von Amira Hass
ZNet 09.10.2003
Amira Hass ist die einzige jüdisch-israelische Journalistin, die in Palästina lebt - fünf Jahre im Gaza-Streifen und jetzt in Ramallah. Sie schreibt regelmässig für die liberale israelische Zeitung «Haaretz». Amira Hass hat es sich zur Aufgabe und zum Herzensanliegen gemacht, über das tägliche Leben und Leiden der Palästinenser unter der israelischen Besatzung zu berichten.
Wie kann so eine kleine palästinensische Organisation wie der Islamische Dschihad soviele lebende Bomben hervorbringen - Selbstmordbomber, die sich Babies im Kinderwagen und deren Großeltern als Ziel aussuchen? Und wie kann eine Organisation, die einst erklärte, nur Soldaten anzugreifen, ihre jüngste lebende Selbstmordbombe in eine gemischt jüdisch-arabische Stadt senden, um Tod und Leid in einem Restaurant zu säen, dessen Besitzer, dessen Angestellten und Kunden sowohl Juden als auch Araber sind, Junge und Alte? Geheimdienstexperten und Arabisten unserer Seite behaupten, der Grund liege darin, dass der Islam den Krieg absegne. In den Moscheen herrsche pausenlose Aufwiegelung, hinter allem stecke der Iran und Syrien, die Selbstmordbomber und deren Familien hätten es auf die Zerstörung des Staates Israel abgesehen, Leute, die sich selbst in die Luft jagen, seien eben Tiere, und Arafat ermutige den Terror.
Hinter all diesen Erklärungen steckt ein Konzept. Gemäß dieses Konzepts hat jene krankhafte Form des palästinensischen Kampfs mit der Okkupation gar nichts zu tun, und die Israelis sollten Palästinensern nicht glauben, die behaupten, es hätte etwas zu tun mit der israelischen Besatzung. Gemäß dieses Konzepts existiert auch keine Verbindung zwischen der zunehmenden Verbreitung von Selbstmordattentaten und jener in der palästinensischen Gesellschaft vorherrschenden Meinung, Israel - als Militär- und Nuklearmacht - wolle die Palästinenser zur Aufgabe pressen, damit die Israelis noch mehr Land in Westbank und Gaza legitimerweise übernehmen können.
Anders gesagt, besteht das Konzept also darin zu behaupten, sämtliche historischen, politischen, geopolitischen und verästelten soziologischen bzw. psychologischen Bezüge seien allesamt irrelevant. Laut Konzept gibt es bei den Selbstmordbombern und denen, die sie losschicken, eine erbliche Komponente - das sei schuld. Die Palästinenser würden ihren Traum, Israel zu zerstören, nicht aufgeben, und Muslime würden stets immer nur der radikalsten Auslegung ihrer Religion glauben.
Die israelische Gesellschaft kann diese geisteskranke Situation akzeptieren - und Milliarden in etwas investieren, das sich "Verteidigung" nennt, während man sich gleichzeitig vor so etwas Primitivem wie lebenden Bomben fürchten muss, vor ein paar Kilo Sprengstoff mit Nägeln -, denn sie glaubt an den israelischen Geheimdienstapparat und die "Objektivität" von dessen Information.
Schließlich sprechen die Geheimdienstoffiziere fließend Arabisch, sie analysieren die Predigten jedes Imams, sie sehen sich die Programme sämtlicher arabischer TV-Sender an, die zum Aufruhr aufwiegeln, ihnen fallen Texte in die Hände, die selbst den meisten palästinensischen Autoren und deren Leserschaft unbekannt sind, und sie verfügen über Informationen von Kontaktpersonen - von Kollaborateuren und Informanten aller Art.
Vom Standpunkt des Islamischen Dschihad ein guter Zeitpunkt, um das Chaosgefühl im Land und in der Region weiter zu schüren. Diese Gruppierung ist klein, sodass es ihr möglich ist, Verurteilungen und Warnungen der Palästinenserbehörde zu ignorieren, zu verlachen. Schließlich - man sucht keine Wählerschaft. Was mit dieser Sicht allerdings nicht zu erklären ist, ist, dass der Islamische Dschihad, ungeachtet der Schläge, die ihm die Armee versetzt, immer noch Kandidaten findet, die bereit sind, eine Politik auszuführen, die von außen diktiert ist und der die Sehnsucht der Palästinenser nach Normalität fremd ist. Dies zu erklären braucht es - ja - die israelische Besatzung. Alle anderen Erklärungen sind zusätzlich, sind marginale Fußnoten.
Aber wie soll man dem Besatzer die Besatzung erklären?
Ja, die Selbstmordbomber glauben, sie repräsentierten ihre Gesellschaft. Darin besteht ihre Stärke. Aber was sie repräsentieren, ist (nur) das Gefühl ihrer Gesellschaft, es hätte keinen Sinn, unter der Besatzung zu leben - die schreckliche Unterlegenheit gegenüber der israelischen Militärmacht, das Gefühl der Impotenz, während sie mitansehen müssen, wie ihr Land vandalisiert und entwürdigt wird, ihre Wut über die Dummheit der palästinensischen Führer. Sie sind bereit, die Rache zu repräsentieren.
Israel tendiert dazu, diejenigen zu beschuldigen, die fordern, das Phänomen der Selbstmordbomber im Kontext der Besatzung zu sehen - als brächte man Verständnis für die Mittel der Terroristen auf oder rechtfertige sie gar. In einer geschützten Gesellschaft wären (diese Beschuldigungen) eventuell noch verständlich. Der israelischen Gesellschaft allerdings kann soetwas nicht weiterhelfen - im Umgang mit der Bedrohung des Terrors.