"Israel ist doch der
Angreifer"
Die Eskalation in Nahost
zeigt, dass der israelische Rückzug aus Gaza nur Taktik war. Israel
will die Besatzung
nicht aufgeben - und die USA und die EU unterstützen diese Position, so
der französische Publizist Alain Gresh
INTERVIEW: DOROTHEA HAHN
taz vom 20.7.2006
taz: Herr Gresh, wie erklären Sie das aggressive israelische
Vorgehen?
Alain Gresh: Das ist Teil einer Eskalation, die schon vor langer
Zeit begonnen hat. Israels will unilateral Grenzen für die Zukunft des
israelischen Staates fixieren. Und jede Form von Widerstand gegen seine
Dominanz brechen. Nicht nur den militärischen, sondern auch den
Widerstand in den Köpfen. Getreu dem alten kolonialen Sprichwort: "Die
Araber verstehen nur die Gewalt."
Sie betrachten das als lang vorbereitete Aktion. Nicht als Reaktion
auf die Soldaten-Entführung?
Es gibt keinen Zusammenhang mit den Entführungen. Im Fall von Gaza
wissen wir genau, dass das lange vor der Entführung geplant war. Davon
spricht auch die israelische Presse. Und im Libanon geht die
israelische Regierung nicht zu Unrecht davon aus, dass sie die USA
hinter sich hat. Das ist nicht neu. Aber jetzt unterstützen auch die
meisten europäischen Länder die israelische Regierung. Das Kommuniqué
der EU vom Montag enthält keinerlei Verurteilung der israelischen
Aktion. Das ist völlig neu. In diesem Kontext hat Israel freie Hand im
Libanon.
Aber im Inneren der EU gibt es Unterschiede. Nicht alle
Mitgliedsregierungen reagieren so unentschieden wie Berlin.
Global gibt es die Haltung, Israel habe das Recht, sich zu verteidigen.
Dabei ist Israel der Angreifer. Das ist eine seltsame Situation. Wir
befinden uns im 40. Jahr der Besatzung von Gaza und dem Westjordanland.
Trotz Dutzender von Verurteilungen durch die UN geht die Politik der
Beschlagnahmung von Land weiter.
Also ist Krieg das richtige Wort für diesen Konflikt?
Das ist ein echter Krieg. Aber zwischen zwei Protagonisten, die nicht
über dieselben Mittel verfügen. Am gefährlichsten ist, dass es in
Washington eine Reihe von Leuten gibt, die den Konflikt ausdehnen
möchten. Auf Syrien und einige auch auf den Iran.
Hat auch Israel diese weitergehenden Absichten?
Die Leitartikler in den USA und in Israel, und zwar nicht nur die
neokonservativen, meinen, dass die demokratische Welt einer Allianz des
Bösen gegenübersteht, die durch die Hamas, die Hisbollah, den Iran und
Syrien repräsentiert wäre. Sie wollen von der aktuellen Lage
profitieren, um diese Allianz zu zerstören. Für sie ist dieser Konflikt
Teil des Vorgehens gegen den Terrorismus. Die reale Basis des Konflikts
- die Besatzung von Palästina und die Zerstörung des Libanon -
betrachten sie als zweitrangig.
Sie meinen, dass die Bomben auf den Libanon mit den USA abgesprochen
waren?
Grünes Licht hat Israel auf jeden Fall bekommen. Das sage nicht ich,
sondern das sagen US-Kommentatoren. Dieses grüne Licht gilt auch jetzt
noch. Die Amerikaner sind gegen einen sofortigen Waffenstillstand. Sie
wollen erst einmal die Israelis die Arbeit erledigen lassen.
Welche Rolle spielt Gaza?
Gaza ist interessant, weil seine Evakuierung vor einem Jahr als mutige
Geste Israels galt. Jetzt sieht man, dass das ein taktisches Manöver
war. Gaza ist ein großes Gefängnis geworden - mit Gefangenenwärtern,
die sich außerhalb des Gefängnisses befinden und die Möglichkeit haben,
zu bombardieren. Gaza hat keinen Zugang zur Außenwelt. Aus Israels
Versprechungen - zum Beispiel eine Route zwischen Gaza und dem
Westjordanland - ist nichts geworden. Freier Warenverkehr ist nicht
mehr möglich. Es gibt Zerstörungen. Und die Zivilbevölkerung ist Geisel.
Welchen Einfluss hat die EU-Politik auf die Eskalation?
Die Eskalation hat viel mit der Annäherung der EU an die USA und Israel
zu tun. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Die Erweiterung der EU auf
25 Mitglieder, die dafür gesorgt hat, dass Länder in die EU eingetreten
sind, die proisraelischer sind. Dann die Wende in der französischen
Politik zugunsten Israels. Dann die innere Spaltung der EU. All das
trägt zur Marginalisierung der Politik der EU bei.
Hat der Boykott der palästinensischen Regierung die Eskalation
beschleunigt?
Ja. Denn die Suspendierung der Direkthilfe hat die materiellen
Verhältnisse der Palästinenser verschlechtert und so die Extremisten
gestärkt.
Sie sprechen von einer Wende in der französischen Nahostpolitik. Aber
aus Paris sind am Montag der Premierminister und der Außenminister doch
in den Libanon gereist.
Es gibt eine besondere französische Beziehung zum Libanon. Frankreich
hat ziemlich viel beim Wiederaufbau des Libanon finanziert. Frankreich
hat auch eine Rolle beim Zustandekommen der UN-Resolution 1559 (die
Auflösung der bewaffneten Milizen im Libanon, A. d. Red.) gespielt und
bei dem Rückzug der syrischen Truppen. Paris will zeigen, dass es
präsent ist. Aber man spürt kein echtes Engagement mehr. 1996, als
Israel unter Schimon Peres den Süden des Libanon bombardiert hat, ist
der damalige Außenminister Hervé de Charette hingefahren, hat den
Angriff klar verurteilt und gesagt: Ich bleibe bis zum
Waffenstillstand. Er war zwei Wochen in der Region. Hat Verhandlungen
zwischen Syrien, Hisbollah und Israel geführt. Heute haben wir keinen
Kontakt mehr mit Syrien. Und nur noch sehr wenig zur Hisbollah. Auch
Frankreich betrachtet jetzt die Hamas und die Hisbollah als
Hauptverantwortliche der Eskalation. Und hat auch der Suspendierung der
Direkthilfe für die palästinensische Regierung zugestimmt.
Was hat die Wende in der französischen Nahost-Politik ausgelöst?
Es gibt viele Gründe. Zuvorderst die Krise der französischen Politik,
die nichts mit dem Nahen Osten zu tun hat, aber jede Politik schwierig
macht. Dann gibt es die Sorge vor den Konsequenzen der französischen
Position vom Jahr 2003. Frankreich will auf jeden Fall die Beziehungen
zu den USA wiederherstellen. Bezogen auf den
israelisch-palästinensischen Konflikt waren viele französische
Spitzenpolitiker schwer getroffen durch den Vorwurf, Frankreich sei
"antisemitisch". Heute fährt keiner von ihnen mehr in die USA, ohne die
amerikanischen jüdischen Organisationen zu treffen.
Man darf also aus Paris keine Alternative zur Nahostpolitik der USA
erhoffen?
Ich glaube es nicht.
Was muss geschehen, um diesen Krieg zu beenden?
Ich befürchte, die EU und die USA sind so stark auf der
israelischen Linie, dass es noch weitere Eskalationen geben muss, bevor
es zu einer klaren Verurteilung durch diese Gemeinschaft kommt.
Das ist hart.
Sehr hart.