Intifada verursachte für Israel auch noch andere Schäden, indem sie
den Tourismus lähmte, die ausländischen Investoren abhielt, die
Wirtschaftsflaute verstärkte, die nationale Wirtschaft beschränkte und
soziale Dienste zusammenbrechen ließ, durch die die soziale Kluft
größer wird und so innere Spannungen in Israel wachsen.
80. Als Antwort auf die Anschläge, besonders auf die
Selbstmordanschläge, die einen großen Einfluss auf die öffentliche
Moral hat, verlangte die „zionistische Linke“ eine physische Barriere
zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten. Zunächst war die
„zionistische Rechte“ gegen diesen „Trennungszaun“, da sie fürchtete,
dies würde eine politische Grenze in der Nähe der Grünen Linie
schaffen. Aber Ariel Sharon erkannte bald, dass er die Idee des Zaunes
für seine Zwecke ausnützen könnte. Er begann, eine Barriere bauen zu
lassen, die mit seinen Zielen übereinstimmte und die tief in die
palästinensischen Gebiete hineinschneidet und so die großen
Siedlungsblöcke an Israel anschließt und die Palästinenser unter
wirksamer israelischer Kontrolle in isolierte Enklaven einsperrt.
81. Am Ende des dritten Jahres der Al-Aqsa-Intifada konnten in der
israelischen Öffentlichkeit deutliche Zeichen von Kriegsmüdigkeit und
auch Opposition gegen die wachsende Brutalität der Besatzung entdeckt
werden. Sichtbare Zeichen sind die Verweigerungsbewegung unter den
Jüngeren, die zum Militärdienst einberufen werden; die Revolte der 27
Luftwaffenpiloten; die Verweigerung der
Elite-Generalstabskommandoeinheit, sich an „illegalen und
unmoralischen“ Operationen zu beteiligen; das gemeinsame Statement, das
vier frühere Chefs des Sicherheitsdienstes gegen die anhaltende
Besatzung abgaben; die Veröffentlichung der Friedensgrundsätze von Sari
Nusseibeh und Ami Ayalon; die Genfer Initiative von Yossi Beilin und
Yasser Abdel-Rabbo; die Änderung von Positionen und dem Stil von
Politikern und Kommentatoren, die in engem Kontakt mit den Stimmungen
des Volkes sind usw.
82. Nach der amerikanischen Invasion im Irak zu Beginn des Jahres 2003
wurden die USA sensibler gegenüber den negativen Folgen des israelisch-
palästinensischen Konfliktes. Infolge des innenpolitischen Druckes, der
durch die mächtige jüdische und die fundamentalistisch christliche
Lobby in den USA ausgeübt wird und die einen großen Einfluss auf George
W. Bush’s Weißes Haus hat, ist die Fähigkeit der amerikanischen
Regierung, für eine Friedenslösung zu arbeiten, begrenzt. Trotzdem
gelang es einem „Quartett“, das aus den USA, der EU, Russland und der
UN besteht, eine sog. „Road Map des Friedens“ anzubieten.
83. Die Road Map von 2003 ist mit denselben grundsätzlichen Fehlern
behaftet wie die Osloer Prinzipienerklärung von 1993. Obgleich sie,
anders als in Oslo, ein Ziel bestimmt hat ( „Zwei Staaten für zwei
Völker“), bestimmte sie nicht, wo die Grenzen des zukünftigen
palästinensischen Staates verlaufen sollen – so fehlte in der Road Map
das wichtigste. Ariel Sharon war so in der Lage, die Road Map
anzunehmen (mit 14 Vorbehalten, die sie ihres Hauptinhaltes beraubte )
da er bereit war, die Bezeichnung „Palästinensischer Staat“ auf die
palästinensischen Enklaven, die er auf 10% des Landes setzen will, zu
übertragen.
84. Die Oslo-Erfahrungen und natürlich die neuen Experimente mit der
Road Map bestätigen überzeugend, dass ein Dokument, das auf
Zwischenlösungen aufgebaut ist, wertlos ist, so lange nicht von Anfang
an die Details des endgültigen Friedensabkommens klar schriftlich
festlegt sind. Solange dies fehlt, gibt es keinerlei Möglichkeit, dass
die Interimstadien umgesetzt werden. Wenn jede Seite für ein anderes
Ziel kämpft, dann wird in jedem Inte
rimstadium wieder eine Konfrontation aufflammen.
85. Wohl wissend, dass es keine Chance für die aktuelle Realisation der
Road Map gibt, kündete Sharon Ende 2003 seinen Plan der „einseitigen
Schritte“ an. Dies ist ein Code für die Annexion von etwa der Hälfte
der Westbank an Israel und das Einsperren der Palästinenser in
isolierte Enklaven, die nur durch Straßen, Tunnel und Brücken mit
einander verbunden sind und die man jederzeit absperren kann. Der Plan
ist so konstruiert, dass keine palästinensische Bevölkerung Israel
hinzugefügt wird und für die palästinensischen Enklaven keine
Landreserven bleiben. Da der Plan keine Verhandlungen mit den
Palästinensern erfordert, aber behauptet, dass er den israelischen
Bürgern „Frieden und Sicherheit“ bringt, kann er für das wachsende
israelische Verlangen nach einer Lösung ausgenützt werden, ohne Israels
Vorurteile und den Hass gegen die Palästinenser zu stören.
86. Der allgemeine Angriff der Sharon-Regierung und der Militärführung
auf die Bevölkerung in den besetzten Gebieten (Erweiterung der
Siedlungen, Errichtung neuer Siedlungen, die „Außenposten“ genannt
werden; der Bau des
„Trennungszaumes“ und die „Umgehungsstraßen“ nur für Siedler; die
Überfälle der Armee auf die palästinensischen Städte und die „gezielten
Tötungen“, die Zerstörung der Häuser, das Entwurzeln der
Fruchtbaumplantagen) auf der einen Seite und die palästinensischen
tödlichen Angriffe innerhalb Israels auf der anderen Seite, bringen die
palästinensischen Einwohner Israels in eine unerträgliche Situation.
87. Die natürliche Neigung der arabischen Bürger Israels, ihren Brüdern
auf der anderen Seite der Grünen Linie zu helfen, steht im Kontrast zu
ihrem Wunsch, als gleichberechtigte Bürger Israels akzeptiert zu
werden. Gleichzeitig wächst in der jüdischen Bevölkerung Israels die
Angst und der Hass gegen alle „Araber“ und bedroht die Grundlage der
Gleichheit und der Bürgerrechte. Dieser Prozess hatte seinen Höhepunkt
in den Ereignissen vom Oktober 2000, unmittelbar nach dem Ausbruch der
Al-Aqsa-Intifada, als die israelische Polizei auf arabische Bürger
tödliche Schüsse abfeuerte.
88. Dieser Prozess brachte, zusammen mit dem Wiederauftauchen des
„demographischen Problems“ in der israelischen Agenda, neue Zweifel
über die Doktrin des „jüdisch demokratischen Staates“. Der innere
Widerspruch zwischen diesen beiden Attributen, der seit der Gründung
des Staates Israel weder theoretisch noch praktisch gelöst worden ist,
ist deutlicher denn je. Die genaue Bedeutung des Terminus „jüdischer
Staat“ ist niemals genau definiert worden, auch nicht der Status der
arabisch-palästinensischen Minderheit in einem Staat, der sich
offiziell als „jüdisch“ versteht. Die Forderung, Israel zu einem „Staat
aller seiner Bürger“ zu machen und /oder der arabisch-palästinensischen
Minderheit bestimmte nationale Rechte zu geben, wird immer öfter gehört
und zwar nicht nur von arabischen Bürgern.
89. Als Folge all dieser Prozesse, wird der Konflikt immer weniger eine
israelisch-palästinensische, sondern immer mehr eine jüdisch-arabische
Konfrontation. Die gewaltige Unterstützung Israels und seiner Aktionen
durch eine große Mehrheit der jüdischen Diaspora – und die
Unterstützung der arabischen und muslimischen
Massen gegenüber der palästinensischen Sache, im Gegensatz zur Haltung
ihrer Führer, haben dieses Phänomen konsolidiert. Die Ermordung des
Hamasführers Sheich Ahmed Yassin im März 2004 und Abd-al-Aziz al
Rantisi drei Wochen später entfachten die Flammen um so mehr.
Das neue Friedenslager
90. Eine neue Friedensbewegung muss sich auf das Verständnis gründen ,
dass der Konflikt ein Zusammenstoß zwischen der
zionistisch-israelischen Bewegung ist, deren „genetischer Code“
dahingehend ausgerichtet ist, das ganze Land zu besitzen und die
nicht-jüdische Bevölkerung auszutreiben - und der palästinensischen
Nationalbewegung, deren „genetischer Code“ dahingehend ausgerichtet
ist, diesen Kurs aufzuhalten und einen palästinensischen Staat im
ganzen Land aufzubauen. Dies kann als ein Zusammenstoß zwischen einer
„unwiderstehlichen Kraft“ und einem „unbeweglichen Objekt“ gesehen
werden.
91. Die Aufgabe der israelischen Friedensbewegung ist es, diesen
historischen Zusammenprall zu stoppen, den zionistischen „genetischen
Code“ zu überwinden und mit den palästinensischen Friedenskräften
zusammen zu arbeiten, um zu einem Frieden durch historische Kompromisse
zu gelangen, die zur Versöhnung zwischen den beiden Völkern führen. Die
palästinensischen Friedenskräfte haben eine ähnliche Aufgabe.
92. Dafür sind diplomatische Formulierungen eines zukünftigen
Friedensabkommens nicht ausreichend. Die israelische Friedensbewegung
muss von einem neuen Geist inspiriert werden, der die Herzen des
anderen Volkes anrührt,
der Glauben an die Möglichkeit des Friedens schafft und die Herzen des
Teils der israelischen Bevölkerung gewinnt, der von alten Mythen und
Vorurteilen befangen ist.
93. Die kleinen und konsequenten israelischen Friedensbewegungen, die
durchhielten und den Kampf fortsetzten, als das Friedenslager infolge
des Camp David Debakels und dem Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada in sich
zusammenbrach, müssen eine entscheidende Rolle in diesem Prozess führen.
94. Diese Bewegungen können mit einem kleinen Rad mit eigenen Antrieb
verglichen werden, das ein größeres Rad antreibt, das wiederum ein noch
größeres Rad in Bewegung setzt und so weiter, bis die ganze Maschine in
Aktion gerät. Alle früheren Errungenschaften der israelischen
Friedenskräfte waren auf diese Weise erreicht worden wie z.B. die
israelische Anerkennung der Existenz des palästinensischen Volkes, die
weite öffentliche Akzeptanz der Idee eines palästinensischen Staates,
die Bereitschaft, mit Verhandlungen mit der PLO zu beginnen, einen
Kompromiss über Jerusalem einzugehen und so weiter.
95. Das neue Friedenslager muss die öffentliche Meinung in Richtung
einer neuen mutigen Revision des nationalen Narrativs führen und dieses
von seinen falschen Mythen frei machen. Es muss ernsthaft darum ringen,
die historischen Versionen beider Völker in ein einziges Narrativ zu
bringen, frei von historischen Fälschungen und für beide Seiten
annehmbar.
96. Während es dies tut, muss es der israelischen Öffentlichkeit zur
Erkenntnis verhelfen, dass außer den großen und positiven Aspekten des
zionistischen Unternehmens dem palästinensischen Volk eine schreckliche
Ungerechtigkeit zugefügt wurde. Diese Ungerechtigkeit, die während der
Nakbe am schlimmsten war, verpflichtet uns Verantwortung zu übernehmen
und so viel wie möglich wieder gut zu machen.
97. Ein Friedensabkommen ist wertlos, solange nicht beide Seiten
in der Lage sind, dieses im Geist und in der Praxis anzunehmen -
so weit wie es die grundsätzlichen nationalen Bestrebungen
befriedigt und nicht die nationale Würde und Ehre verletzt.
98. In der augenblicklichen Situation gibt es keine andere Lösung
außer der einen, die sich auf dem Prinzip von „Zwei Staaten für
zwei Völker“ gründet, was friedliche Koexistenz in zwei
unabhängigen Staaten, Israel und Palästina, bedeutet.
99. Die zuweilen ausgesprochene Idee, dass es möglich und
wünschenswert sei, die Zwei-Staaten-Lösung durch eine Ein-Staat-
Lösung im ganzen Land zwischen Mittelmeer und dem Jordan als
einen bi-nationalen oder nicht-nationalen Staat zu ersetzen, ist
unrealistisch. Der größte Teil der Israelis wird nicht damit
einverstanden sein, den israelischen Staat aufzulösen – genau so
wenig, wie der größte Teil des palästinensischen Volkes die
Errichtung eines eigenen Nationalstaates nicht aufgeben wird.
Diese Illusion ist auch gefährlich, da es den Kampf für eine Zwei-
Staaten-Lösung untergräbt, die in absehbarer Zeit realisiert werden
kann, zu Gunsten einer Idee, die in den nächsten Jahrzehnten
keine Chance der Realisierung hat. Diese Illusion kann auch unter
dem Vorwand für die Existenz der Siedlungen und für deren
Ausdehnung missbraucht werden. Wenn ein gemeinsamer Staat
errichtet wird, würde er ein Schlachtfeld werden, bei der die eine
Seite durch Vertreibung der anderen darum kämpft, die Majorität zu
behalten.
100. Das neue Friedenslager muss einen Friedensplan formulieren,
der auf den folgenden Prinzipien beruht:
- a) Die Besatzung muss aufhören. Ein unabhängiger und
lebensfähiger palästinensischer Staat wird neben Israel errichtet.
- b) Die Grüne Linie wird die Grenze zwischen dem Staat Israel und
dem Staat Palästina sein. Begrenzter Landaustausch wird nur
durch gegenseitiges Einvernehmen möglich sein, der durch freie
Verhandlungen im Verhältnis von 1:1 erreicht wird.
- c) Alle israelischen Siedler werden aus dem Gebiet des Staates
Palästina evakuiert, und die Siedlungen werden den Flüchtlingen
zur Verfügung gestellt.
- d) Die Grenze der beiden Staaten wird nach Übereinkunft durch
gemeinsame Abkommen für Waren und Menschen offen sein.
- e) Jerusalem wird die Hauptstadt beider Staaten sein. West-
Jerusalem wird die Hauptstadt Israels und Ost-Jerusalem die
Hauptstadt Palästinas sein. Der Staat Palästina wird die
vollständige Souveränität über Ost-Jerusalem, einschließlich des
Haram Al-Sharif (Tempelberg) haben. Der Staat Israel wird die volle
Souveränität über West-Jerusalem haben, einschließlich der
Klagemauer und dem jüdischen Viertel in der Altstadt. Die beiden
Staaten werden ein Abkommen über die Einheit der Stadt auf
Verwaltungsebene erreichen.
- f) Israel wird im Prinzip das Rückkehrrecht der palästinensischen
Flüchtlinge als ein unveräußerliches Menschenrecht anerkennen
und moralische Verantwortung für seinen Teil bei der Schaffung des
Problems übernehmen. Ein Wahrheitsfindungs- und
Versöhnungskomitee wird die historischen Fakten in objektiver
Weise nachweisen. Die Lösung des Problems wird durch ein
Abkommen erreicht, das sich nach gerechten, fairen und
praktischen Erwägungen ausrichtet und auch Rückkehr auf das
Gebiet des palästinensischen Staates, Rückkehr einer begrenzten
und abgestimmten Zahl auf das Gebiet von Israel, Zahlungen von
Kompensation und Ansiedlung in anderen Ländern einschließt.
- g) Die Wasserressourcen werden gemeinsam kontrolliert und durch
ein Abkommen gleich und fair geteilt.
- h) Ein Sicherheitspakt zwischen den beiden Staaten wird die
Sicherheit von beiden garantieren und die besonderen
Sicherheitsbedürfnisse von beiden berücksichtigen. Das
Abkommen wird durch die internationale Gemeinschaft unterstützt
und durch internationale Garantien bestätigt.
- i) Israel und Palästina werden mit anderen Staaten der Region
zusammenarbeiten, um eine regionale Gemeinschaft nach dem
Vorbild der Europäischen Union zu errichten.
- j) Die ganze Region wird von Massenvernichtungswaffen frei
gemacht.
101. Das Unterzeichnen des Friedensabkommens und seine
ehrliche Erfüllung und in gutem Glauben, wird zum Ende des
historischen Konfliktes führen und zur Versöhnung zwischen den
beiden Völkern, wenn sie sich auf Gleichheit, gegenseitiger
Achtung und der Bemühung um größtmögliche Zusammenarbeit
gründet.
Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert.
Der Text erschien im AphorismA Verlag Berlin (Reihe: kleine Texte);
info@aphorisma-verlag.de